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Knulp

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Vorfrühling

Anfang der neunziger Jahre mußte unser Freund Knulp einmal mehrere Wochen im Spital liegen, und als er entlassen wurde, war es Mitte Februar und scheußliches Wetter, so daß er schon nach wenigen Wandertagen wieder Fieber spürte und auf ein Unterkommen bedacht sein mußte. An Freunden hat es ihm nie gefehlt, und er hätte fast in jedem Städtchen der Gegend leicht eine freundliche Aufnahme gefunden. Aber darin war er sonderbar stolz, so sehr, daß es eigentlich für eine Ehre gelten konnte, wenn er von einem Freund etwas annahm.

Diesmal war es der Weißgerber Emil Rothfuß in Lächstetten, dessen er sich erinnerte und an dessen schon verschlossener Haustüre er abends bei Regen und Westwind anklopfte. Der Gerber tat den Fensterladen im Oberstock ein wenig auf und rief in die dunkle Gasse hinunter: »Wer ist draußen? Hat’s nicht auch Zeit, bis es wieder Tag ist?«

Knulp, als er die Stimme des alten Freundes hörte, wurde trotz aller Müdigkeit sofort munter. Er erinnerte sich an ein Verschen, das er vor Jahren gemacht hatte, als er einmal vier Wochen mit Emil Rothfuß zusammen gewandert war, und sang alsbald am Hause hinauf:

 
»Es sitzt ein müder Wandrer
In einer Restauration,
Das ist gewiß kein andrer
Als der verlorne Sohn.«
 

Der Gerber stieß den Laden heftig auf und beugte sich weit aus dem Fenster.

»Knulp! Bist du’s oder ist’s ein Geist?«

»Ich bin’s!« rief Knulp. »Du kannst aber auch über die Stiege herunter kommen, oder muß es durchs Fenster sein?«

Mit froher Eile kam der Freund herab, tat die Haustüre auf und leuchtete dem Ankömmling mit der kleinen rauchenden Öllampe ins Gesicht, daß er blinzeln mußte.

»Jetzt aber herein mit dir!« rief er aufgeregt und zog den Freund ins Haus. »Erzählen kannst du später. Es ist noch was vom Nachtessen übrig, und ein Bett kriegst du auch. Lieber Gott, bei dem Sauwetter! Ja, hast du denn auch gute Stiefel, du?«

Knulp ließ ihn fragen und sich wundern, schlug auf der Treppe sorgfältig die umgelitzten Hosenbeine herab und stieg mit Sicherheit durch die Dämmerung empor, obwohl er das Haus seit vier Jahren nimmer betreten hatte.

Im Gang oben, vor der Wohnstubentüre, blieb er einen Augenblick stehen und hielt den Gerber, der ihn eintreten hieß, an der Hand zurück.

»Du,« sagte er flüsternd, »gelt, du bist ja jetzt verheiratet?«

»Ja, freilich.«

»Eben drum. – Weißt du, deine Frau kennt mich nicht; es kann sein, sie hat keine Freude. Stören mag ich euch nicht.«

»Ach was stören!« lachte Rothfuß, tat die Türe weit auf und drängte Knulp in die helle Stube. Da hing über einem großen Eßtisch an drei Ketten die große Petroleumlampe, ein leichter Tabaksrauch schwebte in der Luft und drängte in dünnen Zügen nach dem heißen Zylinder hin, wo er hastig emporwirbelte und verschwand. Auf dem Tisch lag eine Zeitung und eine Schweinsblase voll Rauchtabak, und von dem kleinen schmalen Kanapee an der Querwand sprang mit halber und verlegener Munterkeit, als sei sie in einem Schlummer gestört worden und wolle es nicht merken lassen, die junge Hausfrau auf. Knulp blinzelte einen Augenblick wie verwirrt am scharfen Licht, sah der Frau in die hellgrauen Augen und gab ihr mit einem höflichen Kompliment die Hand.

»So, das ist sie,« sagte der Meister lachend. »Und das ist der Knulp, mein Freund Knulp, weißt du, von dem wir auch schon gesprochen haben. Er ist natürlich unser Gast und kriegt das Gesellenbett. Es steht ja doch leer. Aber zuerst trinken wir einen Most miteinander, und der Knulp muß was zu essen haben. Es war doch noch eine Leberwurst da, nicht?«

Die Meisterin lief hinaus, und Knulp sah ihr nach.

