Des Girolamo Cardano von Mailand eigene Lebensbeschreibung

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© Chiron Verlag Tübingen, 2014

Das gesamte Werk ist im Rahmen des Urheberrechtsgesetzes geschützt.

Umschlag: Judith Hamann, Tübingen

Druck: SDL, Berlin

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Chiron Verlag, Postfach 1250, D-72002 Tübingen

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Des Girolamo Cardano

von Mailand

eigene Lebensbeschreibung

- 1576 -


Inhalt

Des Girolamo Cardano von Mailand eigene Lebensbeschreibung

Heimat und Familie

Meine Geburt

Einiges Allgemeine aus dem Leben meiner Eltern

Kurze Schilderung meines ganzen Lebens von der Geburt bis auf den heutigen Tag, den letzten Oktober des Jahres 1575

Gestalt und Aussehen

Von meiner Gesundheit

Von meinen Leibesübungen

Lebensweise

Der Gedanke, meinen Namen zu verewigen

Mein Lebensweg

Lebensklugheit

Meine Freude am Disputieren und Dozieren

Mein Charakter, geistige Mängel und Schwächen

Meine geistigen Vorzüge, Standhaftigkeit und Charakterfestigkeit

Von meinen Freunden und Gönnern

Von meinen Feinden und Neidern

Verleumdungen, falsche Anklagen, heimtückische Anschläge, mit denen mich Denunzianten verfolgten

Liebhabereien

Spiel und Würfelspiel

Kleidung

Meine Nachdenklichkeit und meine Art zu gehen

Religion und Frömmigkeit

Meine wichtigsten Lebensregeln

Meine Wohnungen

Armut und ungünstige Vermögensverhältnisse

Ehe und Kinder

Das böse Schicksal meiner Kinder

Prozesse ohne Ende

Reisen

Unfälle und Zufälle. Von vielen mannigfachen und unaufhörlichen Nachstellungen

Glück

Ehren, die mir zuteilwurden

Was ich an Unehren erlitt. Was von Träumen zu halten ist. Von der Schwalbe in meinem Wappen

Meine Lehrer

Zöglinge und Schüler

Von meinen Testamenten

Einige natürliche, aber sonderbare Eigentümlichkeiten, worunter einige Träume

Fünf Eigentümlichkeiten, die mir von Nutzen waren

Gelehrsamkeit und äußere Bildung

Glückliche Kuren

Wunderbare Dinge natürlicher Art, wovon ich aber nur weniges selbst erlebte. Und wie mein Sohn gerächt wurde

Meine Fähigkeit des Voraussehens in beruflichen und anderen Dingen

Dinge durchaus übernatürlicher Art

Was ich in den verschiedenen Disziplinen an denkwürdigen Erfindungen machte

Die Bücher, die ich verfasst habe. Wann und warum ich sie schrieb, und was sich dabei ereignet hat

Von mir selbst

Mein Schutzgeist

Urteile berühmter Männer über mich

Meine Meinung über die Dinge dieser Welt

Redensarten, die ich im Munde führe, fernerhin Beobachtungen und Lebensregeln. Zurückweisung einer falschen Ansicht. Totenklage auf meinen Sohn. Ein Dialog über den Wert dieser Aufzeichnungen

Worin ich glaube gefehlt zu haben

Wie ich mich im Laufe der Jahre änderte

Meine Art im Verkehr mit anderen

Und zugleich Nachwort

Nachwort von Hermann Hefele

Anhang

VORREDE

Da es uns scheinen will, als sei von all den Dingen, die der Mensch erstreben darf, das Angenehmste und das Schönste die Erkenntnis der Wahrheit, und da wiederum nichts, was Sterbliche unternehmen, vollkommen, um wie viel weniger vor Verleumdung sicher sein kann, so machen wir uns denn daran, über unser eigenes Leben ein Buch zu schreiben nach dem Vorbild eines überaus weisen und für vortrefflich erachteten Mannes, des Philosophen Marc Aurel1. Wir erklären, dass wir dabei der Wahrheit nichts hinzudichten, etwa um zu prahlen oder die Sache auszuschmücken. Wir haben, wie es eben ging, die Darstellung von Begebenheiten, die meine Schüler, vor allem Ercole Visconti, Paolo Eufomia, Rodolfo Silvestre, miterlebten, mit solchen Teilen, die ich selbst früher schon niedergeschrieben, zu einem Buch zusammen verarbeitet. Dies hatte schon vor einigen Jahren einer meiner Verwandten und Schüler versucht, Gaspare Cardano, Arzt von Beruf. Aber der Tod ereilte ihn, und so konnte er die Arbeit nicht vollenden.

