Berliner Filz

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Horst Bosetzky

Berliner Filz

Der 27. Kappe-Fall

Kriminalroman

Jaron Verlag

INHALT

Cover

Titel

Impressum

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

Horst Bosetzky alias -ky lebt in Berlin und gilt als «Denkmal der deutschen Kriminalliteratur». Mit seiner mehrteiligen Familiensaga (schließend mit «Kartoffelsuppe oder Das Karussell des Lebens», 2012), dokumentarischen Spannungsromanen und biografischen Romanen avancierte er zu einem der erfolgreichsten Autoren der Gegenwart. Daneben verfasste er mehrere Bände für die Krimiserie «Es geschah in Berlin» (zuletzt «Auge um Auge», 2014). 2015 erschienen von ihm unterhaltsame Mittelalter-Geschichten unter dem Titel «Otto mit dem Pfeil im Kopf», 2016 unter dem Titel «Mit Genuss in Taxe, Bahn und Bus» Vergnügliches zum Berliner Nahverkehr.

Originalausgabe

1. Auflage 2016

© 2016 Jaron Verlag GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin

Satz: Prill Partners|producing, Barcelona

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

ISBN 978-3-95552-026-7

EINS

ER ZIELTE LANGE und sorgfältig. Nicht auf eine normale Scheibe, wie man sie bei Wettbewerben mit der Luftdruckpistole benutzte, sondern auf ein selbstgebasteltes Ziel, das dem menschlichen Körper nachempfunden war. Der erste Schuss musste sitzen. Mitten ins Herz hinein. Auf seiner Abschussliste standen einige Namen – die von Männern, die ihm gefährlich werden konnten.

Otto Kappe hatte schon seit Jahren Hobbys, wie man Freizeitbeschäftigungen neuerdings nannte, das Kegeln und den Faustball. Der Donnerstagabend war für den Kegelsport reserviert. Gertrud erinnerte ihn beim Abendbrot daran.

«Iss nicht so viel, sonst kommt dir nachher alles wieder hoch, und eure Bahn muss extra wegen dir gesäubert werden!»

«Dann darfst du mir nicht so viel Schokolade zum Naschen aus der Firma mitbringen.» Gertrud arbeitete schon seit Jahren als Kontokorrentbuchhalterin bei Sarotti in Tempelhof.

«Warum gehst du nicht zum Bowling, wo du doch so gerne Bowle trinkst?», fragte sie.

Otto Kappe seufzte. «Weil wir bei uns im Vereinslokal nur eine Bohlebahn haben.»

«Na, dann mal los auf die vorderen Damen!» Gertruds Chef war auch Kegler und hatte ihr den sogenannten Kegelstand aufgezeichnet. Hatte man die Raute mit den neun Kegeln vor Augen, dann war der erste Kegel das Vorderholz und der letzte das Hinterholz. Die Kegel zwei und drei waren die vorderen Damen und die Kegel sieben und neun die hinteren Damen. Zwischen ihnen stand der König, und die Kegel ganz außen waren die Bauern.

Otto stand auf und küsste seine Frau. «Du bist und bleibst für mich immer die vorderste Dame!»

Pünktlich um halb acht traf man sich in einem Lokal in der Bismarckstraße. Nach kurzer Begrüßung ging es hinunter in den Keller, wo die Kegelbahn aufgebaut war. Noch immer gab es keine automatische Kegelaufstellanlage. Die war dem Wirt zu teuer. Lieber bezahlte er weiterhin einen Kegeljungen. Peter Kappe, Ottos Sohn, hatte sich auf diese Weise sein erstes Taschengeld verdient.

Los ging es. Man spielte in die Vollen, das heißt, es gab kein Abräumen, sondern es wurden alle Kegel, die ein Spieler beim ersten Wurf getroffen hatte, für den nächsten Versuch wieder aufgestellt. Jubel brandete immer dann auf, wenn «Alle Neune!» geschrien wurde oder aber – falls die Kugel in der sogenannten Fehlwurfrinne landete –«Wieder eine Ratte!».

Heute Abend hieß der Rattenkönig Otto Kappe. Er hatte zu oft zu viel riskiert. Wollte man nämlich alle neun Kegel beim ersten Wurf umwerfen, musste man die Kugel mit Drall und schräg oben ankommen lassen, und das ging manchmal schief, obwohl die Bahn gekehlt war. Von der Aufsatzstelle der Kugel bis zum Vorderholz waren es immerhin über zwanzig Meter. Otto Kappe nahm den Titel des Rattenkönigs gelassen hin, obwohl alle spotteten, dass er auf dem Schießstand der Polizei das Zielen doch eigentlich hätte gelernt haben müssen.