»Ein bißchen erschrocken ist sie doch,« meinte er leise. Aber Rothfuß wollte das nicht zugeben.

»Kinder habet ihr noch keine?« fragte Knulp.

Da kam sie schon wieder herein, brachte auf einem Zinnteller die Wurst und stellte das Brotbrett daneben, das in seiner Mitte einen halben Laib Schwarzbrot trug, sorglich mit dem Anschnitt nach unten gestellt, und um dessen Ründung im Kreise die erhaben geschnitzte Inschrift lief: Gib uns heute unser täglich Brot.

»Weißt du, Lis, was der Knulp mich gerade gefragt hat?«

»Laß doch!« wehrte dieser ab. Und er wandte sich lächelnd an die Hausfrau: »Also, ich bin so frei, Frau Meisterin.«

Aber Rothfuß ließ nicht nach.

»Ob wir denn keine Kinder haben, hat er gefragt.«

»Ach was!« rief sie lachend und lief sogleich wieder davon.

»Ihr habet keine?« fragte Knulp, als sie draußen war.

»Nein, noch keine. Sie läßt sich Zeit, weißt du, und für die ersten Jahre ist es auch besser. Aber greif zu, gelt, und laß dir’s schmecken!«

Nun brachte die Frau den grau und blauen, steingutenen Mostkrug herein und stellte drei Gläser dazu auf, die sie alsbald vollschenkte. Sie machte es geschickt, Knulp sah ihr zu und lächelte.

»Zum Wohl, alter Freund!« rief der Meister und streckte Knulp sein Glas entgegen. Der war aber galant und rief: »Zuerst die Damen. Ihr wertes Wohl, Frau Meisterin! Prosit, Alter!«

Sie stießen an und tranken, und Rothfuß leuchtete vor Freude und blinzelte seiner Frau zu, ob sie auch bemerke, was sein Freund für fabelhafte Manieren habe.

Sie hatte es aber längst bemerkt.

»Siehst du,« sagte sie, »der Herr Knulp ist höflicher als du, der weiß, was der Brauch ist.«

»O bitte,« meinte der Gast, »das hält eben jeder so, wie er’s gelernt hat. Was Manieren betrifft, da könnten Sie mich leicht in Verlegenheit bringen, Frau Meisterin. Und wie schön Sie serviert haben, wie im feinsten Hotel!«

»Ja gelt,« lachte der Meister, »das hat sie aber auch gelernt.«

»So, wo denn? Ist Ihr Herr Vater Wirt?«

»Nein, der ist schon lang unterm Boden, ich hab ihn kaum mehr gekannt. Aber ich habe ein paar Jahre lang im Ochsen serviert, wenn Sie den kennen.«

»Im Ochsen? Der ist früher das feinste Gasthaus von Lächstetten gewesen,« lobte Knulp.

»Das ist er auch noch. Gelt, Emil? Wir haben fast nur Handlungsreisende und Turisten im Logis gehabt.«

»Ich glaub’s, Frau Meisterin. Da haben Sie’s sicher gut gehabt und was Schönes verdient! Aber ein eigener Haushalt ist doch besser, gelt?«

Langsam und genießerisch strich er die weiche Wurst auf sein Brot, legte die reinlich abgezogene Haut auf den Rand des Tellers und nahm zuweilen einen Schluck von dem guten gelben Apfelmost. Der Meister sah mit Behagen und Respekt ihm zu, wie er mit den schlanken feinen Händen das Notwendige so sauber und spielend tat, und auch die Hausfrau nahm es mit Gefallen wahr.

»Extra gut aussehen tust du aber nicht,« begann im weiteren Emil Rothfuß zu tadeln, und jetzt mußte Knulp bekennen, daß es ihm neuestens schlecht gegangen und daß er im Krankenhaus gewesen sei. Doch verschwieg er alles Peinliche. Als ihn darauf sein Freund fragte, was er denn jetzt anzufangen denke, und ihm mit Herzlichkeit Tisch und Lager für jede Dauer anbot, da war dies zwar genau das, was Knulp erwartet und womit er gerechnet hatte, aber er wich wie in einer Anwandlung von Schüchternheit aus, dankte flüchtig und verschob das Besprechen dieser Dinge bis morgen.

