Die Schlafwandler

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Die Schlafwandler
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Hermann Broch

Die Schlafwandler

e-artnow, 2021

Kontakt: info@e-artnow.org

EAN 4066338119629

Inhaltsverzeichnis

Der erste Roman Pasenow oder die Romantik

Der zweite Roman Esch oder die Anarchie

Der dritte Roman Huguenau oder die Sachlichkeit

Der erste Roman
Pasenow oder die Romantik

Inhaltsverzeichnis

I

II

III

IV

I

Inhaltsverzeichnis

Im Jahre 1888 war Herr v. Pasenow siebzig Jahre alt, und es gab Menschen, die ein merkwürdiges und unerklärliches Gefühl der Abneigung verspürten, wenn sie ihn über die Straßen Berlins daherkommen sahen, ja, die in ihrer Abneigung sogar behaupteten, daß dies ein böser alter Mann sein müsse. Klein, aber von richtigen Proportionen, kein hagerer Greis, aber auch kein Fettwanst: er war sehr richtig proportioniert, und der Zylinder, den er in Berlin aufzusetzen pflegte, wirkte durchaus nicht lächerlich. Er trug den Bart Kaiser Wilhelms I., doch kürzer geschoren, und an seinen Wangen war nichts von der weißen Wolle zu bemerken, die dem Herrscher das leutselige Aussehen verlieh; sogar das Haupthaar, kaum gelichtet, .wies bloß einige weiße Fäden auf; trotzseiner siebzig Jahre hatte es sich die Blondheit seiner Jugend erhalten, jenes rötliche Blond, das an faulendes Stroh erinnert und einem alten Manne, den man sich lieber mit würdigerer Behaarung dächte, eigentlich nicht ansteht. Aber Herr v. Pasenow war an seine Haarfarbe gewöhnt, und auch das Einglas erschien ihm keineswegs zu jugendlich. Sah er in den Spiegel, so erkannte er jenes Gesicht wieder, das ihm dort vor fünfzig Jahren entgegengeblickt hatte. Und war Herr v. Pasenow solcherart mit sich nicht unzufrieden, so gibt es eben doch Menschen, denen das Äußere dieses alten Mannes mißfällt und die es auch nicht begreifen, daß je eine Frau sich gefunden hatte, die diesen Mann mit begehrenden Augen betrachtet haben sollte, ihn begehrend umfing, und sie werden ihm höchstens die polnischen Mägde auf seinem Gute zugestehen und daß er sich ihnen mit jener etwas hysterischen und doch herrischen Aggression genähert haben dürfte, die kleinen Männern öfters eigentümlich ist. Mochte dies stimmen oder nicht, es war jedenfalls die Meinung seiner beiden Söhne, und es versteht sich, daß er diese Meinung nicht geteilt hätte. Auch ist die Meinung von Söhnen oft subjektiv, und es wäre leicht, ihnen Ungerechtigkeit und Befangenheit vorzuwerfen, trotzdes etwas unbehaglichen Gefühles, das einen selber beim Anblick des Herrn v.Pasenow überkommen mag, merkwürdiges Unbehagen, das sich noch steigert, wenn Herr v. Pasenow vorbeigegangen ist und man ihm zufällig nachschaut. Vielleicht liegt es daran, weil einem dann das Alter des Mannes völlig ungewiß wird, denn er bewegt sich weder greisenhaft noch wie ein Jüngling, noch wie ein Mann in guten Jahren. Und weil Zweifel Unmut erzeugt, ist es nicht unmöglich, daß einer der Passanten diese Fortbewegungsart als würdelos empfindet, und wenn er sie dann als überheblich und kommun beschimpft, als schwächlich draufgängerisch und aufgetrumpft korrekt, so ist es kein Wunder. Das ist natürlich Temperamentsache; doch man kann sich ganz gut vorstellen, daß ein vom Haß verblendeter junger Mensch zurückeilen möchte, um dem, der so geht, einen Stock zwischen die Beine zu stecken, ihn irgendwie zu Fall zu bringen, ihm die Beine zu brechen, solche Gangart für immer zu vernichten. Jener aber geht sehr raschen Schrittes und geradlinig, den Kopf trägt er hoch, wie kleine Leute es zu tun pflegen, und da er sich eben auch sehr gerade hält, streckt er seinen kleinen Bauch ein wenig vor, man könnte fast sagen, daß er ihn vor sich hertrage, ja daß er damit seine ganze Person irgendwohin trage, ein häßliches Geschenk, das niemand will. Allein da mit einem Gleichnis noch nichts erklärt ist, bleiben solche Beschimpfungen haltlos, und vielleicht schämt man sich ihrer, bis man den Spazierstock neben den Beinen entdeckt. Der Stock geht taktmäßig, hebt sich fast bis zur Kniehöhe, verweilt mit einem kleinen harten AufschlagamBoden und hebt sich wieder, und die Füße gehen daneben. Und auch diese heben sich mehr als sonst üblich, die Fußspitze geht etwas zu weit nach aufwärts, als wollte sie in Verachtung der Entgegenkommenden ihnen die Schuhsohle zeigen, und der Absatz wird mit einem kleinen harten Aufschlag auf das Pflaster gesetzt. So gehen Beine und Stock nebeneinander, und nun taucht die Vorstellung auf, daß der Mann, wäre er als Pferd zur Welt gekommen, ein Paßgänger geworden wäre; aber das Schrecklichste und Abscheulichste daran ist, daß es ein dreibeiniger Paßgang ist, ein Dreifuß, der sich in Bewegung gesetzt hat. Und furchtbar der Gedanke, daß diese dreibeinige Zielgerichtetheit so falsch sein muß wie diese Geradlinigkeit und dieses Vorwärtsstreben: auf das Nichts gerichtet! Denn so geht keiner, der Ernsthaftes beabsichtigt, und wenn man auch einen Augenblick an einen Wucherer denken muß, der zur harten Schuldeintreibung in die Wohnung des Armen sich trägt, so weiß man doch sogleich, daß dies viel zu wenig und viel zu irdisch wäre, entsetzt von der Erkenntnis, daß so der Teufel schlendert, ein Hund, der auf drei Beinen hinkt, daß dies ein geradliniges Zickzackgehen ist,... genug; dies alles kann man nämlich herausfinden, wenn man den Gang des Herrn v. Pasenow mit liebevollem Haß zergliedert. Aber schließlich kann man solches bei den meisten Menschen versuchen. Immer stimmt irgend etwas. Und wenn Herr v. Pasenow auch keine gehetzte Lebensweise führte, vielmehr reichlich Zeit zur Erfüllurig der dekorativen und sonstigen Verpflichtungen verwendete, die ein ruhig-gesichertes Vermögen mit sich bringt, so war er- und dies entspricht auch seiner Wesensart- in alledem geschäftig, und eigentliches Schlendern lag ihm ferne. Und kam er zweimal des Jahres nach Berlin, so hatte er vollauf zu schaffen. Jetzt befand er sich auf dem Wege zu seinem jüngeren Sohn, dem Premierleutnant J oachim v. Pasenow.

