Es ist Zeit, mein Leben zu ändern

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Es ist Zeit, mein Leben zu ändern
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Herbert Mundschau

ES IST ZEIT,

MEIN LEBEN

ZU ÄNDERN

Kurzgeschichten

Engelsdorfer Verlag

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Es ist Zeit, mein Leben zu ändern

Das letzte Konzert findet nicht statt

Ich hab die ganze Nacht vom Führer geträumt

Der Andere

Reisbrei

Neuer Wein

Böse Mädchen

Der Taxifahrer hat Recht

Deutsche Präzision

Eifersucht

Das Schweigen der Männer

Begleitung

D. aus A.


ES IST ZEIT, MEIN LEBEN ZU ÄNDERN

„Es ist Zeit, mein Leben zu ändern“, er sagte das ohne Anflug von Pathos in der Stimme. Und doch so deutlich, als hätte er das Komma mit ausgesprochen.

„Das hast Du schon oft gesagt“, gab sie zurück. Und das hörte sich nicht nur einigermaßen schnippisch an, sondern war auch so gemeint.

„Aber diesmal ist es mir wirklich Ernst, wirst schon sehen“, setzte er nach. Und ärgerte sich sofort darüber, wieder in die Rechtfertigungsfalle getappt zu sein, statt seinen Satz einfach stehen zu lassen.

„Ja“, sagte sie, „auch das hast du jedes Mal gesagt.“ Und jetzt hatte sie diesen unsäglichen Gesichtsausdruck!

„Jedes Mal! Weißt du, wie das nervt!“ Er wurde unwirsch und auf seiner Stirn zeigten sich Falten.

„Das kommt mir auch bekannt vor…“ Sie blieb ruhig und ein Lächeln ohne Spur von Milde schlich sich in ihre Miene.

Das kam nicht gut bei Ihm an, Spott ertrug er nicht. Doch musste ihn das wirklich noch interessieren? Zweimal setzte er zu einer Entgegnung an und wandte sich schließlich mit einer wegwerfenden Handbewegung und einem nur halbherzig verächtlich klingenden „Ach, du …“ ab und verließ das Esszimmer.

Sie blieb stehen und zupfte den Tischläufer zurecht, versuchte, eine Falte in dem blaugrauen Leinenstoff mit den Fingern zu glätten. Dorothee, einundvierzig Jahre alt, war schlank und mittelgroß, hatte schulterlange dunkelblonde Haare, die sie an diesem Nachmittag lose im Nacken aufgesteckt trug. Sie betrachtete die zarte Haut ihrer schmalen Hände. Sie gab sich viel Mühe mit dem Erhalt einer jugendlichen Erscheinung. Ein beträchtlicher Anteil Ihres Gehalts als Assistentin in einer großen Anwaltskanzlei gab sie für Kosmetika und einschlägige Dienstleistungen aus.

Heiner, fünfundvierzig und gut über einen Meter neunzig groß, war frei von solchen Anwandlungen. Er hatte eine etwas nach vorn gebeugte Gestalt und wirkte stets als neigte er seinen Kopf in Demut vor seinem Gegenüber. Dabei lag es eher an den relativ niedrigen Türrahmen in dem umgebauten Bauernhof, den Heiner und Dorothee seit knapp zwölf Jahren bewohnten. In dieser Zeit hatte er zahllose Beulen gesammelt und sich einmal sogar einen echten Knockout eingehandelt, als er zum Telefon eilte. Darüber hatte er sich die Fehlhaltung angewöhnt und fand auch außerhalb ihrer niedrigen vier Wände nicht mehr zum aufrechten Gang.

Gutes Essen und dessen Begleitung aus dem üppig sortierten Weinkeller hatten einen Ring um seine Hüften angelegt oder zwei und wenn er, wie angekündigt, sein Leben wirklich ändern wollte, würde man ihm ein wenig Sport und die eine oder andre Umstellung in der Ernährung als mögliche Schauplätze dafür empfehlen. Doch von dem Gedanken war er in diesem Moment ganz weit weg. Radikale Veränderungen spukten in seinem Kopf. Nein, Naturkosmetik, Wellness-Pakete und Turnstunden spielten darin keine Rolle.