»Über das können wir morgen oder übermorgen auch noch reden,« meinte er nachlässig, »die Tage gehen ja gottlob nicht aus, und eine kleine Weile bleib ich auf alle Fälle hier.«

Er machte nicht gern Pläne oder Versprechungen auf lange Zeit. Wenn er nicht die freie Verfügung über den kommenden Tag in der Tasche hatte, fühlte er sich nicht wohl.

»Falls ich wirklich eine Zeitlang hierbleiben sollte,« begann er dann wieder, »so mußt du mich als deinen Gesellen anmelden.«

»Warum nicht gar!« lachte der Meister auf. »Du und mein Gesell! Außerdem bist du ja gar kein Weißgerber.«

»Tut nichts, verstehst du denn nicht? Es liegt mir gar nichts am Gerben, es soll zwar ein schönes Handwerk sein, und zum Arbeiten habe ich kein Talent. Aber meinem Wanderbüchlein wird es gut tun, weißt du. Für das Krankengeld käme ich dann schon auf.«

»Darf ich’s einmal sehen, dein Büchlein?«

Knulp griff in die Brusttasche seines fast neuen Anzuges und zog das Ding heraus, das reinlich in einem Wachstuchfutteral steckte.

Der Gerbermeister sah es an und lachte: »Immer tadellos! Man meint, du seiest erst gestern früh von der Mutter fortgereist.«

Dann studierte er die Einträge und Stempel und schüttelte in tiefer Bewunderung den Kopf: »Nein, ist das eine Ordnung! Bei dir muß halt alles nobel sein.«

Das Wanderbüchlein so in Ordnung zu halten, war allerdings eine von Knulps Liebhabereien. Es stellte in seiner Tadellosigkeit eine anmutige Fiktion oder Dichtung dar, und seine amtlich beglaubigten Einträge bezeichneten lauter ruhmvolle Stationen eines ehrenwerten und arbeitsamen Lebens, in welchem nur die Wanderlust in Form sehr häufiger Ortswechsel auffiel. Das in diesem amtlichen Paß bescheinigte Leben hatte Knulp sich angedichtet und mit hundert Künsten diese Scheinexistenz am oft bedrohten Faden weiter geführt, während er in Wirklichkeit zwar wenig Verbotenes tat, aber als arbeitsloser Landstreicher ein ungesetzliches und mißachtetes Dasein hatte. Freilich wäre es ihm kaum geglückt, seine hübsche Dichtung so ungestört fortzusetzen, wären ihm nicht alle Gendarmen wohlgesinnt gewesen. Sie ließen den heiteren, unterhaltsamen Menschen, dessen geistige Überlegenheit und gelegentlichen Ernst sie achteten, nach Möglichkeit in Ruhe. Er war beinahe ohne Vorstrafen, es war ihm kein Diebstahl und kein Bettel nachgewiesen, angesehene Freunde hatte er auch überall; so ließ man ihn passieren, wie etwa in einem wohlgeordneten Hauswesen eine hübsche Katze mitleben mag, die jeder nachsichtig zu dulden meint, während sie unbekümmert zwischen allen den fleißigen und bedrückten Menschen ein sorgenlos elegantes, prachtvoll herrenmäßiges und arbeitsloses Dasein verlebt.

 

»Aber jetzt wäret ihr schon lang im Bett, wenn ich nicht gekommen wäre,« rief Knulp, indem er seine Papiere wieder an sich nahm. Er stand auf und machte der Hausfrau ein Kompliment.

»Komm, Rothfuß, und zeig mir, wo mein Bett steht.«

Der Meister begleitete ihn mit Licht die schmale Stiege zum Dachstock hinauf und in die Gesellenkammer. Da stand eine leere eiserne Bettstatt an der Wand und daneben eine hölzerne, die mit Bettzeug versehen war.

»Willst eine Bettflasche?« fragte der Hauswirt väterlich.

»Das fehlt gerade noch,« lachte Knulp. »Der Herr Meister, der braucht freilich keine, wenn er so ein hübsches kleines Frauelein hat.«

»Ja, siehst du,« meinte Rothfuß ganz eifrig, »da steigst du jetzt in dein kaltes Gesellenbett in der Dachkammer, und manchmal noch in ein schlechteres, und manchmal hast du gar keins und mußt im Heu schlafen. Aber unsereiner hat Haus und Geschäft und eine nette Frau. Schau, du könntest doch schon lang Meister sein und weiter als ich, wenn du bloß gewollt hättest.«

Knulp hatte unterdessen in aller Eile die Kleider abgelegt und sich fröstelnd in das kühle Bettzeug verkrochen.

