Hannöversche Geschichten

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Hannöversche Geschichten
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Hermann Gutmannt

Von Liebe, Wurst und

Lüttje Lagen

2. Auflage 2020

Titelillustration: Peter Fischer

© Edition Temmen e.K.

28209 Bremen – Hohenlohestr. 21

Tel. 0421-34843-0 – Fax 0421-348094

info@edition-temmen.de

www.edition-temmen.de

Alle Rechte vorbehalten

Ebook ISBN 978-3-8378-8046-5

Print ISBN 978-3-8378-1110-0

Inhalt

Hannover trat bescheiden und durch einen Hintereingang in die Weltgeschichte

Der Hannoverschmann trank den Hamburger Jung und das Bremer Kind unter den Tisch

Mittelalterliche Attraktionen für Gläubige und Touristen

Wie die Marktkirche zu ihrer Turmspitze kam

Der fliegende Chorknabe

Was Eulenspiegel von einem »Haus der Reinheit« hielt

Jaspar Hanebuth gestand 19 Morde und wurde vor dem Steintor gerädert und hingerichtet

Es gab rund um Hannover nahezu 1000 Gärten, aber nur einen Großen Garten

Die Affäre Königsmarck – eine romantische Liebesgeschichte mit unglücklichem Ausgang

Zum Schützenfest gehörten allerlei Vergnüglichkeiten, besonders aber stand das Pfahlklettern auf dem Programm

Der Universalgelehrte Leibniz beschwerte sich über das Leben am Hofe der Welfen

Der Weg der Welfen von Altorf in Schwaben über Hannover bis hin zum Schloss Marienburg

Friedrich der Große fand im hannover­schen Modearzt von Zimmermann seinen Meister

Wir lustigen Hannoveraner – und was es mit der Lüttjen Lage auf sich hat

In Hannover las Eckermann zum ersten Male Goethe und vergaß, Geld zu verdienen, um Fräulein Bertram heiraten zu können

Ernst August ließ den Schlüssel von Hannover in der Rocktasche verschwinden

Mittags gab’s bei Ernst August zwei Hammelkoteletts und zwei Schnitten Roastbeef mit Cumberland-Sauce

Ernst August streichelte den Nacken seiner Tischdame und löste damit beinahe einen diplomatischen Zwischenfall aus

Ernst August und die medizinische Wissenschaft

Heinrich Heines Großvater war, wie man damals sagte, »Plünnhöker« in Hannover

Psalter und Harfe – eine Sammlung christlicher Lieder zur häuslichen Erbauung

Beinahe wäre Otto v. Bismarck Minister unter König Georg V. geworden

»Ich halte Königlicher Hoheit Ihren königlichen Mors ganz fest!«

Wie der Student Wilhelm Busch in Hannover die Revolution erlebte

Als es um die Wurst ging, verlor der Kaufmann Gebbers eine Runde Lüttje Lage

Ein Reitpferd ging mit Schinken-Gebbers durch – da hatte er vom Reiten genug

51 hannoversche Taschendiebe waren auf dem Weg nach Bremen

Reiten kann ein jedermann im Hippodrom von Haberjan – nur mit einigen Leutnants des Militär-Reit-Instituts in Hannover gab es Schwierigkeiten

Warte, warte nur ein Weilchen, bald kommt Haarmann auch zu dir

Der Schutzmann Heinrich hieß für ein paar Jahre Wilhelm

Ein Hauptmann wollte die Hindenburg-Brücke bis zum letzten Blutstropfen verteidigen

Die Hannoveraner können sich glücklich schätzen – denn sie haben die alte Gottliebsche

Quellen

Hannover trat bescheiden und durch einen Hintereingang in die Weltgeschichte

Es ist gute hannoversche Art, bescheiden im Hintergrund zu bleiben. Der Hannoveraner liebt das »Understatement«, grad so wie seine englischen Verwandten. Und was für den Hannoveraner gilt, das gilt auch für die Stadt Hannover.