Der Regen, der nahezu den ganzen Vormittag dieses Juni-Samstags gegen die Fensterscheiben getrommelt und über das Schindeldach eintöniges Rauschen im Obergeschoss verteilt hatte, stellte sein Konzert ein. Getrieben von einer kräftigen aber lauen Brise aus Süd, rissen die Wolken zusehends auf und die Sonnenstrahlen ließen den Dampf aus den umliegenden Wiesen aufsteigen. Der Bauer, an den sie die Flächen verpachtet hatten, war spät dran mit dem ersten Schnitt, umso erfreulicher für das Auge der bunte Mix an Wiesenblumen, der seine Farbenpracht rund um ihr Anwesen entfaltete.

Schade, dachte Heiner bei sich, dass er wegen irgendeines genetischen Defekts seit seiner Pubertät nur noch Reste von Geruchssinn besaß. Konnte man Düfte erinnern? Er meinte, die kräftigen Ausdünstungen des väterlichen Hofs noch zu erspüren. Der heftige Geruch des dampfenden Misthaufens, der stickig warme Dunst im Kuhstall, die Vielfalt feiner Aromen in Mutters Kräutergarten, sogar der herbe Gestank im Treppenflur, wenn der Vater auf der engen Stiege einen fahren ließ und natürlich der Duft der Wiesenblumen und des feuchten Grases nach einem Sommerregen wie heute, der sich im und um das Haus über die Dinge legte, all das schien ihm manchmal noch immer lebendig und präsent. Aber es war auch lange her und er hielt es doch eher für eine betrügerische Aktion irgendwelcher Zellen in seinem Gehirn. Revival von Gerüchen, Gauklerei mit Erinnerungsfragmenten.

Heiner, du träumst. du hast ganz andres vor, schalt er sich.

Er ging nach oben in das geräumige Badezimmer, das sie nach dem Durchbruch der Zwischenwand zweier Schlafkammern eingerichtet hatten.

Er hockte lange Zeit auf der Toilettenschüssel und quälte sich mit seiner Darmträgheit. Während er presste, bis er glaubte, die Augen drückte es aus ihren Höhlen, hatte er Rilkes Geschichten vom Lieben Gott auf den Knien. Dorothee verlachte ihn öfters mal, wenn sie ihn in Rilkes Werk schmökern sah. Ihr war der zu getragen. Sie las deutsche und skandinavische Thriller, hin und wieder einen Franzosen, unlängst hatte sie sogar einen Lawrence Durrell auf dem Nachtkästchen liegen. Hoffentlich hatte den niemand anders dort liegen lassen.

Nein, das ging zu weit! Auch wenn sie sich vorhin offensichtlich über ihn lustig gemacht hatte. Naja, die Frage nach ihrer Loyalität musste schon mal erlaubt sein. Unbedingt! Aber einen Lawrence Durrell …, war es Bittere Limonen gewesen? Er würde nachher doch mal nachsehen, ob der Band noch aufzufinden war.

Nein, er war kein Kontrollfreak und außerdem, wer im Glashaus sitzt: Vage erinnerte er sich an eine lauwarme Affäre mit einer Vertretungslehrerin im Kollegium am Schiller-Gymnasium in Augsburg, wo er seit seinem Studienabschluss Deutsch und Französisch unterrichtete. Zwei oder dreimal hatte er sie in ihrer Wohnung aufgesucht, doch über nervöse Fummelei und hektisches Geküsse waren sie nicht miteinander hinausgekommen. Nein, das war ja nicht mal als Affäre zu betrachten, das war gar nichts gewesen. Wenn er sich jedoch vorstellte, Dorothee treibe vergleichbares mit einem dieser farblosen Vögel in der Anwaltskanzlei … oder an einem ihrer freien Vormittage zuhause, wenn er in der Schule war? In jedem Fall eher unwahrscheinlich, dass ein eventueller Lover auch noch seine Bettlektüre mitgebracht hätte.