»Weißt du noch viel?« fragte er. »Ich liege gut und kann zuhören.«

»Es ist mir Ernst gewesen, Knulp.«

»Mir auch, Rothfuß. Du mußt aber nicht meinen, das Heiraten sei eine Erfindung von dir. Also gut Nacht auch!«

Den anderen Tag blieb Knulp im Bette liegen. Er fühlte sich noch etwas schwach, und das Wetter war so, daß er doch das Haus kaum verlassen hätte. Den Gerber, der sich vormittags bei ihm einfand, bat er, er möge ihn ruhig liegen lassen und ihm nur am Mittag einen Teller Suppe heraufbringen.

So lag er in der dämmerigen Dachkammer den ganzen Tag still und zufrieden, fühlte Kälte und Wanderbeschwerden entschwinden und gab sich mit Lust dem Wohlgefühl warmer Geborgenheit hin. Er hörte dem fleißigen Klopfen des Regens auf dem Dache zu und dem Wind, der unruhig, weich und föhnig in launischen Stößen ging. Dazwischen schlief er halbe Stunden oder las, solange es licht genug war, in seiner Wanderbibliothek; die bestand aus Blättern, auf welche er sich Gedichte und Sprüche abgeschrieben hatte, und aus einem kleinen Bündel von Zeitungsausschnitten. Auch einige Bilder waren dazwischen, die er in Wochenblättern gefunden und ausgeschnitten hatte. Zwei davon waren seine Lieblinge und sahen vom öfteren Hervorziehen schon brüchig und zerfasert aus. Das eine stellte die Schauspielerin Eleonora Duse vor, das andere zeigte ein Segelschiff bei starkem Winde auf hoher See. Für den Norden und für das Meer hatte Knulp seit den Knabenjahren eine starke Vorliebe, und mehrmals hatte er sich dahin auf den Weg gemacht, war auch einmal bis ins Braunschweigische gekommen. Aber diesen Zugvogel, der immer unterwegs war und an keinem Orte lang verweilen konnte, hatte eine merkwürdige Bangigkeit und Heimatliebe immer wieder in raschen Märschen nach Süddeutschland zurückgetrieben. Es mag auch sein, daß ihm die Sorglosigkeit verlorenging, wenn er in Gegenden mit fremder Mundart und Sitte kam, wo niemand ihn kannte und wo es ihm schwer fiel, sein legendenhaftes Wanderbüchlein in Ordnung zu halten.

Um die Mittagszeit brachte der Gerber Suppe und Brot herauf. Er trat leise auf und sprach in einem erschrockenen Flüsterton, da er Knulp für krank hielt und selber seit der Zeit seiner Kinderkrankheiten niemals am hellen Tage im Bett gelegen war. Knulp, der sich sehr wohl fühlte, gab sich keine Mühe mit Erklärungen und versicherte nur, er werde morgen wieder aufstehen und gesund sein.

Im späteren Nachmittag klopfte es an der Kammertür, und da Knulp im Halbschlummer lag und keine Antwort gab, trat die Meistersfrau vorsichtig herein und stellte statt des leeren Suppentellers eine Schale Milchkaffee auf die Stabelle am Bett.

Knulp, der sie wohl hatte hereinkommen hören, blieb aus Müdigkeit oder Laune mit geschlossenen Augen liegen und ließ nichts davon merken, daß er wach sei. Die Meisterin, mit dem leeren Teller in der Hand, warf einen Blick auf den Schläfer, dessen Kopf auf dem halb vom blaugewürfelten Hemdärmel bedeckten Arme lag. Und da ihr die Feinheit des dunklen Haares und die fast kindliche Schönheit des sorglosen Gesichts auffiel, blieb sie eine Weile stehen und sah sich den hübschen Burschen an, von dem ihr der Meister viel Wunderliches erzählt hatte. Sie sah über den geschlossenen Augen die dichten Brauen auf der zarten, hellen Stirn und die schmalen, doch braunen Wangen, den feinen, hellroten Mund und den schlanken, lichten Hals, und alles gefiel ihr wohl, und sie dachte an die Zeit, da sie als Kellnerin im Ochsen je und je in Frühlingslaunen sich von einem solchen fremden, hübschen Buben hatte liebhaben lassen.