Nach Hause ging er zusammen mit Herrn Dr.-Ing. Eduard Dankert. Der kam natürlich sofort auf seinen Beruf zu sprechen. «Na, wieder ’n Mörder zur Strecke gebracht, Herr Kommissar?»

Otto Kappe lachte. «Nein. Wo kein Ermordeter ist, kann es auch keinen Mörder geben.»

«Gestern hätte ich fast gedacht, wir haben was für dich», sagte Eddie, der zurzeit mithalf, die Stadtautobahn Richtung Norden zu verlängern. «Bei der Ausfahrt Spandauer Damm meinten wir, wir hätten einen Toten gefunden, doch es war nur eine alte Schaufensterpuppe, die jemand auf die Baustelle geworfen hatte. Aber ich habe neulich einen amerikanischen Krimi gelesen, darin lässt der Boss einen Arbeiter, der seine krummen Machenschaften anzeigen will, erschießen und im Fundament eines Hauses einbetonieren. Derlei könnte hier auch mal passieren, so mafiös, wie es in der Baubranche zugeht.»

«Danke für die Warnung!»

Im Jahre eins n. M., das heißt nach dem Mauerbau, hatten es viele West-Berliner noch schwer, sich mit der neuen Situation abzufinden. Wohin man auch fuhr oder ging, früher oder später stieß man auf die «Schandmauer» oder zumindest auf einen schwerbewachten Grenzzaun mit Todesstreifen und Beobachtungsturm.

Froh über den Mauerbau waren aber etliche «Republikflüchtlinge», denn nun war klar, dass der Ostblock es aufgegeben hatte, West-Berlin zu schlucken oder, wie das Chruschtschow-Ultimatum von 1958 hatte befürchten lassen, zur «politisch selbständigen Einheit WB» zu machen. Hatten die Ex-DDR-Bürger vordem noch die Einnahme West-Berlins durch die Nationale Volksarmee gewärtigen müssen und sich selbst schon in Bautzen gesehen, so durften sie nun aufatmen. So auch Lothar Laukisch.

Ein Journalist des Telegraf hatte jetzt schon zwei Stunden lang mit Laukisch geredet und seinen Notizblock vollgeschrieben. «Ich fasse noch einmal zusammen … Sie sind am 27. April 1929 in Berlin-Lichtenberg als Lothar Tandler auf die Welt gekommen und haben in der Sowjetischen Besatzungszone und später der DDR als Journalist für verschiedene Blätter und das Fernsehen gearbeitet. Sie betätigten sich aber nicht nur offiziell für die Wochenpost und die Adlershofer, sondern auch im Geheimen für den UFJ, den Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen, und den Rundfunk im amerikanischen Sektor, kurz RIAS. Die Stasi ist dahintergekommen, und Sie haben eine schreckliche Zeit in Bautzen verbracht. Nachdem Sie entlassen wurden, gingen Sie nach West-Berlin, dort heirateten Sie 1956 die Blumenhändlerin Uta Laukisch und nahmen deren Nachnamen an, um Bautzen und die DDR zu vergessen. Dann hat sich Ihre Frau von Ihnen getrennt, und Sie erkrankten …»

Laukisch nickte. «Das stimmt alles.» Als Uta sich von ihm getrennt hatte, weil es mit ihm nicht mehr auszuhalten war und er immer neue psychotische Schübe bekam, wurde er im September 1961 in die Karl-Bonhoeffer-Heilstätten eingeliefert. Er hörte Stimmen, die ihm sagten, er solle alle Menschen umbringen, denn alle Menschen sind schlecht, alle Menschen sind Verbrecher und müssen ausgerottet werden – durch dich!

 

«Im Februar 1962 wurden Sie entlassen, inzwischen leben sie als Sportjournalist in der Boppstraße nahe dem Kottbusser Damm.»

«Genau so ist es, am sogenannten Zickenplatz.» Er kam aber nicht von seiner geschiedenen Frau los. Die wohnte jetzt bei ihrem neuen Lebensgefährten in Hermsdorf, in der Frohnauer Straße. Oft strich er dort herum.