Was ich hier unternehme, das ist jedem Privatmann, einem Juden selbst, zu tun erlaubt, ohne dass er irgendwelchen Tadel fände. Und wenn mir auch keine gar so großen Dinge zugestoßen sind, so doch gewiss manche, die Bewunderung verdienen. Auch wissen wir wohl, dass Galen2 den gleichen Versuch unternommen hat: Er tat dies, indem er in seine anderen Schriften, weil es ihm so schicklicher schien, gelegentlich einzelne Notizen einfließen ließ. Der Lässigkeit der Gelehrten haben wir es zu danken, dass noch kein Wissenschaftler von Bedeutung versucht hat, diese Notizen geordnet zusammenzustellen.

Dies Buch hier ist geschrieben ohne jede Schminke und will niemanden belehren; es begnügt sich mit der Erzählung bloßer Tatsachen und schildert ein Menschenleben, keine großen Staatsaktionen. So haben auch Lucius Sulla3, Gaius Caesar4 und Augustus5, wie erwiesen ist, ihr Leben und ihr Tun beschrieben, sodass also diese Sache durchaus nach dem Vorgang der Alten unternommen, nicht neu oder von uns erdacht ist.

ERSTES KAPITEL
Heimat und Familie

Meine Heimat ist Mailand; das Städtchen, aus dem die Familie stammt, Cardano, 24 000 Schritte von Mailand, 7000 von Gallarate entfernt. Mein Vater hieß Fazio und war Advokat; der Großvater hieß Antonio, der Urgroßvater wieder Fazio, dessen Vater Aldo. Die Söhne des älteren Fazio waren Giovanni, ein weiterer Aldo und mein Großvater Antonio. Antonio hatte drei Söhne: Es waren dies Gotardo, Paolo, ein Advokat und Gemeindevorsteher, und mein Vater Fazio; dazu hatte er noch einen unehelichen Sohn, der mit Vornamen wieder Paolo hieß. Heute leben noch von dieser ganzen Linie ungefähr dreißig Verwandte. Strittig ist, ob die Familie der Cardani eigenen Ursprungs oder, wie einige glauben, ein Zweig des Hauses Castiglione6 ist; jedenfalls ist sie alt und vornehm. Denn ein Milo Cardano stand schon im Jahre 1189 an der Spitze unserer Stadt, in weltlichen wie geistlichen Angelegenheiten, 92 Monate lang. Und zwar erstreckte sich seine Jurisdiktion nicht nur auf Fälle des bürgerlichen, sondern gleich der eines Fürsten auch auf solche des Strafrechts. Auch umspannte sein Herrschaftsbezirk noch andere Städte, die damals unter mailändischer Oberhoheit standen, die ganze Umgebung Mailands, darunter auch Como. Diese Gewalt hatte dem Milo der Erzbischof Crivelli übertragen, als er Papst Urban III.7 geworden war. Einige wollen, auch Francesco Cardano, der General des Matteo Visconti8, habe unserer Familie angehört. Stammen wir vollends tatsächlich vom Hause Castiglione ab, so sind wir noch viel vornehmer, da ja auch ein Papst, nämlich Coelestin IV.9, aus dieser Familie hervorgegangen ist.

 

Unsere Ahnen erreichten alle ein hohes Alter. Des älteren Fazio Söhne wurden 94, 88 und 86 Jahre alt. Giovanni hatte zwei Söhne: Antonio, der 88, und Angelo, der 96 Jahre alt wurde. Diesen habe ich in meiner Jugend selbst noch gekannt, wie er ganz hinfällig war. Aldo hatte einen einzigen Sohn, Giacomo, der mit 72 Jahren starb. Mein Oheim Gotardo, den ich selbst noch gesehen habe, wurde 84, mein Vater 80 Jahre alt. Der genannte Angelo hat als ein nahezu Achtzigjähriger noch Söhne gezeugt, die freilich einen ganz altersschwachen Eindruck machten (einer von ihnen lebt gleichwohl noch heute, 70 Jahre alt), und hat sogar nach seinem 80. Jahre das verlorene Augenlicht wieder gewonnen. Wie ich höre, und einige von ihnen habe ich ja selbst gesehen, waren meine Ahnen von ziemlich schlankem Wuchs.

Mütterlicherseits gehöre ich zur Familie Micheria; meine Mutter war eine Chiara Micheria, und mein Großvater hieß Giacomo und erreichte ein Alter von 75 Jahren. Dessen Bruder Angelo war, als ich noch ein ganz kleiner Knabe war, 85 Jahre alt, wie ich von ihm selbst gehört habe. Mein Vater hatte mit meinem Oheim väterlicherseits und mit meinem mütterlichen Großvater die Gelehrsamkeit und eine ganz außergewöhnliche geistige Frische, mit meinem mütterlichen Großvater außerdem das hohe Alter und die Kenntnis in der Mathematik gemein. Dieser selbe Großvater mütterlicherseits wurde, wie ich, eingekerkert, fast im gleichen Alter; beide waren wir, als dies Schicksal uns traf, 70 Jahre alt.