Indem sie sich, träumerisch und leicht erregt, ein wenig vorbeugte, um das ganze Gesicht zu sehen, glitt ihr der zinnerne Löffel vom Teller und fiel auf den Boden, worüber sie in der Stille und befangenen Heimlichkeit des Ortes heftig erschrak.

Nun schlug Knulp die Augen auf, langsam und unwissend, als habe er tief geschlafen. Er drehte den Kopf herüber, hielt einen Augenblick die Hand über die Augen und sagte mit Lächeln: »Eia, da ist ja die Frau Meisterin! Und hat mir einen Kaffee gebracht! Ein guter, warmer Kaffee, das ist gerade das, wovon ich in diesem Augenblick geträumt habe. Also schönen Dank, Frau Rothfuß! Was ist es denn auch für Zeit?«

»Viere,« sagte sie schnell. »Jetzt trinken Sie nur, solang er warm ist, nachher hol ich das Geschirr dann wieder.«

Damit lief sie hinaus, als habe sie keine Minute übrig. Knulp sah ihr nach und hörte zu, wie sie in Eile die Treppe hinab verschwand. Er machte nachdenkliche Augen und schüttelte mehrmals den Kopf, dann stieß er einen leisen, vogelartigen Pfiff aus und wendete sich zu seinem Kaffee.

Eine Stunde nach dem Dunkelwerden aber wurde es ihm langweilig, er fühlte sich wohl und prächtig ausgeruht und hatte Lust, wieder ein wenig unter Leute zu kommen. Behaglich stand er auf und zog sich an, schlich in der tiefen Dämmerung leise wie ein Marder die Treppe hinab und schlüpfte unbemerkt aus dem Hause. Der Wind blies noch immer schwer und feucht aus Südwesten, aber es regnete nicht mehr, und am Himmel standen große Flecken licht und klar.

Schnuppernd flanierte Knulp durch die abendlichen Gassen und über den verödeten Marktplatz, stellte sich dann im offenen Tor einer Hufschmiede auf, sah den Lehrlingen beim Aufräumen zu, fing ein Gespräch mit den Gesellen an und hielt die kühlen Hände über die dunkelrot verglosende Esse. Dabei fragte er obenhin nach manchen Bekannten in der Stadt, erkundigte sich über Todesfälle und Heiraten und ließ sich von dem Hufschmied für einen Kollegen ansehen, denn es waren ihm die Sprachen und Erkennungszeichen aller Handwerke geläufig.

Während dieser Zeit setzte die Frau Rothfuß ihre Abendsuppe an, klimperte mit den Eisenringen am kleinen Herd und schälte Kartoffeln, und als das getan war und die Suppe sicher auf schwachem Feuer stand, ging sie mit der Küchenlampe ins Wohnzimmer hinüber und stellte sich vor dem Spiegel auf. Sie fand darin, was sie suchte: ein volles, frischwangiges Gesicht mit bläulich-grauen Augen, und was ihr am Haar zu bessern schien, brachte sie schnell mit geschickten Fingern in Ordnung. Darauf strich sie die frischgewaschenen Hände noch einmal an der Schürze ab, nahm das Lämpchen zur Hand und stieg rasch ins Dach hinauf.

Sachte klopfte sie an die Türe der Gesellenkammer, und nochmals etwas lauter, und da keine Antwort kam, stellte sie die Leuchte an den Boden und machte mit beiden Händen vorsichtig die Tür auf, daß sie nicht knarre. Auf den Zehen ging sie hinein, tat einen Schritt und ertastete den Stuhl bei der Bettstatt.

»Schlafen Sie?« fragte sie mit halber Stimme. Und noch einmal: »Schlafen Sie? Ich will nur das Geschirr abräumen.«

Da alles ruhig blieb und nicht einmal ein Atemzug zu hören war, streckte sie die Hand gegen das Bett hin aus, zog sie aber in einem Gefühl von Unheimlichkeit wieder zurück und lief nach der Lampe. Als sie nun die Kammer leer und das Bett mit Sorgfalt zugerichtet, auch Kissen und Federdecke tadellos aufgeschüttelt fand, lief sie verwirrt, zwischen Angst und Enttäuschung, in ihre Küche zurück.