Die Stadt an der Leine hat sich nie vorgedrängelt. Und doch hat sie es im 21. Jahrhundert geschafft, eine der wichtigsten Städte in der Bundesrepublik Deutschland zu werden. Denn man muss sich das mal genüsslich vor Augen führen:

Hannover stellte mit dem bis dahin als Ministerpräsident des Landes Niedersachsen amtierenden Christian Wulff, geboren am 19. Juni 1959 in Osnabrück, im Jahre 2010 den Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland. Er war nach Theodor Heuss, dem ersten Bundespräsidenten, der zehnte Amtsinhaber.

Hannover ist und bleibt die grünste deutsche Großstadt, wo sogar das Bundesligastadion, wie die Hannoversche Allgemeine Zeitung Mitte des Jahres 2011 schrieb, im »Grün versinkt«. Jeder im Land gönnt Hannover das viele Grün. Nur die Hamburger nicht. Die nämlich behaupten, dass Hamburg die grünste Stadt Deutschlands sei, was aber nur in Hamburg bekannt ist.

Und um die Sache weiterzuspinnen: Das hannoversche Schützenfest ist das größte Schützenfest der Welt. Aber das war es schon im 20. Jahrhundert, als Viktoria Luise, die einzige Tochter Kaiser Wilhelms II., in ihrer Eigenschaft als gewesene Herzogin zu Braunschweig-Lüneburg vom Fenster eines gegenüber dem Hauptbahnhof gelegenen Hotels aus die Parade der Schützen abnahm. Das heißt, der Schützenumzug zog an dem Fenster vorbei, in dem die Fürstin saß. Sie ist im Jahre 1980 hochbetagt in Hannover gestorben.

Und wie sich Hannover über die Jahrhunderte, ohne Aufsehen zu erregen, langsam nach oben gerobbt­ hat, so fing Hannover auch an: als Randnotiz. Der Ort an der Leine wurde im Jahre 1159 in einem Reisebericht des Abtes Nicolaus von Thverá erwähnt. Nicolaus war von Island aus ins Heilige Land gezogen. Und gegen alle pessimistischen Vor­aussagen – der Weg war weit und überall warteten Gefahren – war er auch wieder zurück nach Island gekommen.

Auf dem Hinweg hat er wahrscheinlich Quartier in Hannover genommen. Denn nur so ist es zu erklären, dass er den Ort, den er Hanabruinborgar nannte, erwähnt hat. Aber er hat ihn eben auch nur erwähnt. Er hätte uns wenigstens hinterlassen können, ob er in Hannover gut geschlafen oder ob er sehr gut gegessen hat – immerhin, Brägenwurst mit Braunkohl wird es auch damals schon gegeben haben, eine Köstlichkeit, die einer rühmenden Erwähnung wert ist.

Schon neun Jahre vorher, 1150, wurde Hannover, gelegen an der Kreuzung von Süddeutschland nach Lüneburg und Lübeck, von Goslar über Hildesheim nach Bremen, beiläufig in Erfurt erwähnt. Dort nämlich wurde auf der Synode des Erzbistums Mainz vorgeschlagen, den Hildesheimer Bischof Bernward heiligzusprechen.

Bernward war in den Jahren 993 bis 1022 höchster Repräsentant des Hildesheimer Bistums, nachdem er sich vorher als Erzieher und Hofkaplan des Kaisers Otto III. Verdienste erworben hatte. Bernward war Förderer der bildenden Künste und der Baukunst. Außerdem stritt er sich bis zu seinem Tode mit dem Erzbischof von Mainz um das Stift Gandersheim.

Das alles war allerdings für die Synodalen kein Grund, ihn heiligzusprechen. Im Gegenteil, die Mainzer wünschten ihn in die Hölle. Da ist er aber – wie es scheint – nicht angekommen. Denn nach seinem Tode wurde er durch Berichte über Wunder, die sich an seinem Grab ereignet hatten, richtig populär. So soll unter anderem ein blindes Mädchen aus Hannover am Grabe des Bischofs wieder sehend geworden sein.

Die Mainzer Synodalen legten die Heiligsprechung des Bernward auf Wiedervorlage. Die Akte wurde vergessen. Erst im Jahre 1193 beförderte ihn der Papst Cölestin III. in den Heiligenstand.