Heiner löste sich von solchen Gedanken und betrachtete den dürftigen Erfolg seiner Bemühungen, wischte sich ab und erhob sich, um seine Kleidung wieder zu richten. Er zog an der altmodischen Kette mit dem weißen Keramikgriff und zuckte beim lauten Geräusch des herabrauschenden Wassers – wie fast immer – zusammen. Sie hätten doch einen dezenten Wandspülkasten installieren sollen, statt das antike Gerät einzubauen. Er legte den über seiner Grübelei diesmal ungelesenen Rilke wieder auf das dunkel gebeizte Bord am Fenster und wandte sich seinem Spiegelbild über dem Waschbecken zu. Gründlich putzte er seine Zähne und fuhr sich anschließend mit den Fingern durch die dichten halblangen Haare. Dabei beugte er sich vor und schaute sich aus nächster Nähe in die Augen. Er sollte weniger trinken, die feinen roten Äderchen, die das Weiße des Augapfels trübten, sahen wenig vertrauenerweckend aus. Veränderung hin, Veränderung her. Er spülte den Mund, spuckte in das Becken und warf sich mit den Händen noch einige Male kaltes Wasser ins Gesicht. Schließlich rubbelte er sich trocken und ließ das Handtuch auf den Boden fallen. Wäsche. Egal.

 

Er holte aus dem begehbaren Kleiderschrank am Ende des Flurs ein leichtes hellblaues Sommersakko und verstaute Geldbörse und Mobiltelefon darin, die auf einem schmalen Sideboard vor der Treppe ins Erdgeschoss auf ihre Abreise gewartet hatten. Bevor er sich zum Gehen wandte, prüfte er sein Aussehen in dem deckenhohen Spiegel am Ende des Flurs. Farblich stimmig, Haltungsnote ungenügend. Er zwinkerte sich dennoch selber zu. Heute ging’s los. Endlich.

Auf den ersten Stufen machte er noch einmal kehrt und ging zurück ins Schlafzimmer. Dieses wurde beherrscht von einem übergroßen Doppelbett mit Massivholzgestell aus hellem Nussbaum. Zu beiden Seiten waren Schubladenelemente aus silberfarbig eloxiertem Aluminium angebracht. Auf Heiners Fach lag noch die Armbanduhr. Während er sie anlegte, wanderte sein Blick zu Dorothees Seite. Zwei Kurzgeschichtenbände eines jüngst verstorbenen Finnen aber kein Lawrence Durrell. Aha. Doch sie las viel, sicher war sie schon damit durch oder sie hatte es langweilig gefunden und irgendwo ins Regal im Flur gesteckt. Wegwerfen konnte sie ja nicht mal das zerlesenste Taschenexemplar.

Im Vorbeigehen scannte er flüchtig die Regalwand aber der berühmte Schreiber, der es nie zum krönenden Nobelpreis gebracht hatte, hätte mit seinem Büchlein schon sehr auffällig geparkt sein müssen, um ihn so auf die Schnelle zu lokalisieren.

„Suchst du was?“

Heiner schrak auf, es war ihm entgangen, dass Dorothee sich mittlerweile in ihrem gemeinsamen Arbeitszimmer aufhielt, das als offener Bereich in U-Form um die Treppe herum angelegt war.

„Nö, hab nur so geguckt! Ich geh dann mal!“

„Sag schöne Grüsse! Und, Heiner: Ändere nicht zu viel auf einmal!“ Wieder lächelte sie zu seinem Missfallen listig. Aber er hatte wichtigeres vor, als sich jetzt noch an solchen Kleinigkeiten hochzuziehen.

Mit säuerlicher Miene hauchte er einen Luftkuss in ihre Richtung und ging rasch nach unten, wo er sich Haus- und Autoschlüssel von der Hakenleiste griff und die Tür von außen so schwungvoll ins Schloss zog, dass die bunten Glaseinsätze klirrten.

Er stieg in den kleinen japanischen SUV, der neben Dorothees Golf in einem wie das Schindeldach des Hauptgebäudes gedeckten Carport stand. Die Träger der Konstruktion stammten aus dem ehemaligen Dachstuhl der Dorfkirche. Ein echter Glücksfall damals, dass er, warum auch immer, als bekennender Atheist vom Pfarrer den Zuschlag bekam, das ganze Holz abzuholen, als das Dach der Kirche wegen eines Sturmschadens zur Komplettsanierung fällig wurde. Wahrscheinlich hatte sich aus dem Dorf sonst niemand interessiert, weil die Nachbarn auf ihren Waldgrundstücken genug mit dem Bruchholz aus derselben Sturmnacht zu tun hatten. Heiner hatte den Carport und einige Regale im Haus aus dem Gebälk gezimmert, den Verschnitt durch den offenen Kamin geschickt und in der ehemaligen Scheune lagerten noch etliche der gut erhaltenen Balken, die sicher schon an die zweihundert Jahre von ihrem ehemaligen Stamm getrennt ihr Dasein fristeten.