«Sie sollen im Jahre 1956 auf einen Mann geschossen haben, den Sie für einen Stasi-Mitarbeiter hielten», fuhr der Mann vom Telegraf fort. «Das Verfahren ist aber eingestellt worden.»

«In der Tat.» Das war lange her, und Lothar Laukisch sprach nicht gern darüber, auch musste er dem Zeitungsmann nicht unbedingt auf die Nase binden, dass er ständig eine alte Wehrmachtspistole bei sich trug, eine Mauser C96, denn auf seiner Abschussliste standen etliche Namen. Konrad Habedank hatte er ganz besonders auf dem Kieker. Immer wieder gingen seine Gedanken in die Jahre 1954 und 1961 zurück …

Wer 1954 durch die Fruchtstraße, die spätere Straße der Pariser Kommune, ging, sah, dass der Krieg von deren Häusern nicht viel übrig gelassen hatte. Die Fruchtstraße nahm ihren Anfang am Ufer der Spree, unterquerte am Ostbahnhof die Gleise der Stadtbahn und lief über die Stalinallee hinweg zum Friedhof der Parochial- und St.-Petri-Gemeinde hinauf, wo sie in die Friedenstraße überging. Die Trümmer waren weithin abgeräumt worden, und in Bälde würden hier DDR-typische Plattenbauten emporwachsen. Am Franz-Mehring-Platz, wo früher im Gebäude eines alten Bahnhofs das «Varieté Plaza» Tausende angelockt hatte, sollte einmal das Neue Deutschland, die größte Tageszeitung der DDR, ihren Sitz haben. Nur vor der Kreuzung mit der Stalinallee waren einige Altbauten stehen geblieben, und in einem dieser Häuser wohnte Lothar Laukisch mit seiner Freundin Gisela, die bei der HO eine Filiale für Industriewaren leitete und SED-Mitglied war.

Natürlich hörte er beim Frühstück den RIAS. Schon deshalb, um mitzubekommen, was er selbst dem Sender aus den einzelnen Bezirken Ost-Berlins zugetragen hatte. Zumeist ging es um Versorgungsengpässe und die Festnahme von Regimegegnern.

«Muss das schon wieder sein!», rief Gisela, als sie in die Küche kam, und drehte so lange an der Skala, bis sie einen DDR-Sender gefunden hatte.

Er wählte seine übliche Verteidigungsstrategie. «Ich muss doch wissen, was der Klassenfeind über uns denkt!»

Sie tippte sich gegen die Stirn. «Ja, denkste!»

Noch war ihre Liebe stärker als die ideologischen Gegensätze. Er wäre am liebsten in den Westen gegangen, sie wollte am Aufbau des Sozialismus teilhaben und träumte von einem Sitz in der Volkskammer.

«Fährst du heute wieder zum Recherchieren nach West-Berlin rüber?», fragte sie. Das klang harmlos, aber sie ahnte schon lange, dass er sich nicht mit einem alten Schulfreund traf, um den über Skandale beim Senat auszuhorchen, sondern mit einem Mann vom Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen.

«Ja, ich wollte mit Peter essen gehen.» Der war Senatsrat beim Innensenator am Fehrbelliner Platz.

Sie lachte. «Na, solange der Peter keine Petra ist – oder der Heinz Petruo.» Das war ein Sprecher beim RIAS.

Nun wurde ihm der Boden langsam doch zu heiß. «Du, ich muss los!»

Von der Fruchtstraße aus war seine Arbeitsstelle in Adlershof auch ohne Wartburg leicht zu erreichen: Er brauchte nur zum Ostbahnhof zu laufen und sich in die S-Bahn zu setzen. Im Juni 1950 hatten sie in Adlershof mit dem Bau des Fernsehzentrums Berlin begonnen, und am 21. Dezember 1952, dem 74. Geburtstag Stalins, war das «öffentliche Versuchsprogramm» des Deutschen Fernsehfunks (DFF) mit zwei Stunden Sendezeit täglich gestartet worden. Zwei Jahre später war Lothar Laukisch zur Nachrichtenredaktion gekommen.

Da er Englisch, Französisch und Spanisch sprach, gehörte es zu seinen Aufgaben, die Presse der USA, Großbritanniens, Frankreichs, Spaniens und verschiedener kleinerer Staaten hinsichtlich ihrer Berichterstattung über die DDR auszuwerten.