Immer wenn J oachim v. Pasenow mit seinem Vater zusammentraf, stiegen Jugenderinnerungen auf, das verstand sich nur von selbst, doch vor allem wurden die Ereignisse wieder lebendig, die seinem Eintritt in die Kadettenanstalt Culm vorangegangen waren. Es waren allerdings nur Bruchstücke von Erinnerungen, die da flüchtig emportauchten, und regellos floß Wichtiges und Unwichtiges durcheinander. So ist es wohl völlig unwichtig und überflüssig, den Schaffer Jan zu erwähnen, dessen Bild, obwohl er doch eine ganz nebensächliche Figur war, sich vor alle anderen Bilder schob. Dies mag daher rühren, daß Jan eigentlich kein Mensch, sondern ein Bart war. Stundenlang konnte man ihm zuschauen und darüber nachdenken, ob hinter der struppigen Landschaft voll undurchdringlichen, wenn auch weichen Gebüsches ein menschliches Wesen hause. Selbst wenn Jan sprach- aber er sprach nicht viel-, war man dessen nicht sicher, denn die Worte entstanden hinter dem Barte wie hinter einem Vorhang, und ebensowohl hätte es ein anderer sein können, der sie sprach. Am spannendsten war es, wenn Jan gähnte: dann klaffte die haarige Fläche an einer vorbestimmten Stelle auf, dartuend, daß dies auch der Ort sei, wo J an Speise in sich einzuführen pflegte. Als Joachim zu ihm gelaufen kam, um ihm seinen bevorstehenden Eintritt in die Kadettenanstalt zu erzählen, war er gerade beim Essen, saß dort, schnitt Brotwürfel und hörte schweigend zu. Endlich sagte er: »Nun ist der Jungherr wohl recht froh?« Und da war es Joachim zu Bewußtsein gekommen, daß er gar nicht froh war; gerne hätte er sogar geweint, aber da kein unmittelbarer Anlaß dazu vorlag, hatte er bloß genickt und hatte gesagt, daß er sich freue.

