Mord im Spital

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Mord im Spital
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Titel

Herbert Lipsky

Mord im Spital

Kriminalroman

Leykam

Die Handlung und alle im Roman vorkommenden Personen sind frei erfunden. Es gibt in Graz zwar eine große Klinik, aber Ereignisse wie die in diesem Buch beschriebenen haben dort bisher noch nie stattgefunden. Sie können sich also getrost weiterhin ins Spital begeben und sich dort behandeln lassen. Der Kaiser-Josef-Platz, die Thalia und das Café Promenade existieren natürlich auch, und es kann schon sein, dass dort ähnliche Gespräche und Vorkommnisse stattgefunden haben. Aber alle Übereinstimmungen sind rein zufällig.

Auf ausdrücklichen Wunsch der Leserinnen und Leser hat der Held diesmal kurzzeitig den Pfad der Tugend verlassen. Nehmen Sie es ihm nicht übel!

Alles Gute zum Geburtstag

Am Morgen des Tages meines 45-jährigen Bestehens wachte ich früh auf. Die Feier dieses wichtigen Ereignisses findet jedes Jahr im Mai statt – eine Jahreszeit, bei der am Morgen so lautes Vogelgezwitscher herrscht, dass ein längeres Schlafen ohnehin unmöglich wird. Neuerdings krächzen aber auch Krähen. Ich stand also auf, ging noch im Pyjama in den Garten und streifte barfuß durch das taufeuchte Gras. Mit Wohlgefallen betrachtete ich die blühenden Blumen und Sträucher und stellte fest, dass wir heuer eine reiche Kirschenernte haben würden. Die Sonne schien bereits durch die Bäume. Ich ließ mich von ihr erwärmen, dachte nach und horchte in mich hinein: Von einer Midlife-Crisis nichts zu bemerken – ich war zufrieden und fühlte mich gut. Weit und breit nichts als Zufriedenheit, zufrieden mit der Familie, dem Beruf und mit meinem Freundeskreis. Kein Wunsch nach einer ­Änderung. Das war eigentlich pathologisch. Jeder Psychologe würde das abartig finden. Wahrscheinlich verdrängte ich nur mein Unglück, und mein Glücksgefühl war zwar ein angenehmer Zustand, aber nur Selbsttäuschung. Ohne Zweifel würde eine genügend lange Psychoanalyse dies aufdecken, es würden Zweifel aufkommen und mich so richtig unglücklich machen.

Ins Haus zurückgekehrt machte ich mir einen Espresso und setzte mich mit den Zeitungen auf die Terrasse. Nach einer Stunde gesellte sich Julia, meine geliebte Frau, zu mir. Sie gab mir einen Kuss und sagte: „Alles Gute zum Geburtstag.“ Ich dankte ihr, und dann kämpften wir uns beide schweigend durch die aktuellen innenpolitischen Skandale Österreichs.

Nach einer Weile fragte ich: „Welche Pflichten hast du heute für mich ausersehen?“

„Keine, mein Liebling. Alles ist organisiert. Zwei junge Damen werden mir helfen.“

Am Nachmittag erwarteten wir einige Freunde, die mit uns meinen Geburtstag feiern würden. Ich freute mich schon darauf – der Himmel war wolkenlos, das Wetter stabil, und wir würden alles unter freiem Himmel genießen können.