Daneben blieb ihm genügend Zeit, sich umzusehen und umzuhören. Als er ein Papier über die Einführung einer einjährigen Arbeitsdienstpflicht für Studienbewerber aus dem Funkhaus schmuggeln wollte, erwischte ihn ein Kollege, der Zuträger der Stasi war. Damit nahm das Drama seinen Lauf. Erst kam er in das Untersuchungsgefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit in Hohenschönhausen, dann, nach seiner Verurteilung zu achtzehn Monaten Haft, nach Bautzen.

Nachts brachten sie ihn in einem verschlossenen Kleintransporter in die Oberlausitz.

«Tandler, Sie haben Ihren Namen ab heute zu vergessen! Sie sind 44/​57, basta! Über sich und Ihr Urteil dürfen Sie mit keinem anderen sprechen, klar?»

«Ja.»

Tag für Tag Gitterstäbe vor den bis auf einen kleinen Schlitz zugemauerten Fenstern, Stacheldraht und stählerne Türen. In der Zelle eine Holzpritsche mit einer dünnen Decke. Täglich musste er Demütigungen ertragen. Das Essen, dieser Fraß, war eine zusätzliche Strafe. Zum klitschigen Graubrot gab es ein paar Gramm Margarine, dazu jeden zweiten Tag eine Scheibe Leber- oder Blutwurst, immer von der gleichen Sorte. Die Suppe war besseres Abwaschwasser.

«44/​57, singen Sie die Nationalhymne!»

«Jawoll, Genosse Wachtmeister!» Dass der Mann, der ihn ständig quälte, Konrad Habedank hieß, hatte er schon herausbekommen. Zu recherchieren war schließlich sein Beruf. Nach einer kleinen Pause begann er zu singen: «Einigkeit und Recht und Freiheit / ​für das deutsche Vaterland! / ​Danach lasst uns alle streben / ​brüderlich mit Herz und Hand!»

«Unsere Hymne, Mensch!»

«Das ist doch unsere …»

Daraufhin wanderte er in eine besondere Zelle für den verschärften Arrest, die nicht beheizbar war. An der Decke baumelte eine nackte Vierzig-Watt-Glühlampe, die aber nur alle halbe Stunde kurz eingeschaltet wurde – wenn die Aufseher durch den Spion in die Zelle sahen. Einen Monat lang blieb er dort.

Obwohl die schreckliche Zeit in Bautzen bereits Jahre zurücklag und er längst im Westen lebte, wurde Lothar Laukisch 1961 in die Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik eingeliefert, in «Bonnies Ranch», wie sie im Berliner Volksmund hieß. Er war ein gebrochener und schwer traumatisierter Mann.

«Sie waren bei der Wehrmacht, Herr Schultz?», fragte er einen Mitinsassen.

«Ja, als General.»

«Gestern erzählten Sie, Sie seien nur Gefreiter gewesen.»

Sein Zimmernachbar war mit der ungewissen Diagnose Schizophrenie eingeliefert worden und hörte, obwohl im Raum absolute Stille herrschte, ein pausenloses Flüstern, Sprechen, Wehen, Rasseln und Läuten, schließlich auch ein Donnern und Schießen. «Das kommt alles aus der Hölle», versicherte er den Ärzten.

Im Nebenzimmer litt ein Mann unter der Krankheit, die von den Psychiatern Katalepsie genannt wurde. Eine Stunde lang stand er jeden Tag auf den Zehenspitzen des rechten Fußes am Fenster und hielt das andere Bein wie ein Hürdenläufer mit der Hand waagerecht in die Höhe.

«Ich will raus hier!», schrie Lothar Laukisch nach einiger Zeit. «Sonst werde ich noch völlig verrückt!»

Aber man ließ ihn noch lange nicht gehen.

Hermsdorf war ein Ortsteil des West-Berliner Bezirks Reinickendorf und zählte im Jahre nach dem Mauerbau über 15 000 Einwohner. Seine wichtigsten Straßen waren im Westen der Hermsdorfer Damm, der es mit Tegel verband, der Falkentaler Steig, über den man ins Dominikus-Krankenhaus gelangte, die Burgfrauenstraße und die Heinsestraße mit Einkaufszentrum und S-Bahnhof. Ebenso wie durch die S-Bahn-Trasse wurde Hermsdorf vom Tegeler Fließ durchschnitten, das sich hier zu einem kleinen See ausweitete. Hermsdorf hatte eine weit zurückreichende Geschichte. Ende des elften Jahrhunderts war es als slawische Siedlung entstanden, später von den Deutschen übernommen und erstmals 1349 als Hermanstorp urkundlich erwähnt worden. Max Beckmann und Erich Kästner hatten in Hermsdorf gelebt.