Dem Mädchen aus Hannover konnte das alles egal sein. Es konnte wieder sehen, und das war die Hauptsache. Durch die endlosen und zunächst fruchtlosen Diskussionen über die Heiligsprechung des Hildesheimer Bischofs wurde Hannover so oft genannt, dass sich der Name in den Köpfen einiger Leute festsetzte.

Was vorher war, damals, als es Hannover noch gar nicht gab, wissen wir nicht so ganz genau. Wahrscheinlich waren es Fischer und Jäger, die sich zu beiden Seiten der Leine niedergelassen hatten. Die Jäger haben für die Nachwelt Faustkeile und messerartige Klingen hinterlassen. Später kamen Ackerbauern hinzu, die sich das Land entweder mit Gewalt oder im friedlichen Einvernehmen angeeignet haben.

 

Die Idee jedenfalls, auf diesem Landstrich Ackerbau zu betreiben, war gar nicht so übel. Das hohe Ufer (up den hoen overe – honovere) schützte die Menschen vor Überschwemmungen. Dichte Wälder und unzugängliche Moore boten ihnen bei feindlichen Überfällen gute Verstecke.

Und so wurde der Grundstein gelegt für die spätere Landeshauptstadt Hannover.

Der Hannoverschmann trank den Hamburger Jung und das Bremer Kind unter den Tisch

Vier Handwerksburschen, die auf der Wanderschaft waren, trafen sich in einer Herberge, wo sie – nach einem ordentlichen Abendesssen – übernachteten, natürlich nicht in Einzelzimmern. Das war damals nicht üblich. Sie schliefen alle in einem Zimmer und unter einer Bettdecke.

Als sie am nächsten Morgen ihres Weges ziehen wollten, jeder in eine andere Richtung, vermisste der eine von ihnen, er kam aus dem Schwäbischen, seine Pfeife. Und wie das so ist, er bezichtigte einen der drei anderen, sie gestohlen zu haben. Aber wer sollte der Spitzbube gewesen sein?

Der eine stammte aus Bremen, der andere aus Hamburg, der dritte aus Hannover. Alle drei wiesen den Verdacht weit von sich.

Es kam zu einer Auseinandersetzung, die beinahe zu Tätlichkeiten geführt hätte, wenn nicht der Herbergsvater eingeschritten wäre.

»Nun werdet doch mal vernünftig«, sagte er und schlug vor, zu einem Richter zu gehen. Der werde schon Recht sprechen.

Damit waren alle einverstanden.

Sie gingen also zum Richter. Der setzte seine Perücke auf, legte sein großes Gesetzbuch zurecht und fragte jeden der drei Beschuldigten nach seinem Namen und nach seinem Heimatort.

Der aus Bremen nannte die typische Herkunftsbezeichnung seines Volksstammes. Er sagte: »Wat ick bün? Ick bün’n Bremer Kind.«

Der Hamburger hielt sich an die volksläufige Benennung der Hamburger. Er sagte: »Ick bün’n Hamborger Jung.«

Der aus Hannover warf sich in die Brust und sagte, wie er es gewohnt war: »Ick bün’n Hannoverschmann.«

»So, so«, sagte er Richter. »Ein Bremer Kind, ein Hamburger Jung und ein – ei, ei – ein Hannoverschmann!«

Er wiegte den Kopf, dachte lange nach und entschied: »Ein Kind raucht nicht. Ein Junge sollte nicht rauchen. So kann also nur ein Mann die Pfeife gestohlen haben.«

Wir wissen nicht, wie die Geschichte ausgegangen ist. Ob der Richter wirklich recht gehabt und ob der Schwabe seine Pfeife vom Hannoverschmann zurückbekommen hat. Zweifel sind angebracht. Denn wir dürfen wohl davon ausgehen, dass der Hannoverschmann, als gestandener Mann, seine eigene Pfeife hatte. Warum sollte er dann eine Pfeife stehlen?

Bei den beiden anderen, bei dem Hamburger Jung und dem Bremer Kind, sieht das schon – wenn wir mal ehrlich sind – anders aus.

Aber wir wollen die häufig katzenfreundliche Nachbarschaft zwischen den drei Städten nicht unnütz belas­ten. Wir gehen einfach mal davon aus, dass der Schwabe kurz nach Verlassen der Richterstube seine Pfeife in der hinteren linken Hosentasche wiedergefunden hat. Normalerweise hatte er sie hinten rechts stecken.