Eine halbe Stunde später, als der Gerber zum Nachtessen heraufgekommen und der Tisch gedeckt war, fing die Frau schon an, sich Gedanken zu machen, fand aber nicht den Mut, dem Gerber von ihrem Besuch in der Dachkammer zu erzählen. Da ging unten das Tor, ein leichter Schritt klang durch den gepflasterten Gang und die gebogene Stiege herauf, und Knulp stand da, nahm den hübschen braunen Filz vom Kopf und wünschte guten Abend.

»Ja, wo kommst denn du her?« rief der Meister erstaunt. »Ist krank und läuft dabei in der Nacht herum! Du kannst dir ja den Tod holen.«

»Ganz richtig,« sagte Knulp. »Grüß Gott, Frau Rothfuß, ich komme ja gerade recht. Ihre gute Suppe habe ich schon vom Marktplatz her gerochen, die wird mir den Tod schon vertreiben.«

Man setzte sich zum Essen. Der Hausherr war gesprächig und rühmte sich seiner Häuslichkeit und seines Meisterstandes. Er neckte den Gast und redete ihm dann wieder ernstlich zu, er solle doch das ewige Wandern und Nichtstun einmal aufgeben. Knulp hörte zu und gab wenig Antwort, und die Meisterin sagte kein Wort. Sie ärgerte sich über ihren Mann, der ihr neben dem manierlichen und hübschen Knulp grob erschien, und gab dem Gast ihre gute Meinung durch die Aufmerksamkeit ihrer Bewirtung kund. Als es zehn Uhr schlug, sagte Knulp gute Nacht und bat sich des Gerbers Rasiermesser aus.

»Sauber bist du,« rühmte Rothfuß, indem er das Messer hergab. »Kaum kratzt’s dich am Kinn, so muß der Bart herunter. Also gut Nacht, und gute Besserung!«

Ehe Knulp in seine Kammer trat, lehnte er sich in das kleine Fensterchen oben an der Bodentreppe, um noch einen Augenblick nach Wetter und Nachbarschaft auszuschauen. Es war beinahe windstill, und zwischen den Dächern stand ein schwarzes Stück Himmel, in welchem klare, feucht schimmernde Sterne brannten.

Eben wollte er den Kopf hereinziehen und das Fenster schließen, da wurde ein kleines Fenster ihm gegenüber im Nachbarhause plötzlich hell. Er sah eine kleine niedere Kammer, der seinen ganz ähnlich, durch deren Türe eine junge Dienstmagd hereintrat, eine Kerze im messingnen Leuchter in der Hand und in der Linken einen großen Wasserkrug, den sie am Boden abstellte. Dann leuchtete sie mit der Kerze über ihr schmales Mägdebett hin, das bescheiden und säuberlich mit einer groben roten Wollendecke zum Schlafen einlud. Sie stellte den Leuchter weg, man sah nicht wohin, und setzte sich auf eine niedere grüngemalte Kofferkiste, wie alle Dienstmägde eine haben.

Knulp hatte sofort, als die unerwartete Szene drüben zu spielen begann, sein eigenes Licht ausgeblasen, um nicht gesehen zu werden, und stand nun still und lauernd aus seiner Luke gebeugt.

Die junge Magd drüben war von der Art, die ihm gefiel. Sie war vielleicht achtzehn oder neunzehn Jahre, nicht eben groß gewachsen, und hatte ein bräunliches gutes Gesicht mit einem kleinen Mund, mit braunen Augen und dunklem dichten Haar. Dies stille angenehme Gesicht sah gar nicht fröhlich aus, und die ganze Person saß auf ihrer harten grünen Kiste ziemlich bekümmert und traurig da, so daß Knulp, der die Welt und auch die Mädchen kannte, sich wohl denken konnte, das junge Ding sei noch nicht lange mit seiner Kiste in der Fremde und habe Heimweh. Sie ließ die mageren braunen Hände im Schoße ruhen und suchte einen flüchtigen Trost darin, vor dem Schlafengehen noch eine Weile auf ihrem kleinen Eigentum zu sitzen und an die heimatliche Wohnstube zu denken.