Und nun, 1962, wohnte hier offenbar auch der Bauunternehmer Konrad Habedank, wie Lothar Laukisch einem Artikel des Tagesspiegel entnommen hatte. Das war der Anstoß für Laukisch gewesen. Seitdem streifte er durch Hermsdorf, um die Adresse Habedanks herauszufinden. Er wollte ihn niederschießen, aus Rache für das, was der ihm in Bautzen angetan hatte. Die Rache ist mein; ich will vergelten.

Irgendwo hier musste das Schwein doch wohnen, verdammt noch mal! Laukisch war nicht mit der S-Bahn gekommen, denn die war nach dem Boykottaufruf vom August 1961 noch immer ziemlich leer. Deshalb hatte er Angst gehabt aufzufallen und war mit dem 25er Bus aus Tegel gefahren. An der Kreuzung Falkentaler Steig, Hermsdorfer Damm und Heinsestraße war er ausgestiegen, und nun durchkämmte er vom Bahnhofsvorplatz aus systematisch das Schachbrettmuster der in Richtung Südwest abgehenden Straßen: der Fellbacher Straße, bis vor Kurzem noch Kaiserstraße genannt, der Heidenheimer, der Schramberger, der Backnanger Straße und wie sie alle hießen. Meist gaben ihm die Namensschilder Auskunft, die neben den Klingelknöpfen angebracht waren, manchmal erfuhr er auch nur die Initialen der Mieter und Hausbesitzer. Nach Konrad Habedank zu fragen, wagte er nicht. Nur keine Spuren hinterlassen! Dass Habedank in dieser Gegend von Hermsdorf wohnte, wusste er, seit er einmal in einer Taxe einem von Habedanks Firmenwagen gefolgt war. Leider hatte er den wegen einer roten Ampel aus den Augen verloren. Heute aber musste es klappen!

ZWEI

«HIER KAPPE.»

«Hermann Kappe! Ich dachte, man habe Sie längst in Pension geschickt.»

«Nein, ich bin Otto Kappe, sein Neffe.»

Anrufe wie diesen gab es noch immer, obwohl Hermann Kappe schon vor acht Jahren pensioniert worden war, und Otto Kappe hatte sie langsam satt. Bei aller Wertschätzung für seinen Onkel – dass der im Nachhinein zu einem zweiten Ernst Gennat hochstilisiert wurde, ging ihm gewaltig gegen den Strich. Nun lasst mal bitte die Kirche im Dorf!

Manche hielten ihn auch für Hermann Kappes Sohn. So entspann sich kürzlich folgender Dialog: «Ah, der Hartmut Kappe!»–«Nein, Otto Kappe, sein Cousin.»–«Ich dachte schon, Sie sind auch aus der DDR getürmt.»–«Nein, der Hartmut ist weiterhin bei der Kripo Ost.»

Nicht genug damit, dass er andauernd gegen den Schatten seines Onkels ankämpfen musste, sie hatten ihm auch noch den Enkel des ebenso legendären Gustav Galgenberg als Assistenten zugeordnet, Hans-Gert Galgenberg. Da kam er gerade zur Tür herein, so stattlich von Gestalt, dass er im American Football eine Chance gehabt hätte, wenn es den Amerikanern denn gelungen wäre, diese Sportart in West-Berlin zu etablieren. Gegen den Fußball hatte jedoch keine andere Ballsportart eine Chance, selbst im amerikanischen Sektor nicht. Freilich war West-Berlin nicht gerade mit Spitzenvereinen gesegnet. Als Charlottenburger schwärmte Otto Kappe für Tennis Borussia, während es Galgenberg eher mit Tasmania 1900 hielt. Die Meisterschaft in der eingemauerten Frontstadt wurde in einer Liga aus zehn Vereinen ermittelt, die in drei Runden jeweils neun Spiele austrugen. Die Vereine waren Tasmania 1900, Hertha BSC, Tennis Borussia, der Spandauer SV, der BSV 92, Südring, Hertha Zehlendorf, Wacker 04, Viktoria 89 und Union 06. Galgenberg konnte die Namen der wichtigsten Tas-Spieler im Schlaf aufsagen: Posinski im Tor, in der Verteidigung Bäsler und Talaszus, die Läufer Becker und Peschke, im Sturm Neumann, Engler, Rosenfeldt und Fiebach. Otto Kappe kannte nur die herausragenden Spieler von Tennis Borussia und Hertha BSC: bei den «Charlottenburger Veilchen» Hans Eder und Wolfgang Seeger und bei den Blau-Weißen vom Gesundbrunnen, der «Plumpe», Hans-Günter Schimöller und Helmut Faeder. Im Augenblick lief alles auf einen Zweikampf zwischen Hertha und Tas hinaus.