Später kam unsere kleine Tochter, ihr Schlaftier unter dem Arm. Ich bekam noch einen Kuss und eine wunderschöne Zeichnung in die Hand gedrückt. Darauf stand, umkränzt von Vergissmeinnicht: „Alles Gute zum Geburtstag, Papa! Ich habe dich lieb, Theresa.“

Was will ein Mensch mehr? Das Leben war schön und alles in bester Ordnung. Ins Spital würde ich heute nicht gehen. Ich bin nämlich Chirurg und kann mich nicht immer so leicht meiner Pflichten entziehen. Denn die Arbeit eines Chirurgen endet nicht mit der letzten Naht oder Klammer, mit denen er den Leib seines Patienten verschließt, sondern erst, wenn dieser das Spital geheilt verlassen hat. Eigentlich auch dann noch nicht, schließlich erwartet der Patient darüber hinaus auch noch, dass er gesund bleibt. Aber derzeit ging es allen meinen Frischoperierten gut, und ich musste mir keine Sorgen machen. So werkte ich am Vormittag ein bisschen im Garten, schnipselte an den Bäumen und Büschen herum (Julia mag es absolut nicht, wenn ich lange Äste zurechtstutze), entfernte einige abstehende Grasbüschel und hob kleine Zweige vom Boden auf. Alles, um auf die Gäste einen guten Eindruck zu machen. Einen perfekten Garten würden wir ohnehin nie haben.

Meine Schwiegermutter war gekommen, und aus der Küche drangen durch die offenen Fenster vielversprechende Düfte. Zu Mittag gab es nur einen Teller Suppe, denn am Nachmittag würden wir sowieso alle zu viel essen und trinken.

Um vier Uhr trafen die ersten Gäste ein, denen zwei junge Damen Drinks anboten. Unsere Freunde hatten sich im Garten und auf der Terrasse verteilt, im Haus ­lagen viele Geschenke. Um fünf waren alle gekommen und das Buffet wurde für den Ansturm freigegeben. Ich hatte nur ein Glas Wein getrunken, weil ich den Überblick bewahren und eine kleine Rede halten wollte. Es war bereits so laut, dass ich fast das Festnetztelefon überhörte, das schon eine Weile läutete. Der diensthabende Oberarzt meiner Abteilung war am Telefon.

„Herr Prof. Leistenschneider, Sie müssen sofort kommen, Herr Dr. Lederer ist gestorben!“

Ich stand da, wie vom Donner gerührt. Fritz Lederer war ein bekannter Industrieller, bei dem ich vor einigen Tagen eine komplikationsfreie Operation durchgeführt hatte. Er war bereits mobilisiert worden, es ging ihm gut, und er hätte bald nach Hause gehen sollen. Außerdem war ich auch privat mit ihm bekannt, seine Frau war eine Studienkollegin von mir.

„Ich komme sofort.“

Julia hatte mich am Telefon gesehen und musste an meinem Gesichtsausdruck gemerkt haben, dass irgendetwas vorgefallen war.

„Ich muss ins Spital, Lederer ist gestorben.“ Sie kannte ihn aus ihrer Kanzlei, sie ist Rechtsanwältin und hatte schon mehrere Rechtsgeschäfte für ihn erledigt.

Ich raste mit dem Auto ins Spital und stürmte die Treppen hinauf. Durch die offene Tür betrat ich das Krankenzimmer. Die Ärzte des Reanimationsteams waren gerade dabei, sich zurückzuziehen. Lederer lag blass im Bett, ein Tubus ragte aus seinem Mund, Schläuche führten zu einem Beatmungsgerät, das Schockgerät stand daneben. Mindestens acht Personen waren im Raum. Ich trat zu ihm und berührte ihn, sein Körper war noch warm. Im Raum herrschte totales Chaos, es sah wie ein Schlachtfeld aus, Schläuche, Tupfer, Injektionsspritzen lagen am Boden.

Der Anästhesist sagte zu mir: „Als wir zu ihm gerufen wurden, war er bereits tot. Seine Pupillen waren weit. Wir haben alles versucht.“

„Verfassen Sie bitte ein Protokoll und führen Sie alle Medikamente an, die Sie ihm gegeben haben.“

„Mach ich, selbstverständlich.“

Das Reanimationsteam räumte die Apparate aus dem Krankenzimmer. Ich ersuchte sie, alle Anschlüsse, die zum Patienten führten, zu belassen, ebenso die noch angeschlossene Infusion, dann ging ich ins Schwesternzimmer. Die diensthabende Schwester saß völlig gebrochen vor einer Tasse Kaffee.