Sehr unwahrscheinlich, dass er in diesem Leben noch weitere verbauen würde. Nicht dass er plante, an seiner Lebenszeit durch verkürzende Maßnahmen herum zu manipulieren. Aber heute, genauer ausgedrückt, ab heute, würde er sein Leben verändern. Radikal. Nichts, was auch nur entfernt an die Veränderungen im Leben eines jungen Zimmermanns im Nahen Osten vor etwa zweitausend Jahren erinnerte. Nicht so. Aber könnte schon sein, dass auf dem Weg die eine oder andre Kreuzigung stattfinden würde. Im übertragenen und so weiter. Keine Kompromisse mehr. Sollte Dorothee ihr Lächeln genießen, bis es Falten warf!

Aber erst mal würde er ein paar ruhige Stunden im Schachclub einlegen. Seit langer Zeit ging er jeden zweiten Samstag dorthin und hatte mittlerweile ein Level erreicht, auf dem er keinen Gegner mehr fürchtete. Insbesondere freilich, weil er keine Angst vor dem Verlieren hatte. Es ging ja um nichts. Fast nichts. Die Ruhe und nahezu körperlich spürbare Konzentration der im Raum verteilten schweigenden Spieler fingen ihn meist ganz schnell ein. Das leise Klappern der Figuren auf den schwarzweißen Feldern, das kurze, metallische Klicken der Uhren, wenn ein Spieler seinen Zug gemacht hatte und hin und wieder ein verhaltenes Stöhnen oder ein Seufzer, in der Folge eines mit gelassener Stimme gesprochenen „Schach!“ oder dem altmodischen „Gardez!“, all das hatte für ihn etwas Meditatives und schenkte Vergessen oder vielleicht auch nur Kurzweil.

Wobei er sich selber hin und wieder eingestand, dass es ihm ähnlich ging wie dem Trinker im Kleinen Prinzen: er hatte längst vergessen, was er vergaß. An diesem Samstagnachmittag wurde er den fatalen Gedanken nicht los, er müsste gerade darüber noch einmal nachdenken. Eben, weil die Veränderung rief. Oder weil er sie rief. Aber dazu blieb erst mal gar keine Muße.

Der Schachpartner eines guten alten Bekannten, Lupo, der sich selbst gern als gemäßigten Wolf bezeichnete, legte gerade seinen König um, als Heiner den Vereinsraum betrat. Lupo winkte ihm zu, näher zu kommen, denn der Mann, der soeben die letzte, ziemlich hoffnungslose Partie durch Aufgabe beendet hatte, stand unverzüglich auf und verabschiedete sich mit einem leisen „Danke und bis zum nächsten Mal.“ Heiner nickte ihm flüchtig zu und während er den freigewordenen Platz einnahm, schüttelte er Lupo die Hand und machte sich ohne weiteren Small Talk daran, seine Figuren aufzubauen. Er hatte weiß gelost und eröffnete angriffslustig mit dem Bauern, der auf dem schwarzen Feld vor der Dame stand.

Lupo sagte „Aha“, nickte und holte einen der Springer nach vorne. Schweigend spielten sie mehrere Partien durch und gegen 18 Uhr 30 stand es zwei zu zwei. „Kannst du damit leben?“ Fragend schaute Lupo Heiner ins Gesicht.

„Klar“, meinte der, „es wird ja seinen Grund gehabt haben … hat mir übrigens wie immer richtig gut getan, mit dir oder besser gesagt, gegen dich zu spielen!“

„Na dann ist es gut, ich muss nämlich …“ Lupo erzählte, dass sie heute Besuch bekämen und, nach einem prüfenden Blick ins Gesicht seines Schachfreundes, erkundigte er sich noch bei Heiner, ob ansonsten alles im Lot sei.

„Freilich, alles okay. Während wir hier gespielt haben, ist Doro vermutlich mit einem ihrer Chefs ins Bett gestiegen aber mich juckt es nicht weiter, weil ich sowieso nur noch vier Monate zu leben habe.“ Heiner zwinkerte und Lupo fiel die Kinnlade nach unten.