Es gab noch fünf andere Linien des Hauses Cardano, die alle von dem älteren Aldo, unserem Ahnherrn, abstammen: die des Antoniolo vom Jahre 1388, die des Gasparino vom Jahre 1409, die des Rainerio vom Jahre 1391 und endlich die älteste, die des Enrico vom Jahre 1300, dessen Nachkommen Berto und Giovanni Facioli fast im gleichen Alter [mit Girolamo Cardano?] stehen. Dazu kommt noch die Linie des Guglielmo. Unsicher ist, wann dieser lebte; doch hatte er drei Söhne: Zolo, Martino und Giovanni, welch Letzterer zu Gallarate wohnte.

ZWEITES KAPITEL
Meine Geburt

Nachdem, wie man mir erzählt, vergebens Abtreibungsmittel angewandt worden waren, kam ich zur Welt im Jahre 1501, am 24. September, als die erste Stunde der Nacht noch nicht vollendet, nur wenig mehr als zur Hälfte, aber noch nicht zu zwei Dritteln verflossen war. Die wichtigste Stellung der Figuren des horoskopischen Aspektes war so, wie ich sie im 8. Kapitel des als Anhang zu meinem Kommentar der vier astronomischen Bücher des Ptolemaeus10 gegebenen Buches der zwölf Nativitäten mitgeteilt habe. Ich habe festgestellt, dass damals die beiden großen Sterne [Sonne und Mond] unter bestimmten Winkeln niederstiegen und dass keiner von ihnen den Ort des Horoskopes beschaute, da sie sich an der 6. und an der 12. Stelle befanden. Es konnte auch, mit dem gleichen Resultat, einer von ihnen an der 8. Stelle stehen; er wäre dann im Sinken begriffen gewesen, ohne dass ein Winkel gegeben war, sodass man hätte sagen können: er steigt nieder außerhalb des Winkels. Und standen auch sonst keine unglückverheißenden Sterne innerhalb dieser Winkel, so schadete doch der Mars den beiden großen Sternen wegen der Ungunst ihrer Stellung, und da er vollends mit dem Mond im Geviertschein11 stand, so konnte ich sehr wohl missgestaltet zur Welt kommen. Des Weiteren aber, weil der Ort der vorhergehenden Konjunktion unter dem 29. Grad der Jungfrau lag, die den Merkur beherrscht, und da weder der Merkur noch der Ort des Mondes, noch der meines Horoskopes zusammenfielen und keiner von ihnen den vorletzten Grad der Jungfrau beschaute, so musste ich missgestaltet zur Welt kommen. Tatsächlich hätte es auch leicht geschehen können, dass ich zerstückt aus dem Leibe meiner Mutter kam; nur wenig hat gefehlt. So ward ich denn geboren, oder vielmehr aus der Mutter herausgezogen, fast wie tot, mit schwarzem, krausem Haar. In einem Bad heißen Weines, das einem anderen hätte gefährlich werden können, kam ich zu Kräften. Drei volle Tage war meine Mutter in schweren Geburtswehen gelegen. Schließlich kam ich doch lebend davon.