Dann gab es noch das Eiserne Kreuz, das im großen Salon unter Glas und Rahmen hing. Es stammte von einem Pasenow, der anno 13 an kommandierender Stelle gestanden hatte. Da es ohnehin an der Wand hing, so war es etwas unbegreiflich, daß man so viel Aufhebens machte, als Onkel Bernhard auch eines erhielt. Joachim schämte sich noch heute, daß er damals so dumm hatte sein können. Doch vielleicht war er damals bloß erbittert gewesen, weil man ihm die Kadettenanstalt mit der Aussicht auf das Eiserne Kreuz schmackhafter machen wollte. Jedenfalls hätte sein Bruder Helmuth besser für die Anstalt getaugt, und trotzder langen Zeit, die seitdem verflossen war, nannte Joachim es eine lächerliche Einrichtung, daß der Erstgeborene zum Landwirt, der Jüngere aber zum Offizier bestimmt werden mußte. Ihm war das Eiserne Kreuz gleichgültig, aber Helmuth war in tolle Begeisterung geraten, als Onkel Bernhard mit der Division Goeben an der Erstürmung Kissingens teilgenommen hatte. Übrigens war es nicht einmal ein richtiger Onkel, sondern ein Vetter des Vaters.

Die Mutter war größer als der Vater, und alles auf dem Hofe gehorchte ihr. Merkwürdig war es, wie wenig Helmuth und er auf sie hören wollten; das hatten sie eigentlich mit dem Vater gemein. Sie überhörten ihr zähes und lässiges »Nicht doch« und ärgerten sich bloß, wenn sie dann hinzufügte: »Seht euch bloß vor, daß Vater euch nicht dahinter kommt.« Und sie fürchteten sich nicht, wenn sie zu ihrem letzten Mittel griff: »Nun aber will ich es wirklich Vater sagen«, fürchteten sich auch kaum, wenn sie Ernst machte, denn der Vater warf ihnen dann bloß einen bösen Blick zu und ging mit seinen steifen geradlinigen Schritten seines Weges. Es war wie eine gerechte Strafe für die Mutter, weil sie mit einem gemeinsamen Feind Partei zu machen versuchte.

 

Zu jener Zeit war noch der Vorgänger des jetzigen Pastors im Amte. Er hatte einen gelblich-weißen Backenbart, der sich von der Farbe der Haut kaum abhob, und wenn er an den Festtagen zu Tische kam, so pflegte er die Mutter mit der Königin Luise inmitten ihrer Kinderschar zu vergleichen. Das war ein wenig lächerlich, machte einen aber trotzdem stolz. Nun hatte der Pastor auch noch die neue Gewohnheit angenommen, die Hand auf Joachims Kopf zu legen und »Junger Krieger« zu sagen, denn alle, und sogar das polnische Küchenmädchen, sprachen schon von der Kadettenanstalt in Culm. Trotzdem wartete Joachim noch immer auf eine richtige Entscheidung. Bei Tische hatte die Mutter einmal gesagt, sie sähe die Notwendigkeit nicht ein, Joachim wegzugeben; er könnte ja später als Avantageur eintreten; so sei es doch stets gewesen und so habe man es doch immer gehalten. Onkel Bernhard aber hatte erwidert, daß die neue Armee tüchtige Leute brauche, und in Culm könne es einem richtigen Jungen schon gefallen. Der Vater hatte unangenehm geschwiegen- wie immer, wenn die Mutter etwas sagte. Erhörte nicht auf sie. Bloß zu Mutters Geburtstag, wenn er ans Glas klopfte, entlehnte er das Gleichnis des Pastors und nannte sie seine Königin Luise. Vielleicht war die Mutter wirklich dagegen, daß er nach Culm kommen sollte, aber auf sie war kein Verlaß, sie machte schließlich doch Partei mit dem Vater.