„Leise, bitte!“, zischte eine Stimme vom Nebentisch.

Heiner machte eine entschuldigende Geste, indem er beide Hände hob, als würde er mit einer Waffe bedroht. Dann sagte er mit zum Flüstern gesenkter Stimme zu Lupo: „Das war nur Blödsinn, es ist wirklich alles in Ordnung. Mach dir keinen Kopf und genieß den Abend!“

Er klopfte seinem Schachfreund auf die Schultern und während sie sich gemeinsam zum Ausgang bewegten, raunte Heiner dem Kollegen am Nebentisch noch ins Ohr: „Dame auf B12.“

Verblüfft oder auch mechanisch machte der genau diesen Zug und Heiner meinte, noch in der Tür ein gepresstes „Vollidiot!“ gehört zu haben, als der unscheinbare Läufer des Gegners aus dem Hintergrund heranrauschte und die Dame auf B12 wegpustete.

„Gut drauf, was?“, meinte Lupo und sie verabschiedeten sich noch mal mit Handschlag. Heiner ließ sein Grinsen und den Wagen stehen und ging mit weit ausholenden Schritten zwei Blocks weiter zu einem kleinen italienischen Lokal. Eine Osteria mit viel Nippes und gerahmten alten Schwarzweiß-Fotos an den Wänden und Vasen mit Plastikblumen auf den klassischen Rotweiß karierten Tischdecken. Es herrschte reger Betrieb und Heiner musste sich mit einem Katzentischchen begnügen, immerhin näher an der Theke als der Toilette. Er legte die Serviette in den Schoss und studierte die Speisekarte. Keine Veränderung auf nüchternen Magen oder?

Einige Stunden zuvor rollte, kurz nachdem Heiner das Haus verlassen hatte, ein großer dunkelblauer BMW auf den freigewordenen Platz im Carport. Ein dezent sportlich gekleideter Mann mit kurz geschnittenen grauen Haaren und tiefen Geheimratsecken stieg aus und ging zielstrebig zur Haustür, die in diesem Moment geöffnet wurde. Dorothees Blick ging nach links und rechts, dann zog sie den Besucher am Arm in den Flur. Er gab einen tiefen Seufzer von sich und beugte sich vor, um ihr einen Begrüßungskuss zu geben, der keinen Zweifel daran ließ, was der Zweck seines Besuchs war.

Dorothee machte sich los und ging voraus in das großzügige Wohnzimmer mit dem angebauten Wintergarten. Sie scheuchte die Katze von einem ausladenden Sofa und ließ sich nieder. Der Besucher, übrigens keiner von Dorothees Vorgesetzten sondern einer der Klienten, die sich regelmäßig in wirtschaftsrechtlichen Fragen beraten ließen, blieb noch stehen.

Manchmal wusste sie nicht so recht, was sie mehr fürchtete: Heiners Reaktion, wenn er Wind von diesen Besuchen bekam oder die Konsequenzen, sollte es in der Kanzlei bekannt werden. Techtelmechtel mit Klienten waren ein absolutes No Go!

Der Mann fuhr mit der Rechten spielerisch an einem der Bücherbords entlang und verhielt an einer Stelle kurz. „Oh, Durrell’s Bittere Limonen! Hast du das gelesen?“ Er beließ den Band im Regal und setzte sich neben sie.

„Hab’ ich, tatsächlich. War aber nicht so sehr prickelnd; die griechische Geschichte hat für mich vor zweitausend Jahren ihren Reiz verloren. Und Zypern? Naja! Außerdem …“, sie zögerte einen Augenblick, „ich weiß gar nicht, weshalb sich die Männer in meinem Leben heute so sehr für die Bücherregale in diesem Haus interessieren.“

„Na schön, meine kleine Bubulina …“

„Hör’ auf mit dem Blödsinn und komm schon her, wir haben nicht sehr viel Zeit!“

Die nächsten anderthalb Stunden verloren sie sich in eher routinierten als leidenschaftlichen erotischen Leibesübungen, in deren Anschluss beide etwas außer Puste ihre Kleidungsstücke wieder zusammensuchten. Er verschwand für einige Minuten im Bad, um wenig später frisch gestylt wieder ins Zimmer zurückzukehren. Seine Augen glänzten und man hätte ihm seine sechsundfünfzig Jahre nicht zugetraut.