Um aber wieder auf mein Horoskop zurückzukommen: Da die Sonne und die beiden verderbenbringenden Sterne12, auch die Venus und der Merkur, gerade in männlichen Zeichen des Tierkreises13 standen, behielt mein Leib normale menschliche Gestalt. Und weil der Jupiter am Ort des Horoskopes stand und die Venus Herrin der ganzen Konstellation war, so ward ich nirgends verletzt als an den Geschlechtsteilen, sodass ich von meinem 21. bis zum 31. Lebensjahre nicht mit Weibern verkehren konnte und oft darob mein trauriges Schicksal beklagt, jeden anderen um sein glücklicheres Geschick beneidet habe. Und obwohl, wie ich schon sagte, die Venus die ganze Konstellation beherrschte und der Jupiter in der Linie meines Horoskopes stand, ward mir doch ein wenig günstiges Los zuteil: Ich bekam eine etwas schwere, stammelnde Zunge und dazu eine geistige Neigung, die, wie Ptolemaeus sagt, zwischen einem kühl besonnenen Wesen und einer harpokratischen Natur14, nämlich einer unwiderstehlichen, unbewussten Sehergabe, die Mitte hielt. In dieser Art des Vorauswissens – Ahnung nennt man sie mit einem passenderen Wort – habe ich mitunter ganz deutliche und offensichtliche Erfolge gehabt, ebenso auch in anderen Arten des Weissagens. Und weil die Venus und der Merkur unter den Strahlen der Sonne standen und dieser ihre ganze Kraft liehen, so hätte auch diese gute Konstellation für mich von günstigen Folgen sein können – trotz meiner, um mit Ptolemaeus zu reden, ganz jämmerlichen und unglücklichen Geburt, wenn eben nicht die Sonne selbst in ungünstiger Lage gewesen wäre, da sie von ihrer Höhe niedersteigend an der Unglück verheißenden 6. Stelle sich befand. Es blieb mir also nur eine gewisse Verschmitztheit, aber eine sehr wenig freie Gesinnung, lauter harte, schroffe Grundsätze. Alles in allem kurz gesagt: Es fehlen mir körperliche Kräfte, ich habe nur wenig Freunde, ein kleines Vermögen, dagegen immer mehr Feinde, deren größten Teil ich weder dem Namen nach noch von Angesicht kenne; es fehlt mir die rein menschliche Weisheit, ich habe auch kein gutes Gedächtnis, dafür aber ein etwas größeres Maß von guter Voraussicht. So weiß ich wirklich nicht, was meine Verhältnisse, die in Bezug auf Familie und Ahnen geringschätzig bewertet werden, meinen Neidern so herrlich und beneidenswert erscheinen lässt. Am gleichen Tage wie ich ist einst Augustus15 zur Welt gekommen. Im ganzen römischen Reiche fängt an diesem Tag eine neue Zinszahl an. Und am nämlichen Tage haben der hocherlauchte König Ferdinand von Spanien16 und seine Gemahlin Elisabeth die erste Flotte ausgesandt, die ihnen den ganzen Westen erobern sollte.

DRITTES KAPITEL
Einiges Allgemeine aus dem Leben meiner Eltern

Mein Vater kleidete sich in Purpur, nach alter städtischer Sitte, wozu er aber immer ein schwarzes Käppchen trug. Er stotterte beim Reden, betrieb als Dilettant mancherlei Studien, war rot, hatte weißgraue Augen, die nachtsichtig waren, und brauchte bis an sein Lebensende nie Augengläser. Beständig führte er das Wort im Munde: »Aller Geist lobe den Herrn, denn er ist die Quelle aller Tüchtigkeit.« Als er noch jung war, hatte er durch eine Verwundung am Kopf mehrere Knochen verloren, sodass er nie lange ohne Kopfbedeckung sein konnte. Von seinem 55. Lebensjahre an hatte er gar keine Zähne mehr. Er gab sich alle Mühe, die Werke des Euklid17 zu studieren, und hatte eingebogene Schultern. Mein ältester Sohn ähnelte ihm sehr, im Gesicht, an den Augen, im Gang und an den Schultern; nur im Sprechen war er, vielleicht der jüngeren Jahre wegen, etwas gewandter. Mein Vater verkehrte nur mit einem einzigen Freund und Vertrauten, der freilich einen ganz anderen Beruf als er selber hatte; er hieß Galeazzo, mit dem Familiennamen Rossi, und ist vor ihm gestorben. Dann verkehrte mein Vater freundschaftlich mit dem Senator Gianangelo Salvatico, der einst sein Schüler und Hausgenosse gewesen war. Die Ähnlichkeit des Charakters und der Interessen hatte einen Schmied [Galeazzo Rossi] zum Freund meines Vaters gemacht. Dieser Rossi war es, der die Schraube des Archimedes18 erfunden hat, ehe noch die Werke des Archimedes veröffentlicht waren. Auch verfertigte er Säbel, die sich wie Blei biegen ließen und Eisen fast wie Holz spalteten, und – was eine noch viel bedeutendere Leistung war – eiserne Panzer, die den Kugeln der Schusswaffen von Infanteriesoldaten Widerstand leisteten. Ich selbst habe, freilich als ganz kleiner Bube, diesem Experiment oft zugeschaut. Eine einzige Panzerplatte genügte, einem fünffachen Schuss standzuhalten, und zeigte daraufhin kaum eine kleine Schramme.

Meine Mutter war jähzornig, von gutem Gedächtnis und klarem Verstand, klein von Gestalt, fett, fromm.

Jähzornig waren beide Eltern gleichermaßen und wenig konsequent und beständig in der Liebe zu ihrem Kinde; dabei wieder nachsichtig, sodass mein Vater zum Beispiel duldete, ja befahl, dass ich nie vor vollendeter zweiter Tagesstunde19 vom Bette aufstand, was mir für mein ganzes Leben und mein gesundheitliches Wohlbefinden von großem Nutzen war. Es scheint auch – wenn es erlaubt ist zu sagen – mein Vater besser und liebevoller gewesen zu sein als meine Mutter.