Daraufhin machten sich die vier gemeinsam auf den Weg, der sie in eine kleine Kneipe führte. Dort beschlossen sie, den klugen Richterspruch zu begießen.

Der Erste, der einen ausgab, war der Hannoverschmann. Er gab eine Lüttje Lage aus. Den anderen gefiel das. Eine Runde folgte der anderen. Zuerst fiel der Schwabe unter den Tisch, er war ja nur Wein gewohnt, dann das Bremer Kind, danach der Hamburger Jung.

Da stieß der Hannoverschmann nur noch mit sich selber an.

Mittelalterliche Attraktionen für Gläubige und Touristen

Die Bedeutung einer Stadt wurde im Mittelalter unter anderem auch an der Zahl der Reliquien gemessen, die sie den Gläubigen und – wenn man so will – auch den gläubigen Touristen, anders als gläubig ging es ja im Mittelalter gar nicht, in Kirchen und Klöstern zeigen konnte.

Nun war Hannover nicht unbedingt eine Stadt, in der die Reliquien tonnenweise abgeladen wurden. Es gab keinen Bischof in der Stadt, den man hätte mit Reliquien beglücken können. Die nächsten Bischöfe saßen in Minden und Hildesheim.

Aber man musste ja auch an das Volk denken. Denn das Volk besuchte die Reliquien der Heiligen und verharrte vor ihnen im Gebet. Jeder erhoffte sich von diesen Gebeten eine besondere Wirksamkeit.

Die allein selig machende Kirche ließ die bischofslosen Hannoveraner aber nicht im Regen stehen. Die Stadt hatte einen Lobbyisten in Köln. Es war ein gewisser Gerhard, Kanoniker in der Rheinmetropole. Der ließ im Jahre 1289 durch einen Mönch namens Johannes Reliquien der 11.000 Jungfrauen nach Hannover bringen. Da die Reliquien der 11.000 Jungfrauen plus die der heiligen Ursula in Köln lagerten, konnte man dort aus dem Vollen schöpfen und großzügig die eine oder andere Reliquie abgeben.

Die Geschichte mit den 11.000 Jungfrauen geht auf eine Legende zurück, in der Ursula, die christliche Tochter eines britischen Königs, die Hauptrolle spielt. Ursula sollte einen heidnischen Fürsten heiraten, was sie aber nicht wollte. Sie begab sich mit 11.000 Gefährtinnen zu Schiff nach Rom.

Auf der Rückreise gerieten die Mädchen nach Köln, das von den Hunnen belagert wurde. Und was man von den Hunnen auch nicht anders erwartet hatte: Sie fielen über die Königstochter und die 11.000 Jungfrauen her, die daraufhin den Märtyrertod starben.

Eine geschichtliche Grundlage dieser Legende wird in Köln durch eine der heiligen Ursula geweihte Kirche bezeugt, die im 4. Jahrhundert von Clematius, einem Römer von senatorischem Rang, aus eigenen Mitteln gebaut worden war. Die Zahl 11.000 allerdings geht vermutlich auf einen Lesefehler zurück. Es soll wohl elf heißen.

Doch zurück nach Hannover. Eine besondere Attraktion konnte das Franziskanerkloster der Stadt bieten. Der Franziskanerorden hatte im Jahre 1291 an der Leinstraße eine Niederlassung gegründet. Das Kloster, das mit der Reformation im Jahre 1536 aufgelöst wurde, war bei den Hannoveranern sehr beliebt, und das sicherlich nicht nur wegen der Reliquien.

Die für Hannover zuständigen Stadtpfarrer allerdings mochten die Mönche gar nicht leiden, was wiederum verständlich war. Denn der hannoversche Franziskanermönch Johann Kannengeter zog in seinen Predigten in Hildesheim gegen die »Unzucht« der Geistlichen zu Felde, was vom Volke gern gehört wurde, von den Geistlichen nicht. Aber das ist ein anderes Thema und hat nichts mit Reliquien zu tun.