Die Mutter war sehr pünktlich. Niemals fehlte sie zur Melkzeit im Stalle, beim Eierausheben im Hühnerhof, vormittags konnte man sie in der Küche aufsuchen und nachmittags in der Wäschekammer, wo sie mit den Mägden das steife Leinen zählte. Damals hatte er es eigentlich erst erfahren. Er war mit der Mutter im Kuhstall gewesen, seine Nase war voll von dem schweren Stallgeruch, da sie in die kalte Winterluft hinaustraten, und Onkel Bernhard kam ihnen über den Hof entgegen. Onkel Bernhard trug noch immer einen Stock; nach einer Verwundung durfte man einen Stock tragen, alle Rekonvaleszenten tragen Stöcke, auch wenn sie nicht mehr so arg hinken. Die Mutter war stehengeblieben, und Joachim hielt sich an dem Stock Onkel Bernhards fest. Noch heute erinnerte er sich deutlich der wappengeschmückten Elfenbeinkrücke. Onkel Bernhard sagte: »Gratulieren Sie mir, Cousine, soeben bin ich Major geworden. « Joachim blickte zum Major hinauf; der war sogar größer als die Mutter, hatte sich einen kleinen, gleichsam stolzen und doch vorschriftsmäßigen Ruck gegeben, schien noch ritterlicher und noch strammer als sonst und war vielleicht auch jetzt noch gewachsen, jedenfalls paßte er besser zu ihr als der Vater. Er hatte einen kurzen Vollbart, aber man konnte den Mund sehen. Joachim überlegte, ob es eine große Ehre sei, den Stock eines Majors halten zu dürfen, und dann entschloß er sich, ein wenig stolz zu sein. »Ja«, sagte Onkel Bernhard weiter, »aber nun ist es mit den schönen Tagen auf Stolpin auch wieder zu Ende.« Die Mutter sagte, daß dies eine gute und eine schlechte Nachricht zugleich sei, und das war eine komplizierte Antwort, die Joachim nicht völlig klar wurde. Sie standen im Schnee; die Mutter hatte ihre braune Pelzjacke an, die ebenso weich war wie sie selber, und unter ihrer Pelzmütze sahen ihre blonden Haare hervor. Joachim freute sich stets, daß er die gleichen blonden Haare hatte wie die Mutter; er würde also auch größer als der Vater werden, vielleicht so groß wie Onkel Bernhard, und als dieser auf ihn wies: »Nun werden wir ja bald Kameraden in des Königs Rock sein«, so war er für einen Augenblick ganz einverstanden. Doch da die Mutter bloß seufzte und keinen Einwand äußerte, sich unterwarf, genauso als stünde sie dem Vater gegenüber, ließ er den Stock los und lief zu Jan.