Hatten sie schon während ihrer Umarmung nicht viel gesprochen, entstand auch jetzt keine Unterhaltung mehr. Der Besucher war schon mit einem Fuß auf dem Heimweg.

„Lass’ uns die Tage telefonieren!“

„Ja, gute Idee, komm gut nachhause und, halt, warte mal, dieses Haar bleibt hier!“ Sie zupfte eines ihrer langen Haare von seiner Schulter und küsste ihn noch mal feucht auf den Mund und fuhr mit der Hand über seine Brust Richtung Bauchnabel.

„Grüss’ deine Frau!“

„Haha …“, er verzog die Miene. „Ich krieg’ mich gar nicht mehr ein! Also, ich muss dann los.“

„Sowieso!“

„Mach’s gut!“

„Tschüs!“

Nur wenig später war das leise Brummen des Sechszylinders zu hören, als der Mann vom Grundstück fuhr.

Dorothee lüftete, nahm das Plaid vom Sofa und steckte es in den Wäschekorb im Keller, anschließend legte sie eine andre Decke auf den Schauplatz ihrer außerehelichen Aktivitäten und zupfte sie zurecht. Das benutzte Kondom wickelte sie in ein Stück Zeitung und verbrannte es im Kamin, wo es schmurgelnd seinen Aggregatszustand wechselte.

Reinhold hieß der Mann, der Name ging ihr kurz durch den Kopf, bevor sie ihn wieder in die Außenregionen der bei ihr gespeicherten Namenstabellen schickte.

Dann schaute sie auf das Display ihres Smartphones, ob sie Anrufe oder Nachrichten verpasst hatte. Nichts. Es ging schon Richtung Ziehung der Lottozahlen auf dem stumm geschalteten Flachbildschirm, Heiner müsste bald zurück sein. Sie ging in die Küche und bereitete alles für ein schnelles Pasta Gericht vor. Eine Handvoll Rinderhack briet sie in Olivenöl an und gab fein gewürfelte Zwiebeln dazu. Sie mochte diesen deftigen Geruch, und erst recht, wenn die Aromen frischer Kräuter und Tomatenstücke sich einmischten. Sie zögerte, ob sie die Spaghetti schon zu Wasser lassen sollte, doch ein leises Knurren ihres Magens tat das seine und sie warf die Nudeln in das brodelnde Salzwasser. Sie würde ihre al dente essen. Mochte Heiner später, wann auch immer der Herr gedachte, von seiner Veränderungstour im Schachclub zurückzukehren, doch seine Portion in die Mikrowelle schieben.

Sie schenkte sich ein Glas von dem Rioja ein, den sie im Zuge der Kochvorbereitungen schon gelüftet hatte. Ein fünf Jahre alter Tropfen aus der Umgebung von Logroño, dunkel und samtig. Den berühmten Beeren, die man angeblich aus vielen Weinen einzeln herausschmeckte, konnte sie noch nie etwas abgewinnen. Ein Wein schmeckte nicht nach irgendetwas, sondern er war gut oder er war es nicht. Der hier war sehr gut und noch besser war, dass Heiner davon noch mehrere Kartons im Keller hortete.

 

Heiner. Wo er nur blieb? Sie musste zugeben, es irritierte sie, dass er mittlerweile weder zurückgekehrt war noch angerufen hatte.

Sie ließ sich die Pasta schmecken und nahm zweimal nach. Das würde sie erst auf der Waage und dann auf dem Crosstrainer büssen.

Hatte Heiner den Besucher noch an- oder abfahren gesehen und leckte jetzt in irgendeiner Kneipe bei hochprozentigen Drinks seine Wunden? Der sollte sich mal nicht so haben, und er sollte ja nicht glauben, sie habe damals nicht mitbekommen, dass er mit dieser kleinen Schlampe von Aushilfslehrerin rumgemacht hatte! Es war ihr mittlerweile egal, was damals wirklich gelaufen war – oder auch nicht, Klammer zu – aber sie war schon verletzt gewesen, dass er sich mit jemand andrem abgab. Und ihr nichts anvertraut hatte. Nie hatte er etwas angedeutet.