Ebenso regungslos wie sie in ihrer Kammer verharrte Knulp in seinem Fensterloch und blickte mit wunderlicher Spannung in das kleine fremde Menschenleben hinüber, das so harmlos seinen hübschen Kummer im Kerzenlicht hütete und an keinen Zuschauer dachte. Er sah die braunen, gutmütigen Augen bald unverborgen herüber dunkeln, bald wieder von langen Wimpern bedeckt und auf den braunen, kindlichen Wangen das rote Licht leise spielen, er sah den mageren jungen Händen zu, wie sie müde waren und die kleine letzte Arbeit des Entkleidens noch ein wenig hinausschoben, während sie auf dem dunkelblauen baumwollenen Kleide ruhten.

Endlich richtete das Jüngferlein mit einem Seufzer den Kopf mit den schweren, in ein Nest aufgesteckten Zöpfen empor, blickte gedankenvoll, doch nicht minder bekümmert ins Leere und bückte sich dann tief, um ihre Schuhnestel aufzulösen.

Knulp wäre ungern schon jetzt weggegangen, doch schien es ihm unrecht und fast grausam, dem armen Kinde beim Auskleiden zuzuschauen. Gern hätte er sie angerufen, ein wenig mit ihr geschwatzt und sie mit einem Scherzwort ein wenig fröhlicher zu Bett gehen lassen. Aber er fürchtete, sie würde erschrecken und alsbald ihr Licht ausblasen, wenn er hinüber riefe.

 

Statt dessen begann er nun eine seiner vielen kleinen Künste zu üben. Er hob an, unendlich fein und zart zu pfeifen, wie aus der Ferne her, und er pfiff das Lied »In einem kühlen Grunde, da geht ein Mühlenrad«, und es gelang ihm, es so fein und zart zu machen, daß das Mädchen eine ganze Weile zuhörte, ohne recht zu wissen, was es sei, und erst beim dritten Vers sich langsam aufrichtete, aufstand und horchend an ihr Fenster trat.

Sie streckte den Kopf heraus und lauschte, indes Knulp leise weiterpfiff. Sie wiegte den Kopf ein paar Takte lang der Melodie nach, schaute dann plötzlich auf und erkannte, woher die Musik komme.

»Ist jemand da drüben?« fragte sie halblaut.

»Nur ein Gerbergesell,« gab es ebenso leise Antwort. »Ich will die Jungfer nicht im Schlafen stören. Ich habe nur ein bißchen das Heimweh gehabt und mir noch ein Lied gepfiffen. Ich kann aber auch lustige. – Bist du etwa auch fremd hier, Mädele?«

»Ich bin vom Schwarzwald.«

»Ja, vom Schwarzwald! Und ich auch, und da sind wir Landsleute. Wie gefällt’s dir in Lächstetten? Mir gar nicht.«

»O, ich kann nichts sagen, ich bin erst acht Tage hier. Aber es gefällt mir auch nicht recht. Seid Ihr schon länger da?«

»Nein, drei Tage. Aber Landsleute sagen du zu einander, gelt?«

»Nein, ich kann nicht, wir kennen einander ja gar nicht.«

»Was nicht ist, kann werden. Berg und Tal kommen nicht zueinander, aber die Leute. Wo ist denn Euer Ort, Fräulein?«

»Das kennt Ihr doch nicht.«

»Wer weiß? Oder ist’s ein Geheimnis?«

»Achthausen. Es ist bloß ein Weiler.«

»Aber ein schöner, gelt? Vorn am Eck steht eine Kapelle, und es ist auch eine Mühle da, oder eine Sägerei, und dort haben sie einen großen gelben Bernhardinerhund. Stimmt’s oder stimmt’s nicht?«

»Der Bello, herrje!«

Da sie sah, er kenne ihre Heimat und sei wirklich dort gewesen, fiel ein großes Teil Mißtrauen und Bedrücktheit von ihr ab, und sie wurde ganz eifrig.

»Kennet Ihr auch den Andres Flick?« fragte sie rasch.