Mit Helmuth ließ sich die Sache nicht besprechen; der beneidete ihn und redete wie die Erwachsenen, die alle sagten, daß ein künftiger Soldat froh und stolz sein müsse. Jan war der einzige, der kein Heuchler und Verräter war; der hatte bloß gefragt, ob der Jungherr froh wäre, und stellte sich nicht so, als ob er daran glaubte. Natürlich mochten die anderen und auch Helmuth es nett gemeint haben, wollten ihn bloß trösten. Niemals hatte Joachim es verwunden, daß er damals im stillen von dem Verräterturn und der Heuchelei Helmuths überzeugt gewesen war; denn hatte er es auch sofort gut machen wollen und ihm all seine Spielsachen geschenkt, so hätte er sie ohnehin nicht in die Kadettenanstalt mitnehmen dürfen, und es war keine Entschuldigung. Auch die Hälfte des Ponys, das den Knaben gemeinsam gehörte, hatte er ihm geschenkt, so daß Helmuth nun ein ganzes eigenes Pferd besaß. Diese Wochen waren eine unheilschwangere und doch eine gute Zeit; niemals, weder früher noch später, war er mit dem Bruder je so befreundet gewesen. Dann allerdings kam das Unglück mit dem Pony: Helmuth hatte für diese Zeit auf seine neuen Anrechte verzichtet, und Joachim durfte über das Pony allein verfügen. Zwar war es kein sehr bedeutender Verzicht, denn der Boden war in diesen Wochen aufgeweicht und tief, und es bestand ein strenges Verbot, bei solchem Boden auf die Felder zu reiten. Joachim aber fühlte das bessere Recht des Scheidenden, und da überdies Helmutheinverstanden war, ritt er unter dem Vorwand, dem Pony in der Koppel Bewegung zu machen, auf den Acker hinaus. Nur zu einem ganz kurzen Galopp hatte er angesetzt, als schon das Unglück geschehen war; das Pony geriet mit dem Vorderbein in eine tiefe Grube, überschlug sich und konnte nicht mehr aufstehen. Helmuth kam herbeigelaufen, dann kam auch der Kutscher. Das Pony lag dort, den struppigen Kopf in den Schollen des Ackers, und ließ die Zunge seitwärts aus dem Maule hängen. Joachim sah noch, wie er und Helmuth dort knieten und den Kopf des Tieres streichelten, aber er vermochte sich nicht mehr zu entsinnen, wie sie heimgekommen waren, wußte bloß, daß er in der Küche stand, in der es mit einem Male ganz still geworden war, und daß alle ihn anschauten, als wäre er ein Verbrecher. Dann hatte er die Stimme der Mutter gehört: »Man muß es Vater sagen.« Und nun stand er plötzlich im Arbeitszimmer des Vaters, und es war, als ob das Strafgericht, das die Mutter ihnen so oft mit dem verhaßten Satze angedroht hatte, nunmehr aufgestapelt und angesammelt, über ihn hereinbrechen müßte. Doch es erfolgte nichts. Der Vater ging bloß stumm und geradlinig in dem Raume auf und ab, und Joachim versuchte stramm zu stehen, blickte auf die Geweihe an der Wand. Als noch immer nichts erfolgte, begannen seine Blicke zu schweifen und blieben an dem blauen Sand in der Papierkrause des braun-polierten sechseckigen Spucknapfes neben dem Ofen hängen. Fast hatte er vergessen, warum er hergekommen war; bloß der Raum schien noch weiter als sonst zu sein, und in der Brust lastete etwas Eisiges. Endlich klemmte der Vater das Einglas ins Auge: »Es ist die höchste Zeit, daß du aus dem Hause kommst«, und nun wußte Joachim, daß sie alle geheuchelt hatten, sogar Helmuth, und in diesem Augenblicke war es Joachim sogar recht, daß das Pony sich das Bein gebrochen hatte, und auch die Mutter hatte ihn immerzu verklatscht, damit er aus dem Hause käme. Dann sah er noch, wie der Vater die Pistole aus dem Kasten nahm. Ja, und dann erbrach er sich. Am nächsten Tag erfuhr er von dem Arzte, daß er eine Gehirnerschütterung erlitten hätte, und er war stolz darauf. Helmuth saß an seinem Bette, und obwohl Joachim wußte, daß das Pony vom Vater erschossen worden war, sprachen sie nicht ein Wort davon, und es war wieder eine gute Zeit, sonderbar geborgen und abgerückt von allen Menschen. Trotzdem nahm sie ein Ende, und mit einer Verspätung von einigen Wochen wurde er nach Culm in die Anstalt eingeliefert. Doch wenn er dort vor seinem schmalen Bett stand, das so ferne und weit abgerückt war von seinem Krankenbette in Stolpin, da schien es fast, als hätte er jene Abgerückheit mit herübergenommen, und dies machte ihm den Aufenthalt fürs erste erträglich.

Natürlich gab es in jener Zeit noch allerhand, das er vergessen hatte, aber es war trotzdem ein beunruhigender Rest geblieben, und in seinen Träumen glaubte er manchmal, polnisch zu sprechen. Als er Premierleutnant geworden war, schenkte er Helmuthein Pferd, das er selber lange geritten hatte. Dennoch ließ ihn das Gefühl nicht los, als wäre er ihm etwas schuldig geblieben, ja als wäre Helmuth ein unbequemer Gläubiger. Das war alles sinnlos, und er dachte nur selten daran. Nur wenn der Vater nach Berlin kam, wachte es wieder auf, und wenn dann Joachim nach der Mutter und nach Helmuth fragte, so vergaß er nie, sich auch nach dem Befinden des Gaules zu erkundigen.

Nun da Joachim v. Pasenow seinen Zivilgehrock angetan hatte und sein Kinn in ungewohnter Freiheit zwischen den beiden Ecken des offenen Stehkragens sich bewegte, da er den geschweiften Zylinder aufgesetzt und einen Stock mit spitz zulaufender Elfenbeinkrücke zur Hand genommen hatte, nun auf dem Wege ins Hotel, um den Vater zu dem obligaten Bummelabend abzuholen, tauchte plötzlich Eduard v. Bertrands Bill vor ihm auf, und es war ihm angenehm, daß die Zivilkleider keineswegs mit solcher Selbstverständlichkeit an ihm saßen wie an diesem Menschen, den er im stillen manchmal einen Verräter nannte. Leider war es ja vorauszusehen und zu befürchten, daß er Bertrand in den Lokalen der Lebewelt, die er heute mit dem Vater besuchen mußte, antreffen werde, und schon während der Vorstellung im Wintergarten hielt er Ausschau nach ihm und war sehr mit der Frage beschäftigt, ob er einen solchen Menschen mit dem Vater bekannt machen dürfe.