Tatsächlich besaß das Franziskanerkloster in Hannover Reliquien von zwei der unschuldigen Kinder, die auf Geheiß des Königs Herodes des Großen (um 73 bis 4 v. Chr.) ermordet worden sein sollen. Es wird erzählt, ein Franziskaner aus Portugal habe die Reliquien nach Hannover mitgebracht.

Nach der Reformation hielt es die Franziskaner nicht mehr in der Stadt an der Leine. Sie waren auch nicht mehr gern gesehen. Dennoch ließ Moritz vom Sode, Kanoniker der Stiftskirche S. Crucis zu Hildesheim und Propst des Klosters Maria Magdalena, im Jahre 1587 beim ehemaligen Franziskanerkloster in Hannover ein Hospital erbauen, das Platz für 18 bedürftige Leute bot, je neun Männer und Frauen. Aufgenommen werden sollten »Arme, Elende, betrübte Kranke, unvermögende Leute, Bürger und Bürgerinnen zu Hannover«.

Das alte Kloster wurde 1637 herzoglicher Sitz. Es befand sich dort, wo heute das Leineschloss steht.

Wie die Marktkirche zu ihrer Turmspitze kam

Die Hannoveraner, die über den Tellerrand ihrer Stadt hinwegguckten und sich durch Reisen gebildet hatten, ärgerten sich über ihre kleine Kirche. Es war ein von dem Grafen Hildebold I. gestiftetes romanisches Gotteshaus, entstanden in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Geweiht war sie dem heiligen Georg.

Dieses Kirchlein aber wirkte geradezu mickrig im Vergleich zu den Kirchen anderer Städte. Man brauchte ja nur an die großen Backsteinkirchen in den Hansestädten zu denken. Immerhin stand Hannover seit dem 13. Jahrhundert in engem geschäftlichen Kontakt zur Hanse.

Es wurde beschlossen, die alte Kirche abzureißen und am selben Platz, nämlich am Markt, eine neue und große Kirche zu bauen. Sie sollte größer werden als die Kirchen in Lüneburg und in Lübeck, der Königin der Hanse.

Tatsächlich trennte man sich von der alten Kirche. In den 30er Jahren des 14. Jahrhunderts wurde mit dem Bau der neuen Marktkirche begonnen, die als Kirche St. Jacobi und St. Jürgen im Jahre 1352 eingeweiht wurde.

Aber der Bau war noch nicht vollendet. Dem Turm fehlte noch eine in den Himmel ragende Spitze. Als sie gebaut werden sollte, brach in Hannover die Pest aus. Da hatte man andere Sorgen, als an den Kirchenbau zu denken. Nach der Pest aber fehlte in Hannover das Geld. Aus der Not heraus bekam der Turm eine provisorische Spitze, die jedenfalls nicht für die Ewigkeit gedacht war.

So kam es denn auch: Die achteckige Turmspitze hielt nur bis zum ersten Herbststurm. Da flog sie auf den Marktplatz hinunter, ohne dass irgendein Mensch zu Schaden kam. Und genau das wurde als ein gutes Omen gewertet.

Es dauerte nicht lange, da dem Turm zum zweiten Male eine Spitze in Form eines Dachreiters aufgesetzt wurde. Es war also, wenn man so will, wieder ein Provisorium. Denn von dem Gedanken an die hohen und repräsentativen Kirchen in Lüneburg und Lübeck mochten sich die Hannoveraner nicht verabschieden.

Aber das Provisorium blieb über die Jahrhunderte bestehen.

Im Sommer des Jahres 1943 wurde die Stadt Opfer eines alliierten Bombenangriffs – und zwar am helllichten Tag. Binnen einer knappen Stunde wurde die Altstadt von Hannover ausradiert. Zu den zerstörten beziehungsweise schwer beschädigten Gebäuden gehörten auch das Opernhaus, das Leineschloss, das Wangenheimpalais, das Café Kröpcke und die Marktkirche mit ihrem provisorischen Dachreiter.

In der von den Trümmern geräumten Marktkirchenruine wurde im Jahre 1947 sozusagen unter freiem Himmel der neue Landesbischof Hanns Lilje in sein Amt eingeführt. Ein Jahr später wurde die Richtkrone über dem Dach der Marktkirche aufgezogen. Sie galt für die Hannoveraner als ein Symbol für den Wiederaufbau ihrer Stadt.