VIERTES KAPITEL
Kurze Schilderung meines ganzen Lebens von der Geburt bis auf den heutigen Tag, den letzten Oktober des Jahres 1575

Eine solche Zusammenfassung hätte auch Sueton20, wenn er überhaupt sein Augenmerk darauf gerichtet hätte, der Bequemlichkeit seiner Leser zuliebe seinen Biografien beigeben können, denn, wie die Philosophen sagen: nichts ist etwas, wenn es nicht in sich ein Ganzes ist. – Ich bin also geboren zu Pavia. Im ersten Monat meines Lebens verlor ich meine Amme, die, wie man mir erzählt hat, am gleichen Tage, da sie erkrankte, an der Pest starb. Man gab mich meiner Mutter zurück. Damals bekam ich im Gesicht fünf Karbunkeln, so in Form eines Kreuzes gestellt, dass mir einer auf der Nasenspitze saß; genau an denselben Stellen sind nach drei Jahren ebenso viel Geschwüre – man nennt sie auch Pocken – von Neuem ausgebrochen. Der zweite Monat meines Lebens war noch nicht verflossen, da zog Isidoro de' Resti, ein Adliger aus Pavia, mich nackt aus einem Bad von heißem Essig und gab mich einer Amme. Die brachte mich nach Moirago, einem Landhaus, 7000 Schritte von Mailand entfernt, an der Straße, die von dieser Stadt über die Ortschaft Binasco nach Pavia führt. Dort begann eines Tages mein Bauch hart zu werden und aufzuschwellen, und mein ganzer Körper siechte dahin; man suchte nach den Ursachen und fand, dass meine Amme schwanger war. Darauf übergab man mich einer besseren Amme, die mich im dritten Lebensjahr entwöhnte. Im vierten brachte man mich nach Mailand, und meine Mutter und ihre Schwester Margarita, meine Tante – eine Frau, der, wie ich glaube, jede Galle gefehlt hat, – behandelten mich mild und freundlich; nur wurde ich oft von Vater und Mutter ohne jeden Grund so sehr geprügelt, dass ich häufig bis auf den Tod erkrankte. Als ich dann endlich 7 Jahre alt geworden war – Vater und Mutter wohnten damals getrennt – und in das Alter kam, da ich Prügel hätte verdienen können, beschlossen sie, mich künftighin nicht mehr zu schlagen. Aber mein böser Stern verließ mich nicht; er änderte nur meine traurige Lage, hob sie nicht auf. Mein Vater vereinigte den Hausstand wieder und nahm mich, Mutter und Tante zu sich in sein Haus. Dort musste ich nun meinem Vater Dienste tun, so zart und jung wie ich damals war, und sah mich aus der vollkommenen Ruhe kindlichen Daseins plötzlich in den Zustand strengster und andauernder Arbeit versetzt. Da fiel ich zu Beginn meines 8. Lebensjahres in Krankheit; ich litt an Ruhr und Fieber. Es war dies eine damals in Mailand grassierende Epidemie, wenn nicht eine Art von Pest, und ich hatte zudem heimlich eine große Menge unreifer Trauben gegessen. Man zog zwei Ärzte bei, den Bernabone della Croce und den Angelo Gira, doch mein Zustand ließ erst wieder Besserung erhoffen, als schon Vater, Mutter und Tante mich als tot bejammert hatten. Mein Vater hatte für meine Gesundheit dem heiligen Hieronymus21 ein Gelübde getan; er war ein Mann, der ein frommes Herz hatte, und wollte darum lieber des Heiligen wundertätige Kraft erproben als die eines gewissen bösen Geistes, mit dem er, wie er versicherte, in vertrautem Verkehr stand – eine dunkle Sache, der ich stets versäumt habe auf den Grund zu gehen. So bin ich denn wieder gesund geworden, gerade damals, als die Franzosen nach ihrem Sieg über die Venezianer22 bei Adda einen Triumphzug durch die Stadt hielten, dem ich vom Fenster aus zuschauen durfte.