Und jetzt wollte er also wieder mal sein Leben verändern. Erstaunlich, dass er den Satz diesmal von sich gab, ohne unter einem mittelprächtigen Kater oder einem Tief in seinem Biorhythmus zu leiden. Denn so war es bisher immer gewesen. Meist brachte ihn ein deftiges Mittagessen und ein anschließendes Nickerchen oder ein Nachmittag bei seinen schweigsamen Schachkumpels wieder in die Spur. Aber neben der war er heute eigentlich gar nicht gewesen. Eigentlich. Und was war nun los? Ahnte er doch etwas?

Sie beschloss, ihn anzurufen und nahm das Mobiltelefon wieder auf. Sie wischte über das gläserne Display, stoppte bei H wie Heiner und tippte auf das grüne Wahlsymbol. Sie drückte die automatische Ansage „Dieser Anschluss ist …“ weg und tippte mit flinken Fingern eine SMS mit dem knappen Text „Wo bist du?“. Sie zappte während des Wartens auf seinen Rückruf oder eine Nachricht ein paar Programme am Fernseher durch. Alles öde.

Sie schenkte sich von dem Rioja nach und griff sich ahnungslos den an diesem Tag mit besonderer Bedeutung gesegneten Durrell’schen zypriotischen Reisebericht. Aber sie fand erneut nicht so recht in den Stoff und schob das Buch nach kurzer Zeit wieder irgendwo zwischen andere Paperbacks in einem der Regale. Sie nahm ihr Telefon und tippte auf den Nachrichten-Button: keine Reaktion von Heiner!

Auf Empfehlung des Kellners, unter dessen Achseln sich wenig appetitanregende Schweißflecken großflächig ausbreiteten, entschied Heiner sich für das Kaninchenragout auf Römische Art und dazu ein Risotto mit schwarzen Trüffeln. Auch die Weinempfehlung des Schwitzenden nahm er gerne an, einen leichten toskanischen Rotwein, der hervorragend zu dem Essen passte und weil dem so war, trank Heiner gleich eine ganze Flasche.

Entsprechend locker lief er durch die Strassen der Stadt in die Abenddämmerung hinein, einerseits mit gewölbtem Bäuchlein infolge der reichlichen Mahlzeit, andrerseits angeregt durch den starken Espresso. Einen vom Kellner (der hatte zwischenzeitlich ein frisches weisses Hemd übergestreift) angebotenen Grappa hatte er nach kurzem Zögern dankend abgelehnt. Er war sehr angetan von Küche und Ambiente des Lokals. Aber er hatte noch mehr vor.

Er streckte sich aus seiner wie üblich weit nach vorn gebeugten Haltung und legte den Kopf in den Nacken. Am abendlichen Himmel standen nur ein paar harmlose Wölkchen, es versprach, eine trockene warme Nacht zu werden. Gut so, dachte er. Den Wagen hatte er ja beim Schachclub stehen lassen.

Er lief an der Fuggerei vorbei, durchquerte das Lechviertel und hielt sich in den kleinen Strassen in Richtung Augsburger Puppenkiste, schwenkte jedoch dort in der Nähe rechts weg vom Stadtgraben in eine enge kleine Gasse und verhielt vor einer schlichten aber ziemlich massiv wirkenden Tür zu einem geduckten, heruntergekommenen Gebäude aus der Übergangsphase ins zwanzigste Jahrhundert.

Heiner klopfte. Und dann gleich noch einmal, diesmal fester. Eine Klappe öffnete sich und ein rundliches, unrasiertes Gesicht schaute auf Heiners Hemdbrust.

„Könnten Sie sich mal runterbücken, damit ich mehr sehe als Ihre Gürtelschnalle? Außerdem ist es noch früh am Abend, da können Sie sich ruhig noch ein wenig gedulden. Hallo?!“, sagte das stachelige Mondgesicht in Heiners Oberkörper hinein. Der beugte sich hinunter zu dem Fenster und sagte leise: „Ich komme auf Empfehlung von Dieter Mages …“

„Ja, wenn Sie ein Kumpel vom Didi sind!“ Die Stimme des Türstehers war von der augsburgschen Mundart gefärbt, was dem ansonsten eher rüden Ton einen Anflug von Wärme verlieh.