Die nächste Viertelstunde verbrachten beide damit, in unterschiedlichen Teilen ihrer Berliner Morgenpost zu blättern. Otto Kappe stand der CDU nahe, und so kam für ihn der sozialdemokratische Telegraf, den sein Onkel früher so geliebt hatte, nicht in Frage.

Viel Weltbewegendes gab es nicht zu lesen. Im Gaswerk Mariendorf hatte es einen Feueralarm gegeben. Ein sogenannter Ausgleichstank war in Brand geraten, das Feuer konnte aber bald wieder gelöscht werden, obwohl sich die Feuerwehrleute wie auf einem Pulverfass gefühlt hatten.

Etwas anderes interessierte Otto Kappe mehr, und laut las er vor: «Die Polizei warnt alle Berliner Leute vor einem Trickbetrüger. Der gibt sich als Nachbar aus und borgt sich Geld.»

 

«Berliner Leute», wiederholte Galgenberg. «Was ist denn das für ’n Deutsch! Bin ich also kein Mensch, bin ich ein Leut?»

«Im Jiddischen sind’s die Leit, also …»

«Hier», rief Galgenberg, «das ist doch was für uns! Machtkämpfe der Mafia forderten 200 Todesopfer. Italien sagt diesen Verbrechern den Kampf an. Also auf nach Italien, mithelfen!»

«Nicht nötig, wir haben doch schon die Baumafia bei uns – und die wird bald so richtig loslegen.» Otto Kappe war schon an einem anderen Artikel hängengeblieben. «Mit Schierling vergiftet.»

«Klar, der Sokrates.»

«Nein, ein achtjähriger Junge aus Altglienicke.»

Das war tragisch, und sie schwiegen eine Weile.

Auf der Seite dreizehn wurde über die große Politik berichtet. Der Aufmacher galt der Verhaftung des ehemaligen Vizepräsidenten Jugoslawiens. Milovan Djilas: Ich mußte die Wahrheit sagen. Grund waren die Veröffentlichung seines Buches Gespräche mit Stalin und seine Enthüllungen im Zusammenhang mit dem Albanien-Problem. Daneben zeigte ein Foto, wie die persische Kaiserin Farah und Jackie Kennedy vom New Yorker Flughafen zum Weißen Haus fuhren. Wichtiger fand Otto Kappe einen kleinen Artikel links unten mit der Überschrift Stikker: Keine Lösung für Berlin in Sicht. Dirk Stikker war der Nato-Generalsekretär.

«Na endlich!», rief Galgenberg. «Erste deutsche Rakete 1965 – Im Juni 1965 wird die erste deutsche Raumforschungsrakete auf einem australischen Versuchsplatz abgeliefert. Das teilte gestern Bundesatomminister Balke in Bad Godesberg mit.»

«Da haben sie sicherlich eine alte V2 gefunden», murmelte Otto Kappe.

«Bundestag billigt Rekordhaushalt!», tönte Hans-Gert Galgenberg weiter. «Parteien: Ausgabenflut muss eingedämmt werden. 53,4 Milliarden D-Mark!»

Otto Kappe kommentierte das mit einer Überschrift aus der Lebensmittelreklame: «Mit dem Pfennig rechnen! Bei Bolle kostet die Tafel Schweizer Schokolade nur eine Mark und Marzipan-Eier pro 200 Gramm 95 Pfennige. Ja, es ostert sehr.»