 

Nach dieser Krankheit hat auch die ewige Mühe und Plackerei im Dienst meines Vaters für einige Zeit aufgehört. Aber der Juno Zorn23 war noch nicht gesättigt: Ich hatte mich noch nicht völlig von der Krankheit erholt, als ich – wir wohnten damals in der Via Dei Maini – die Treppe herabfiel, einen Hammer in der Hand, der mich an der linken Stirnseite ganz oben traf. Ich erlitt eine schwere Verletzung, auch der Knochen war getroffen, sodass eine dauernde, heute noch sichtbare Narbe blieb. Die Wunde war kaum geheilt, ich saß eines Tages vor der Haustüre, da fiel vom Dache des sehr hohen Nachbarhauses ein Ziegelstein, in der Länge und Breite wie eine Nuss, aber dünn wie ein Stückchen Rinde, und verwundete mich links oben am Kopf, wo reichlich Haare standen. Zu Beginn meines 10. Lebensjahres wechselte mein Vater die Wohnung; er verließ das Haus, das ihm der Unglücksfälle wegen unheimlich wurde, und bezog ein anderes in der gleichen Straße, wo ich nun volle drei Jahre lang lebte. Mein Schicksal aber änderte sich nicht: Wieder führte mein Vater mich wie einen Sklaven mit sich, in so auffallender Strenge, um nicht zu sagen Grausamkeit, dass ich – nach den Erfahrungen, die ich später gemacht habe – glauben möchte, es sei dies eher des Himmels Wille als des Vaters Schuld gewesen, umso mehr, als auch Mutter und Tante mit dieser Behandlung einverstanden waren. Immerhin verfuhr er nun mit mir viel milder als früher, denn inzwischen hatte er zwei Neffen, einen nach dem andern, zu sich ins Haus genommen, und da diese zu den gleichen Diensten angehalten wurden, ward meine Knechtschaft erleichtert oder war doch weniger schwer zu tragen, denn entweder musste ich jetzt den Vater gar nicht mehr oder doch nur gemeinsam mit den Neffen begleiten. Mehrmals wechselten wir die Wohnung, ich immer in des Vaters Begleitung, bis wir schließlich, da ich das 16. Lebensjahr vollendet, in das Haus des Alessandro Cardano zogen, bei der Mühle der Bossi.

Mein Vater hatte zwei Neffen, Söhne seiner Schwester: Einer, Evangelista, trat in den Orden des heiligen Franziskus und wurde fast 70 Jahre alt, der andere, Oddone Cantone, war Steuereinnehmer, ein reicher Mann. Der wollte vor seinem Tode mich zum einzigen Erben seines ganzen Vermögens einsetzen; aber der Vater duldete dies nicht, er sagte, das Geld sei unrecht erworbenes Gut. So wurde sein Vermögen nach Gutdünken seines Bruders, der damals noch lebte, verteilt.

Neunzehn Jahre alt geworden bezog ich zusammen mit Giovanni Ambrogio Targio die Universität zu Pavia und blieb dort, dieses Mal ohne meinen Kameraden, auch ein zweites Jahr. Als ich das 21. Lebensjahr zurückgelegt, begab ich mich, wiederum mit Targio, ein drittes Mal nach Pavia, hielt nun meine öffentliche Disputation und las im Gymnasium über den Euklid und schon nach wenigen Tagen auch über Dialektik und die Anfangsgründe der Philosophie, zuerst für den Servitenbruder Romolo und kurze Zeit darauf für einen gewissen Arzt namens Pandolfo. Nach vollendetem 22. Lebensjahre blieb ich für einige Zeit zu Hause in Mailand, der Kriegswirren24 wegen, unter denen unsere Gegend damals schwer zu leiden hatte. Zu Beginn des Jahres 1524 begab ich mich nach Padua; gegen Ende des Jahres, das heißt im Monat August, führte mich, in Begleitung des Gianangelo Corio, irgendein Zufall wieder nach Mailand zurück. Ich fand meinen Vater todkrank in den letzten Zügen. Doch er kümmerte sich mehr um mein als um sein eigenes Wohlergehen und verlangte, dass ich nach Padua zurückkehre; glücklich war er, hören zu dürfen, dass ich das sogenannte Bakkalaureat der freien Künste25 zu Venedig erworben. Ich reiste also wieder nach Padua und erhielt bald nach meiner Ankunft die briefliche Nachricht, mein Vater sei gestorben, acht Tage, nachdem er sich jeder Speise enthalten habe. Gestorben ist er am 28. August, und zu fasten fing er an am 20., einem Samstag. Gegen Ende meines 24. Lebensjahres wurde ich Rektor der Universität zu Padua, ein Jahr später Doktor der Medizin. Bei der Wahl als Rektor drang ich nach zweimal wiederholter Abstimmung mit einer Stimme Mehrheit durch. Bei der Promotion zum Doktorat war ich zuerst zweimal durchgefallen, da 47 Stimmen gegen mich abgegeben wurden, und erst bei der dritten Abstimmung, über die hinaus keine weitere mehr zulässig war, blieb ich Sieger: Nurmehr neun Stimmen wurden gegen mich abgegeben; ebensoviele hatten bei den ersten Abstimmungen, gegenüber 47 ablehnenden Stimmen, für mich gestimmt. Ich weiß wohl, dass dies alles Kleinigkeiten sind, aber ich berichte sie genau, wie sie stattgefunden haben, weil ich meinen Spaß daran haben will, wenn ich es wieder lese (für mich allein nämlich, nicht für andere, mache ich diese Aufzeichnungen), weil ferner jeder, der vielleicht doch einmal dies zu lesen geruht, wissen möge, dass großer Dinge Anfang wie ihr Ausgang oft trüb und dunkel ist, und endlich, weil manchem andern schon Ähnliches begegnet ist, ohne dass er Gewicht darauf gelegt hat.