Das Problem hielt ihn auch noch gefangen, als sie in einer Droschke durch die Friedeichstraße zum Jägerkasino fuhren. Sie saßen steif, ihre Stöcke zwischen den Knien, stumm auf den schwarzledernen brüchigen Sitzen, und wenn ihnen eines der vorüberstreifenden Mädchen etwas zurief, so schaute Joachim v. Pasenow gerade vor sich hin, während sein Vater, das Einglas starr im Auge, »toll« sagte. Ja, seit Herr v. Pasenow nach Berlin kam, hatte sich vieles verändert, und wenn man es auch hinnahm, so durfte man sich doch nicht der Einsicht verschließen, daß die neuerungssüchtige Politik des Reichsgründers höchst unerfreuliche Blüten gezeitigt hat. Herr v. Pasenow sagte, was er alljährlich sagte: »In Paris kann es auch nicht ärger zugehen «, und es erregte auch sein Mißfallen, daß eine Reihe greller Gasflammen die Aufmerksamkeit der Passanten auf den Eingang des Jägerkasinos lenkte, vor dem sie nun hielten.

Eine schmale Holztreppe führte zum ersten Stockwerk, in dem die Lokalitäten sich befanden, und Herr v. Pasenow erstieg sie mit der geschäftigen Geradlinigkeit, die ihm eigentümlich war. Ein schwarzhaariges Mädchen kam ihnen entgegen, drückte sich in den Stiegenwinkel, um die Besucher vorbeizulassen, und da sie offenbar über die Geschäftigkeit des alten Herrn lachen mußte, machte Joachim eine etwas verlegene und entschuldigende Geste. Von neuem war der Zwang da, sich Bertrand vorzustellen, sei es als den Liebhaber dieses Mädchens, sei es als dessen Zuhälter, sei es als sonst irgend etwas Phantastisches, und kaum im Saale, blickte er suchend umher. Aber natürlich war Bertrand nicht da, hingegen zwei Herren vom Regiment, und nun fiel es Joachim erst ein, daß er sie doch selber zu dem Kasinobesuch animiert hatte, um nicht mit dem Vater oder gar noch dazu mit Bertrand allein sein zu müssen.

Herr v.Pasenow wurde, Alter und Stellung gemäß, wie ein Vorgesetzter mit schmal-steifer Verbeugung und Zusammenschlagen der Hacken begrüßt, und gleich einem kommandierenden General erkundigte er sich, ob die Herren sich amüsierten; wenn die Herren nun auch ein Glas Sekt mit ihm trinken wollten, würde es ihm zur Ehre gereichen, worauf die Herren ihre Zustimmung wieder mit den Füßen bekanntgaben. Es wurde frischer Sekt gebracht. Die Herren saßen schweigend und steif auf ihren Stühlen, tranken einander stumm zu und betrachteten den Saal, die weißgoldenen Dekorationen, die Gasflammen, die von Tabaksrauch umzogen im großen Kreise des Lüsters surrten, und betrachteten die Tanzenden, die sich in der Mitte des Saales drehten. Endlich Herr v.Pasenow: »Nun, meine Herren, ich will nicht hoffen, daß Sie meinetwegen auf holde Weiblichkeit verzichtet haben!« Verbeugungen und Lächeln- »Sind doch niedliche Mädchen hier;- als ich heraufkam, begegnete ich einem durchaus ansprechenden Ding, schwarzhaarig und mit Augen, die euch jungen Herren nicht gleichgültig bleiben können.« Joachim v. Pasenow hätte vor Scham dem Alten die Kehle zupressen mögen, um solche geile Rede zurückzuhalten, aber schon antwortete einer der Kameraden, daß dies offenbar Ruzena gewesen sei, wirklich ein ausnehmend hübsches Mädchen, dem man auch eine gewisse Vornehmheit nicht abstreiten könne, wie überhaupt die Damen hier zum großen Teil nicht das seien, was man von ihnen halte, vielmehr werde mit einiger Strenge vonseitender Direktion eine Auslese getroffen und auf die Wahrung eines feinen Tones geachtet. Mittlerweile aber war Ruzena wieder im Saale erschienen: sie hatte ihren Arm unter den eines blonden Mädchens geschoben, und wie sie mit ihren hohen Tournüren und spitzen Taillen an den Tischen und Logen entlangstrichen, machten sie tatsächlich einen vornehmen Eindruck. Als sie bei dem Tische Pasenows vorbeikamen, wurde die scherzhafte Meinung geäußert, ob nicht Fräulein Ruzena soeben die Ohren geklungen hätten, und Herr v.Pasenow fügte hinzu, daß, dem Namen nach zu schließen, er wohl eine schöne Polin, also fast eine Landsmännin, vor sich sähe. Nein, sie sei keine Polin, sagte Ruzena, sondern eine Böhmin, hierzulande sage man wohl Tschechin, aber Böhmin sei richtiger, weil auch das Land richtig Böhmen heiße. »Um so besser«, sagte Herr v. Pasenow, »die Polen taugen nichts... sind unzuverlässig... Na, ist ja egal.«