»Nein, ich kenne niemand dort. Aber gelt, das ist Euer Vater?«

»Ja.«

»So, so, also dann seid Ihr eine Jungfer Flick, und wenn ich jetzt noch den Vornamen dazu weiß, dann kann ich Euch eine Karte schreiben, wenn ich wieder einmal durch Achthausen komme.«

»Wollet Ihr denn schon wieder fort?«

»Nein, ich will nicht, aber ich will Euern Namen wissen, Jungfer Flick.«

»Ach was, ich weiß ja Euren auch nicht.«

»Das tut mir leid, aber es läßt sich ändern. Ich heiße Karl Eberhard, und wenn wir uns einmal am Tag wieder begegnen, dann wisset Ihr, wie Ihr mich anrufen müßt, und wie muß ich dann zu Euch sagen?«

»Barbara.«

»So ist’s recht und danke schön. Er ist aber schwer zum Aussprechen, Euer Name, und ich möchte fast eine Wette machen, daß man Euch daheim Bärbele gerufen hat.«

»Das hat man auch. Wenn Ihr doch alles schon wisset, warum fraget Ihr dann so viel? Aber jetzt müssen wir Feierabend machen. Gut Nacht, Gerber.«

»Gut Nacht, Jungfer Bärbele. Schlafet auch gut, und weil Ihr’s seid, will ich jetzt noch eins pfeifen. Laufet nicht fort, es kostet nichts.«

Und alsbald setzte er ein und pfiff einen kunstvollen jodlerartigen Satz, mit Doppeltönen und Trillern, daß es funkelte wie eine Tanzmusik. Sie hörte mit Erstaunen dieser Kunstfertigkeit zu, und als es stille ward, zog sie leise den Fensterladen herein und machte ihn fest, während Knulp ohne Licht in seine Kammer fand.

Am Morgen stand Knulp diesmal zu guter Stunde auf und nahm des Gerbers Rasiermesser in Gebrauch. Der Gerber trug aber schon seit Jahren einen Vollbart, und das Messer war so verwahrlost, daß Knulp es wohl eine halbe Stunde lang über seinem Hosenträger abziehen mußte, ehe das Barbieren gelang. Als er fertig war, zog er den Rock an, nahm die Stiefel in die Hand und stieg in die Küche hinab, wo es warm war und schon nach Kaffee roch.

Er bat die Meistersfrau um Bürste und Wichse zum Stiefelputzen

»Ach was!« rief sie, »das ist kein Männergeschäft. Lassen Sie mich das machen.«

Allein das gab er nicht zu, und als sie endlich mit ungeschicktem Lachen ihr Wichszeug vor ihn hinstellte, tat er die Arbeit gründlich, reinlich und dabei spielend, als ein Mann, der nur gelegentlich und nach Laune, dann aber mit Sorgfalt und Freude eine Handarbeit verrichtet.

»Das lass’ ich mir gefallen,« rühmte die Frau und sah ihn an. »Alles blank, wie wenn Sie grad zum Schatz gehen wollten.«

»O, das tät’ ich auch am liebsten.«

»Ich glaub’s. Sie haben gewiß einen schönen.« Sie lachte wieder zudringlich. »Vielleicht sogar mehr als einen?«

»Ei, das wäre nicht schön,« tadelte Knulp munter. »Ich kann Ihnen auch ein Bild von ihr zeigen.«

Begierig trat sie heran, während er sein Wachstuchmäpplein aus der Brusttasche zog und das Bildnis der Duse hervorsuchte. Interessiert betrachtete sie das Blatt.

»Die ist sehr fein,« begann sie vorsichtig zu loben, »das ist ja fast eine rechte Dame. Nur freilich, mager sieht sie aus. Ist sie denn auch gesund?«

»Soviel ich weiß, jawohl. So, und jetzt wollen wir nach dem Alten sehen, man hört ihn in der Stube.«

Er ging hinüber und begrüßte den Gerber. Die Wohnstube war gefegt und sah mit dem hellen Getäfel, mit der Uhr, dem Spiegel und den Photographien an der Wand freundlich und heimelig aus. So eine saubere Stube, dachte Knulp, ist im Winter nicht übel, aber darum zu heiraten, verlohnt doch nicht recht. Er hatte an dem Wohlgefallen, das die Meisterin ihm zeigte, keine Freude.

Nachdem der Milchkaffee getrunken war, begleitete er den Meister Rothfuß nach dem Hof und Schuppen und ließ sich die ganze Gerberei zeigen. Er kannte fast alle Handwerke und stellte so sachverständige Fragen, daß sein Freund ganz erstaunt war.