Aber mit dem in den Himmel ragenden Turm war es wieder nichts. Als man nämlich den Wiederaufbau der Marktkirche plante, entschied man sich – und damit zum dritten Mal – für das Provisorium: für den Dachreiter.

Er war inzwischen zu einem Wahrzeichen der Stadt geworden. Und als niedersächsische Landeshauptstadt hatte man hohe Kirchtürme nicht mehr nötig.

Der fliegende Chorknabe

Im Turm der Marktkirche hielt einst der städtische Türmer Wacht. Von dort oben sah er weit ins Land hinein, und bei Feindes- und Feuergefahr ließ er die Glocken läuten. Er lebte sehr einsam und freute sich über jeden Besuch.

Eines Tages, so erzählt die Sage, überredete der Chorknabe Josua Wineker einen anderen Chorknaben, der auch sein Spielgefährte war, dem Türmer einen guten Tag zu wünschen. Möglicherweise, so meinte Josua, wusste der alte Mann spannende Geschichten aus alten Zeiten zu erzählen.

Die beiden kletterten den Turm hinauf. Doch zum Türmer kamen sie nicht. Denn sie entdeckten in der Glockenstube ein Dohlennest, und die Freunde beschlossen, es auszunehmen. Denn sie wussten, dass Dohleneier sehr gut schmecken, und den Genuss wollten sie sich nicht entgehen lassen.

Leider befand sich das Nest außerhalb eines der Schalllöcher. Es war für die beiden Knaben nicht zu erreichen.

Josua fragte den Freund: »Wie kommen wir an das Nest ran!«

Der wusste das auch nicht.

Sie sahen sich in der Glockenstube um und fanden schließlich ein langes Brett. Der immer helle Josua hatte sofort eine Idee. Er sagte: »Wir schieben das Brett zum Schallloch hinaus. Du hältst es von drinnen fest, und ich versuche, über das Brett an das Nest zu gelangen.«

Es dauerte nicht lange, da stand Josua unerschrocken auf dem schwankenden Brett hoch über dem Abgrund. Und zu seiner Freude sah er fünf Eier im Nest liegen.

Er meldete dies seinem Freund, und der meinte: »O, das ist gut. Drei davon bekomme ich, die anderen zwei bekommst du!«

»Wieso das?«, fragte Josua. »Ich habe die Eier entdeckt und habe die gefährlichere Arbeit von uns beiden. Steh du mal hier draußen, dann weißt du, wie unangenehm das ist.« Er fragte nicht ohne Ironie: »Bist du überhaupt schwindelfrei?«

 

»Das steht doch nicht zur Debatte«, sagte der drinnen. »Es geht um die Schwere der Arbeit, und die habe ich. Das Brett, auf dem du stehst, ist verdammt schwer. Außerdem: Wenn ich nicht wäre, stündest du gar nicht draußen.«

So gingen die Argumente hin und her. Die beiden fingen an ernsthaft zu streiten, und der drinnen sagte: »Wenn du nicht nachgibst, lass ich das Brett los.«

»Das wirst du nicht wagen!«, meinte Josua. Und er beharrte darauf: »Mir gehören drei Eier. Du kannst froh sein, wenn ich dir die zwei anderen mitbringe.«

Daraufhin ließ sein Freund das Brett ohne weitere Vorwarnung los. Brett und Freund stürzten in die Tiefe. Das Brett fiel krachend auf den Marktplatz und Josua Wineker wäre es nicht besser ergangen, hätte er nicht seinen Chormantel getragen. Der blähte sich bei seinem Sturz auf, und der Junge schwebte ruhig nach unten, stand auf und ging nach Hause.

Ob er sich da oben verkühlt hat oder ob eine tückische Krankheit in ihm steckte, wir wissen es nicht, jedenfalls ist der Chorknabe Josua Wineker bald darauf, im Alter von 13 Jahren, gestorben.

Seine Eltern, der Vater war Hofprediger, ließen ihn lebensgroß im modischen Festgewand in Stein verewigen. Zu sehen ist er an der Nordwand der Marktkirche, etwa dort, wo er als Junge ein Vorläufer der Fallschirmspringer war.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?