 

Indessen hatten sich die beiden Mädchen gesetzt, und Ruzena sprach mit einer tiefen Stimme und lachte über sich selbst, weil sie noch immer nicht Deutsch erlernt hatte. Joachim ärgerte sich, weil der Alte die Erinnerung an die Polinnen heraufbeschwor, mußte aber selber an eine Erntearbeiterin denken, von der er als kleiner Junge auf den Wagen mit den Garben gehoben worden war. Aber wenn sie auch mit hart stakkatiertem Tonfall alle Artikel durcheinanderwarf und von die Direktor und das Stadt sprach, so war sie doch eine junge Dame, die in steifem Korsett und guter Haltung das Sektglas zum Munde führte, und war etwas anderes als eine polnische Erntearbeiterin; mochte das Gerede über den Vater und die Mägde wahr sein oder niCht, Joachim hatte damit nichts zu schaffen, aber mit dem zarten Mädchen hier sollte der Alte nicht wagen, ebenso zu verfahren, wie er es vielleicht gewohnt war. Trotzdem wollte sich das Leben eines böhmischen Mädchens nicht anders vorstellen lassen als das der Polinnen -schien es doch schon bei deutschen Zivilisten unmöglich, ein Lebendiges hinter der Marionette des Bewegten sich vorzustellen-, und wenn er versuchte, um Ruzena eine gute Stube zu denken, eine gute matronenhafte Mutter, einen guten Freier mit Handschuhen, so stimmte dies nicht, und Joachim kam von dem Gefühl nicht los, daß dort alles wild, geduckt, tartarisch vor sich gehen müsse: Ruzena tut ihm leid, obwohl sie sicherlich etwas von einem kleinen geduckten Raubtier spüren läßt, in dessen Kehle der dunkle Schrei steckt, dunkel wie die böhmischen Wälder, und er möchte wissen, ob man mit ihr reden kann wie mit einer Dame, denn all dies ist erschrekkend und doch verlockend und gibt dem Vater und seinen schmutzigen Absichten irgendwie recht. Er fürchtet, daß auch Ruzena dies durchschauen könne, und er sucht in ihrem Gesicht nach Antwort; sie merkt es und lächelt ihm zu, doch ihre Hand, die weich über die Tischkante hängt, läßt sie von dem Alten tätscheln, und der tut es in aller Öffentlichkeit und versucht dabei, seine polnischen Brocken anzubringen, eine sprachliche Hecke um sich und das Mädchen zu errichten. Natürlich dürfte sie ihn nicht gewähren lassen, und wenn es in Stolpin immer hieß, daß die polnischen Mägde unzuverlässig seien, so hatte man vielleicht recht. Aber vielleicht ist sie bloß zu schwach, und die Ehre würde es verlangen, daß man sie vor dem Alten schütze. Solches allerdings wäre das Amt ihres Liebhabers; besäße Bertrand eine Spur von Ritterlichkeit, so hätte er nachgerade die Pflicht, endlich aufzutauchen, um dies alles mit leichter Hand in Ordnung zu bringen. Unvermittelt beginnt Joachim mit den Kameraden von Bertrand zu sprechen, ob sie schon lange nichts von Bertrand gehört hätten, was er wohl treibe, ja, ein merkwürdiger verschlossener Mensch sei Eduard v.Bertrand. Aber die Kameraden haben schon viel Sekt getrunken, geben verkehrte Antworten und wundern sich über nichts mehr, nicht einmal über die Beharrlichkeit, mit der Joachim am Thema Bertrand hängenbleibt, und so listig er den Namen immer wieder besonders laut und deutlich ausspricht, auch die beiden Mädchen zucken mit keiner Wimper, und der Verdacht keimt in ihm auf, Bertrand könne schon so tief gesunken sein, daß er hier unter falschem Namen verkehre; also wendet er sich direkt an Ruzena, ob sie nicht doch v. Bertrand kenne... , bis der Alte, hellhörig und geschäftigtrotzallen Sektes, fragt, was denn Joachim jetzt mit diesem v. Bertrand wolle: »Suchst ihn ja, als ob er hier sichtbarlieh versteckt wäre.