Nachdem nun also mein Vater gestorben und meine Amtszeit als Rektor abgelaufen war, begab ich mich, zu Beginn meines 26. Lebensjahres, nach dem Städtchen Sacco, das 10000 Schritt von Padua, 25000 von Venedig entfernt liegt, ermuntert und unterstützt durch einen Arzt in Padua, Francesco Buonafede. Dieser Mann, dem ich nie irgendwelchen Dienst getan – nicht einmal sein Hörer bin ich gewesen, obwohl er zu Padua öffentlich las –, war mir in höchst uneigennützigem freundschaftlichem Eifer zugetan. Ich blieb nun zunächst in Sacco, indes mein Vaterland durch alle Art von Übel heimgesucht wurde: Im Jahre 1524 wütete zu Mailand eine fürchterliche Pest, zweimal wechselte die Stadt den Landesherrn26, und in den Jahren 1526 und 1527 litt sie unter einer vernichtenden Hungersnot; die Preise für die amtlichen Getreidescheine waren kaum zu erschwingen. Dazu kamen unerträglich drückende Abgaben. Im Jahre 1528 wüteten wieder Pest und andere Seuchen – Übel, die vielleicht nur aus einem einzigen Grunde ein weniges leichter zu ertragen waren, weil sie nämlich das ganze Land verheerten.

Im Jahre 1529, da die Kriegswirren ein wenig nachließen, siedelte ich wieder nach meiner Vaterstadt über. Ich wollte in das Kollegium der Ärzte aufgenommen werden, wurde aber abgewiesen. Bei den Barbiani27 war nichts für mich zu erreichen, und da zudem meine Mutter launisch und griesgrämig war, kehrte ich wieder in mein Landstädtchen28 zurück, nicht so gesund freilich, als ich es verlassen hatte. Die Aufregungen, Mühen, Sorgen und Arbeiten, dazu Husten und eiternde Geschwüre, ein übelriechender Auswurf infolge verdorbenen Magens hatten mich auf einen Zustand gebracht, von wo aus sonst niemand mehr gesund zu werden pflegt. Doch ein Gelübde, das ich der Allerseligsten Jungfrau gemacht, rettete mich aus dieser Krankheit, und unmittelbar darauf, gegen Ende meines 31. Lebensjahres, vermählte ich mich mit Lucia Bandarini aus dem Städtchen Sacco.