„Wie ist es passiert?“, fragte ich sie.

„Seine Frau hat ihn besucht, sie sind am Gang auf und ab spaziert. Dann ist sie gegangen. Er kam zu mir und meinte, es wäre jetzt so weit und ich könne ihm nun seine Infusion geben. Er hätte das Antibiotikum eigentlich schon früher bekommen sollen, es stand schon auf seinem Nachttisch, aber er wollte mit seiner Frau noch etwas Bewegung machen. Wir gingen dann zusammen in sein Zimmer, er legte sich ins Bett, ich schloss die Infusion an der liegenden Leitung an und verließ das Zimmer. Zehn Minuten später hat er geläutet, ich bin sofort zu ihm, aber da war er bereits blau im Gesicht. Ich habe um Hilfe gerufen und versucht, ihn Mund zu Mund zu beatmen. Der Stationsarzt ist sofort gekommen und hat die Reanimation eingeleitet. Ich glaube, innerhalb von fünf Minuten war das ganze Reanimationsteam da.“

Sie schluchzte und begann zu weinen.

Ich tröstete sie, so gut es ging: „Sie trifft keine Schuld, Sie haben rasch und umsichtig gehandelt.“

Dann nahm ich die Krankenblätter in die Hand. ­Alles war korrekt. Ich würde seine Frau anrufen müssen, das war ich ihr schuldig. Ihre Handynummer war in der Krankenakte vermerkt. Ich erreichte sie sofort. Sie meldete sich atemlos, als ob sie etwas ahnte.

„Paul am Apparat.“

„Ist etwas mit Fritz?“

„Marion, es ist etwas Schreckliches passiert.“

„Ist er tot?“, fragte sie ohne Umschweife.

„Er dürfte eine Embolie erlitten haben. Wenn du kommst, bitte lass dich chauffieren. Ich warte auf dich.“ Sie hängte ohne Antwort auf.

Ich ging wieder zu dem Toten. Marion würde ihn sehen wollen. Ich zog den Tubus heraus und schloss ihm, so gut es ging, den Mund. An einem Ständer hingen eine größere Infusionsflasche, die offenbar die Anästhesie angehängt hatte, und eine kleinere, wohl das Antibiotikum. Ich nahm beide ab und stöpselte die venöse Leitung zu. Dann kehrte ich mit beiden Infusionen in mein Zimmer zurück und schloss sie in einem Kasten ein.

Es dauerte nicht lange, bis Marion Lederer, geführt von ihrem Sohn, den Gang entlangkam. Ich umarmte sie und begrüßte auch den Sohn, der mich abweisend anstarrte. Ich führte beide in mein Büro. Marion sah bemitleidenswert aus, diese hübsche, stolze Frau schien in kürzester Zeit gealtert und gebrochen zu sein. Ich erzählte den unglücklichen Hergang und betonte, dass zwar rasch Hilfe zu Stelle gewesen sei, aber keine Reanimation mehr möglich gewesen war.

„Ich denke, es war eine Lungenembolie. Aber das wird die Obduktion zeigen.“

„Vielleicht haben Sie ihn auch schlecht operiert“, sagte der Sohn feindselig.

„Bitte, Sebastian, hör auf“, sagte Marion.