Was gab es sonst noch Neues? Vier Männer hatten in Schöneberg ein Auto gestohlen und waren nach einer wilden Verfolgungsjagd, an der sich mehrere West-Berliner Funkwagen beteiligt hatten, am Kontrollpunkt Heerstraße gegen einen Schlagbaum geprallt. Ein sowjetischer Hubschrauberpilot hatte die Orientierung verloren und war im westlichen Staaken gelandet. Und genau vor der Gedächtniskirche hatte ein Pony, das vor einen Lumpenwagen gespannt war, ein gesundes Fohlen zur Welt gebracht. Bis zur Fußballweltmeisterschaft in Chile waren es noch 47 Tage, und die deutsche Mannschaft hatte in einem Vorbereitungsspiel Uruguay mit 3 : 0 geschlagen. Das Wetter: sonnig, plus sechzehn Grad. Der Fernsehabend versprach einigen Spaß, denn es gab Die Familie Hesselbach.

Das Telefon riss sie ins Berufsleben zurück. Otto Kappe nahm regelrecht Haltung an, denn es war ihr Vorgesetzter.

«Kappe, in Hermsdorf draußen, in der Fellbacher Straße, der früheren Kaiserstraße, gleich am Bahnhof, ist auf einen Mann geschossen worden. Der Kollege Mannhardt sollte das übernehmen, aber der ist krank geworden, nun machen Sie und der Galgenberg das mal!»

«Selbstverständlich.»

Otto Kappe besorgte sich das vorliegende Material, dann machten sie sich in seinem VW Käfer auf den Weg. Bald kamen sie auf die Entlastungsstraße, die man in West-Berlin mit einer Länge von 1,2 Kilometern in nur 44 Tagen angelegt hatte, da man nach dem Mauerbau ja nicht mehr durch Ost-Berlin fahren konnte. Der Bezirk Mitte, der zum sowjetischen Sektor gehörte, ragte wie ein Keil weit nach West-Berlin hinein und zwang einen zu erheblichen Umwegen, wollte man zum Beispiel von Neukölln nach Tegel.

Obwohl die Notwendigkeit der Entlastungsstraße unumstritten war, meckerten viele West-Berliner, so auch Galgenberg. «Ich kann mich immer noch nicht damit abfinden, dass diese blöde Straße unseren schönen Tiergarten in zwei Teile zerschneidet!»

«Beschwer dich bei Walter Ulbricht!», erwiderte Otto Kappe und fügte mit der Fistelstimme des Sachsen hinzu: «Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.»

Sie kamen in den Wedding und damit vom britischen in den französischen Sektor. Es ging die ewig lange Müllerstraße hinunter. Endlich hatten sie den Kurt-Schumacher-Platz erreicht. Nun waren die Scharnweber- und die Seidelstraße zu bewältigen.

«Wer war Scharnweber?», fragte Otto Kappe, der manchmal etwas von einem Oberlehrer an sich hatte.

Galgenberg lachte auf. «Keine Ahnung. Und dass ich das nicht weiß, hat mich auch nie sonderlich gestört.»

Otto Kappe ließ sich nicht beirren. «Scharnweber war Jurist und Geheimer Regierungsrat, der sich insbesondere für den Straßenbau im Niederbarnim eingesetzt hat.»

«Ich hätte eher gedacht, dass der den Knast hier in Tegel gebaut hat», sagte Galgenberg, als der rote Backsteinkomplex des Strafgefängnisses links vor ihnen auftauchte.

Otto Kappe lachte. «Nee, das war der nicht. Außerdem sind wir hier schon auf der Seidelstraße. Ich weiß nur, dass der Hauptmann von Köpenick und Carl von Ossietzky hier einmal eingesessen haben.»

«Und wie vielen Mördern und Totschlägern haben die Kappes, also du und dein Onkel, schon einen Aufenthalt in Tegel verschafft?»

«Keine Ahnung. Aber ein paar Dutzend waren es allemal.»

Bald erreichten sie das Dominikus-Krankenhaus, wo sie sich zu Hans-Peter Habedank durchfragten, zu dem Mann, auf den in der Fellbacher Straße geschossen worden war. Eine Kugel war in dessen rechtem Oberschenkel stecken geblieben, eine andere hatte seine Brust auf Höhe des Herzens gestreift.

«Ich hätte auch tot sein können», stellte Habedank fest.

Galgenberg lachte. «Genügend Trefferfläche haben Sie dem Täter ja geboten.»

Das bezog sich darauf, dass Habedank ein kugelrundes Männchen war, Lehrer für Chemie und Physik an einem Tegeler Gymnasium.

«Ihr Beruf legt folgende Arbeitshypothese nahe», begann Otto Kappe das Gespräch in einer betont gehobenen Ausdrucksweise. «Haben Sie vielleicht einmal einen Ihrer Schüler mit einer Fünf bedacht, der sich dadurch ungerecht behandelt fühlte?»