Vier Beobachtungen habe ich im Laufe meines Lebens gemacht: einmal, dass alle meine Unternehmungen, ohne dass ich es beabsichtigte, immer vor dem Vollmond zum Abschluss kamen; zweitens, dass ich immer dann frohe Hoffnung schöpfen durfte, wenn andere sie zu verlieren pflegen; weiter, dass ich mir das Glück, wie ich schon gesagt, tatsächlich immer im letzten Augenblick zum Besten wandte; und endlich, dass ich bis zu meinem 60. Lebensjahre fast alle meine Reisen im Monat Februar angetreten habe. – Meine Frau gebar mir nach zwei Fehlgeburten zwei Söhne und zwischenhinein eine Tochter. Im Jahre nach meiner Vermählung begab ich mich gegen Ende April nach Gallarate, blieb dort neunzehn Monate und erholte mich in dieser Zeit völlig. Und damals hörte ich auch auf, arm zu sein, denn es war mir allmählich gar nichts mehr geblieben. Doch jetzt ermöglichte es mir das liebevolle Entgegenkommen der Vorsteher des großen Xenodochiums29 und vor allem die Unterstützung des erlauchten Filippo Archinti30, damals berühmt als Redner, nach Mailand zu ziehen und dort öffentlich Mathematik zu lehren, nunmehr im Alter von mehr als 33 Jahren. Zwei Jahre darauf bot sich mir die Gelegenheit, zu Pavia öffentlich Medizin zu dozieren; ich nahm nicht an, weil ich keinerlei Aussicht hatte, dort auch nur den nötigsten Lebensunterhalt zu finden. Im nämlichen Jahre, 1536, reiste ich nach Piacenza; ein Brief des Bischofs Archinti – er war damals übrigens noch nicht Priester – rief mich dorthin zum Papst31, doch wurde nichts aus der Sache. Auch der französische Vizekönig von Mailand nahm sich meiner an und zwar, wie ich später erfuhr, auf Drängen des erlauchten Herrn Louis Birague, des Kommandanten der in Italien stationierten Infanterie des französischen Königs. Dieser Vizekönig Brissac32 war ein überaus eifriger Freund und Gönner der Gelehrten; er machte mir viele und große Angebote, aber die Sache zerschlug sich. Im Jahre darauf, 1537, verhandelte ich wieder mit dem Kollegium der mailändischen Ärzte, aber mein Gesuch um Aufnahme wurde wiederum glattweg abgewiesen. Im Jahre 1539 dagegen, als nicht mehr so viele gegen mich stimmten, bin ich tatsächlich wider alles Erwarten aufgenommen worden, auf Betreiben des Senators Sfondrat33i und des ganz vortrefflichen Francesco Deila Croce. Später, nämlich im Jahre 1543, habe ich dann auch zu Mailand über Medizin gelesen, aber schon im folgenden Jahre bin ich, als mein Haus in Mailand einstürzte, nach Pavia gezogen und habe dort Heilkunde doziert; einen Konkurrenten im Lehramt hatte ich zwar nicht, doch wurde mir auch mein Gehalt nicht ausbezahlt. So gab ich denn gegen Ende meines 44. Lebensjahres diese Stellung wieder auf und blieb nun zu Mailand mit meinem ältesten Sohn Giovanni Battista, der damals 11 Jahre alt war; meine Tochter Chiara war 9 und Aldo 2 Jahre alt geworden. Da machte mir im Sommer des Jahres 1546 der Kardinal Morone34 – ich nenne ihn hier, um ihm ein ehrendes Denkmal zu setzen – ein Angebot35 unter nicht zu verachtenden Bedingungen. Aber da ich nun schon einmal, wie ich oben erklärt habe, das ahnungsvolle Wesen einer harpokratischen Natur36 besitze, so sagte ich mir: Der Papst37 ist alt und gebrechlich, eine Mauer, die morgen einstürzen kann – soll ich Sicheres gegen Unsicheres eintauschen? Ich kannte ja auch damals weder die Redlichkeit des Morone, noch die glänzende Freigebigkeit des Farnese. Auch hatte ich seit dem Jahre 1542 die freundschaftliche Zuneigung des Fürsten von Este38 gewonnen, der mir schon einiges an Geld gegeben hatte. Er wollte mir weiteres geben, doch ich nahm nichts an. Vielmehr kehrte ich mit dem Ende des Sommers wieder auf meine Stelle als Dozent in Pavia zurück, und im folgenden Jahr erhielt ich durch Vermittlung des hochberühmten, mir befreundeten Andreas Vesal39 vom König von Dänemark40 die Einladung, mit einem Gehalt von jährlich 800 Kronen in seine Dienste zu treten. Ich lehnte ab, nicht nur wegen der Ungunst des dänischen Klimas – auch hätte meine dortige Lebenshaltung zu großen Aufwand verlangt, sondern vor allem der fremden Religion41 wegen. Ich wäre dort entweder schlecht aufgenommen worden oder aber gezwungen gewesen, mein Vaterland und meine und meiner Ahnen Sitte und Art ganz aufzugeben. Nach vollendetem 50. Lebensjahre blieb ich wieder einige Zeit in Mailand, weil man mir in Pavia mein Gehalt nicht ausbezahlte. Im Februar des Jahres 1552 bot sich mir die Gelegenheit einer Dienstreise nach Schottland42. Ich erhielt vor meiner Abreise aus Italien 500 Kronen französischer Währung und 1200 bei meiner Rückkehr. 311 Tage war ich unterwegs. Ich hätte, wenn ich dort hätte bleiben wollen, eine noch viel größere Summe erhalten können. Von Anfang Januar 1553 bis Anfang Oktober 1559 lebte ich wieder in Mailand. Neue, größere Angebote lehnte ich ab: eines vom französischen König43 deshalb, weil ich fürchtete, die kaiserlich Gesinnten in Mailand vor den Kopf zu stoßen, denn damals wüteten Kriege zwischen beiden Fürsten; ein anderes, das mir gleich nach meiner Rückkehr von Schottland durch Vermittlung des Ferrante Gonzaga44 von dessen Oheim, dem Herzog von Mantua, gemacht wurde; ein drittes endlich, ein weit einträglicheres noch, aber allzu unbestimmtes, das von der Königin von Schottland45 ausging, deren Schwager ich in ärztlicher Behandlung gehabt hatte und die von mir geheilt zu werden hoffte. Bezahlt freilich sollte ich erst werden, wenn die Heilung geglückt wäre.