Die Tür öffnete sich und wurde nach Heiners Eintreten schnell wieder geschlossen. Er blickte sich in dem schwach ausgeleuchteten Flur um und bemühte sich, flach zu atmen. Hatte der italienische Kellner nur geschwitzt, so trotzte der Türsteher Heiners Handicap, indem er bei jeder kleinen Bewegung einen Schwall von Ausdünstungen anbot, die einen schwer glauben ließen, er habe in diesem Monat schon einmal geduscht. Und auch Hemd und Hose waren überfällig. Auf der Brusttasche, aus der ein Mobiltelefon ragte, prangte ein brauner Fettfleck, dessen Kontur an die iberische Halbinsel erinnerte.

„Hände bitte an die Wand und Füße auseinander!“

Heiner reagierte unwillig auf die barsche Aufforderung aber ihm war klar, dass er sofort wieder rausfliegen würde, wenn er sich widersetzte. Seufzend tat er dem Mondgesicht den Gefallen, der ihn unverzüglich mit geübten Griffen abtastete und nur Sekunden später sagte: Alles klar, Sie können rein!“

Während er durch einen schweren roten Vorhang aus dem brackig riechenden Foyer in den dahinterliegenden Raum trat, vergewisserte sich Heiner durch einen kontrollierenden Griff in die Brusttasche, dass seine Geldbörse am gewohnten Ort war. Ein Teil der zweitausend Euro, die er am Freitag mittags noch abgehoben hatte, steckte zusammengerollt in seiner Hosentasche. Die Finger des Security-Typen an der Tür hatten ganz kurz an der Stelle verhalten und waren dann weiter an seinem Körper herunter gefahren.

Der große, fensterlose Raum war mäßig gefüllt mit Menschen, überwiegend Männer, deren Kleidungs-Mix darauf schließen ließ, dass Vertreter aller Gesellschaftsschichten sich hier zum Glücksspiel trafen. In einigen Nischen wurde gepokert, wie Heiner nach einem flüchtigen Blick einschätzte.

Einige Tische mit Black Jack und in der Mitte des Raums der Roulettetisch. Dorthin zog es Heiner. Er war zum allerersten Mal überhaupt in so einem Etablissement, hatte Adresse und Parole mehr oder weniger zufällig vor zwei Wochen in der Umkleidekabine des Schwimmbads einem Gespräch zweier Männer entnommen und später aufgeschrieben. Irgendwie hatte er da schon dieses Gefühl gehabt, dass es an der Zeit sei.

Eine dunkel gefärbte Frauenstimme sprach ihn von der Seite an. „Sie sind sicher zum ersten Mal hier? Kann ich Ihnen behilflich sein? Poker? Roulette? Oder etwas ganz anderes?“

Beim letzten Satz blickte die Frau in dem kurzen hochgeschlossenen Etuikleid Heiner direkt in die Augen. Ein Schuss Koketterie lag in dem Lächeln, das ihrem etwas zu grell geschminkten Gesicht mit den ebenmäßigen Zügen gut anstand. Als sie auf Tuchfühlung ging, rückte Heiner auf Distanz.

„Ich möchte gerne ans Roulette. Wo kann ich denn Jetons kaufen?“

Sie lachte leise. „Oh, wir sind hier nicht in der Spielbank von Baden Baden. Alles, was wir hier so bieten, gibt es nur gegen Bares.“ Das Alles in ihren Worten dehnte sie anzüglich, ging dann aber mit wenigen Schritten vor an den Roulettetisch und zog für Heiner einen Stuhl in der Nähe des Croupiers zurück. Mit einer Handbewegung lud sie ihn ein, dort Platz zu nehmen.

„Was trinken Sie?“

„Einen Wodka Lemon, bitte!“

„Aschenbecher?“

„Danke, nein. Den brauche ich schon richtig lange nicht mehr.“

„Wenn Sie etwas andres brauchen, fragen sie nach mir. Ich bin Betty. Viel Erfolg!“

Als er sich umsah, fiel im jetzt erst auf, dass fast alle, die an den Tischen im Raum verteilt saßen, Zigaretten oder Zigarillos rauchten und blaue Qualmschwaden unter der schlichten Holzdecke waberten.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?