« Joachim verneint errötend, aber der Alte ist im Schwatzen: ja, er habe den Vater, den alten Oberst v. Bertrand gut gekannt, der habe das Zeitliche gesegnet, schon möglich, daß ihn dieser Eduard ins Grab gebracht hat. Er hätte es sich ja, hieß es, so sehr zu Herzen genommen, daß der Schlingel ausgesprungen sei, kein Mensch wisse warum und ob nicht etwas Schmutziges dahinter gesteckt habe. Joachim lehnte sich auf: »Ich bitte um Verzeihung, das sind haltlose Ausstreuungen - am allerwenigsten ist Bertrand ein Schlingel zu nennen.«- »Nur sachte«, meint der Alte und wendet sich wieder der Hand Ruzenas zu, auf die er nun einen langen Kuß drückt; Ruzena läßt es gleichmütig geschehen und betrachtet Joachim, dessen weiches helles Haar sie an die Kinder in ihrer Heimatschule erinnert. »Will ich nicht Ihnen Hof machen «, stakkatiert sie zu dem Alten, »aber hat liebe Haare der Sohn«, dann packt sie den Kopf der Freundin, hält ihn neben den Joachims und ist befriedigt, daß die Haarfarbe übereinstimmt: »Möchtet scheenes Paar sein«, erklärt sie den beiden Köpfen und fährt ihnen beiden in die Haare. Das Mädchen kreischt, weil sie ihr die Frisur zerzaust, Joachim spürt die weiche Hand am Hinterkopf, es ist ein kleines Schwindelgefühl, er wirft den Kopf zurück, als wollte er die Hand zwischen Kopf und Nacken einfangen, zum Verweilen zwingen, doch da geht die Hand ganz von selbst zum Nacken hinunter, streicht rasch und behutsam darüber hin. »Sachte, sachte!« hört er wieder die trockene Stimme des Vaters und dann bemerkt er, wie jener die Brieftasche zieht, zwei große Scheine herausnimmt und sich anschickt, sie den beiden Mädchen zuzustecken. Ja, so wirft der Alte, wenn er guter Laune ist, den Erntearbeiterinnen Markstücke zu, und obwohl Joachim dazwischenfahren möchte, kann er nicht verhindern, daß Ruzena ihre fünfzig Mark in die Hand gedrückt bekommt und sie sogar fröhlich einsteckt: »Danke, Pappa«, sagt sie, »Schwiegerpappa«, bessert sie sich aus und zwinkert zu Joachim. Joachim ist blaß vor Zorn; soll ihm der Alte ein Mädchen für fünfzig Mark kaufen? Der Alte, hellhörig, merkt den Verstoß Ruzenas und unterstreicht: »Na, mir kommt vor, daß dir mein Bengel gefällt... , an meinem Segen soll's nicht fehlen... « Hund, denkt Joachim. Aber der Alte hat jetzt Oberwasser: »Ruzena, schönes Kind, morgen komme ich als Brautwerber zu dir, wie es sich gehört, tipptopp; was soll ich dir als Morgengabe mitbringen... aber du mußt mir sagen, wo dein Schloß steht... « Joachim schaut weg, wie einer, der bei einer Hinrichtung nicht das Beil fallen sehen will, aber da wird Ruzena plötzlich steif, ihre Augen werden blind, die Lippen werden hilflos, sie stößt eine Hand fort, die helfend oder zärtlich nach ihr greifen will, und läuft davon, um sich bei der Toilettenfrau auszuweinen.

»Na, egal«, sagt Herr v.Pasenow, »aber es ist auch spät geworden. Ich glaube, wir gehen, meine Herren.« In der Droschke saßen Vater und Sohn nebeneinander, steif, die Stöcke zwischen den Knien, feindlich. Endlich sagt der Alte: »Na, die fünfzig hat sie doch genommen. Dann ist leicht weglaufen. « Der Elende, denkt Joachim.

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