«Darüber denke ich auch schon die ganze Zeit nach», bekannte Habedank. «Aber mir ist niemand eingefallen.»

«Haben Sie vielleicht irgendwelche Neider?», wollte Galgenberg wissen.

Der Oberstudienrat überlegte nicht lange. «Nun, wenn ich jemanden beim Schach besiege, wird er nicht gleich auf mich schießen.»

Nach zehn Minuten hatte Otto Kappe eingesehen, dass es keinen Sinn hatte, weiterhin mit der Stange im Nebel zu stochern. Immer mehr ging er davon aus, dass es sich hier um keinen gezielten Anschlag handelte, sondern Habedank das zufällige Opfer eines Geisteskranken geworden war. Von denen gab es schließlich etliche. Damit war das Programm der nächsten Stunden umrissen.

«Wir werden uns in der Fellbacher Straße einmal umhören, ob ein Verdächtiger beobachtet worden ist, und dann bei allen psychiatrischen Kliniken anrufen.»

Hermann Kappe verfluchte Gottes Schöpfung. Was blieb ihm mit seinen 74 Jahren noch anderes, als auf die nächste Krankheit, das Altersheim und den Tod zu warten? Noch immer kam er mit dem Ruhestand überhaupt nicht klar. Und seine Frau nicht mit ihm.

«Leg dir doch endlich ein Hobby zu, das deine Zeit ausfüllt!», mahnte sie ihn immer wieder.

«Was denn? Mein einziges Hobby war die Verbrecherjagd!» Jetzt konnte er nur noch die Mehlmotten in der Küche jagen.

Klara hatte eine Reihe von Vorschlägen. «Tu das, was andere Männer nach der Pensionierung auch tun! Die sammeln Briefmarken oder basteln den ganzen Tag an ihrer Modellbahn herum und freuen sich darüber, dass ihre Züge immer im Kreis fahren.»

«Soll ich also auch einen fahren lassen?»

«Wehe! Du weißt, wie geruchsempfindlich ich bin.»

«Eben.»

«Oder sieh zu, dass wir irgendwo in einer Kleingartenkolonie ein Stück Land pachten – dann kannst du den ganzen Tag Rasen mähen und Hecken beschneiden.»

«Ja, wie hat Gustav Galgenberg immer gesagt? Wer Gott vertraut und Bretter klaut, der hat ’ne schöne Laube.» Der alte Weggenosse fehlte ihm mächtig. «Nun ist er leider schon eine Weile tot.»

«So hat er wenigstens den Mauerbau nicht miterleben müssen», sagte Klara.

Hermann Kappe wandte sich wieder der Zeitung zu, die er jeden Morgen zu lesen pflegte. Auf der Seite sechzehn erfreute ihn eine junge Dame im Turnanzug. Turne dich schlank mit Debbie Drake. Das erinnerte ihn an John Drake. Geheimauftrag für John Drake hieß die TV-Serie, die er gerne sah. So wie Patrick McGoohan, der Held der Serie, hätte er früher auch gern einmal ausgesehen. Fast eine ganze Seite hatten sie dem Eislaufen gewidmet. Sonja Henies Triumph in Hollywood lautete die Überschrift. Er blätterte weiter, denn er hatte die Norwegerin nie gemocht, auch wenn sie dreimal bei den Olympischen Winterspielen eine Goldmedaille gewonnen hatte.

«Was gibt’s denn Neues?», wollte Klara wissen.

«Jetzt nach Spanien – Ferien an der Costa Brava

«Das sollten wir auch mal machen.»

«Mir wäre Wendisch Rietz lieber», brummte Hermann Kappe. «Hier, das wäre doch was für uns: Privatzimmer melden! – Der diesjährige Osterverkehr dürfte alle Rekorde schlagen. Um für den Fall der Fälle eine Reserve zu haben, wendet sich das Verkehrsamt an die Berliner: Melden Sie bitte geeignete Ein- und Zweibettzimmer! Wir können doch die Kammer ausräumen, ein Bett reinstellen und uns ein paar Pfennige dazuverdienen. Vielleicht kommen interessante Leute.»

«Ja, vielleicht Debbie Drake persönlich. Nur über meine Leiche!»

«Warum nicht, ich habe schon lange keine mehr gesehen.»