„Auch das wird die Obduktion zeigen, die von einem unabhängigen Gerichtsmediziner durchgeführt werden wird.“

„Ihr Ärzte haltet alle zusammen, eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.“

„Wie Sie meinen, Sie können jetzt zu Ihrem Vater.“

Ich führte sie ins Krankenzimmer und ließ sie mit dem Leichnam allein, dann ging ich ins Schwesternzimmer und setzte mich zu der armen Diensthabenden, für die bereits eine Ablöse gekommen war. Ich versicherte ihr nochmals, dass sie alles einwandfrei gemacht habe. Dann fragte ich sie, wer die Infusion vorbereitet habe. Das habe der Turnusarzt getan. Wo seien die Stechfläschchen des Antibiotikums? Sie müssten noch im Müll liegen. Gemeinsam durchsuchten wir den Müllsack und wurden fündig. Wir fanden auch die Durchstichflaschen des ­Natriumchlorids, mit dem das Antibiotikum aufgelöst worden war. Ich nahm alles an mich, auch die Packung, in der sich das Antibiotikum befunden hatte und in der sich noch einige ungeöffnete Chargen befanden.

 

„Schreiben Sie mir bitte auf, wie alles abgelaufen ist, das wird Sie völlig entlasten.“

Sie versprach mir, es zu tun.

Nach einer Viertelstunde kamen Mutter und Sohn aus dem Krankenzimmer. Marion sah mich im Schwesternzimmer sitzen und kam herein.

„Paul, entschuldige meinen Sohn, er ist jung und ­impulsiv, hat keine Ahnung, wie die Dinge im Spital ablaufen. Ich danke dir, dass du gekommen bist, obwohl du heute Geburtstag hast. Du sagst mir dann, was bei der Obduktion herausgekommen ist.“

Wir verabschiedeten uns mit einer Umarmung, und ich ging in mein Büro. Die Ampullen und die Schachtel legte ich zu den Infusionsflaschen und verschloss den Schrank wieder. Telefonisch teilte ich dem Oberarzt mit, dass der Leichnam einer forensischen Obduktion zugeführt werden solle. Dann fielen mir meine Gäste ein. Ich blickte auf die Uhr, ich war nun bereits seit drei Stunden im Spital.

Daheim war die Party in vollem Gang. Ich nahm mir ein Glas Wein und schmuggelte mich unter meine Gäste. Nicht alle hatten meine Abwesenheit bemerkt, andere riefen mir zu, wo ich denn gewesen sei. Julia allein wusste, worum es gegangen war. Und obwohl ich mich bemühte, gelang es mir nicht, Fröhlichkeit und Ausgelassenheit vorzutäuschen. Rede hielt ich keine mehr. Der Tod meines Patienten war mir zu nahegegangen. Als alle Gäste weg waren, blieben Julia und ich im Garten sitzen und ich erzählte ihr von den dramatischen Vorgängen.

„Waren es Folgen der Operation?“

„Nein, das glaube ich nicht, die Operation ist gut verlaufen, der Heilungsverlauf war normal. Leider kommt es immer wieder vor, dass Patienten nach einem Eingriff eine Embolie erleiden, obwohl das Blut der Patienten routinemäßig ungerinnbar gemacht wird, um gerade das zu vermeiden. Diese Embolien lassen Chirurgen seit jeher verzweifeln, sie zeigen uns die Grenzen des Machbaren auf. Die Obduktion wird ohnehin zeigen, ob ein medizinisches Verschulden vorliegt.“

An diesem Abend benötigte ich ein Schlafmittel, das mich in einen tiefen und schweren Schlaf versenkte. Die Nachwirkungen des Medikaments waren nicht unerheblich, am nächsten Morgen fühlte ich mich zerschlagen und depressiv. Ich saß vor den Geschenken, mit denen mich meine Freunde und meine Familie bedacht hatten, aber anstatt mich darüber zu freuen, packte ich sie lustlos aus.

„Cheer up, Paul, das Leben geht weiter“, ermunterte mich Julia. „Es ist nicht deine Schuld, dass Lederer gestorben ist.“

„Abgesehen davon, dass man als Chirurg immer ein schlechtes Gewissen hat, tut mir Marion furchtbar leid. Die beiden waren so glücklich, alles haben sie gemeinsam gemacht. Sie hat nun den Boden unter den Füßen verloren.“

Julia wusste, dass Marion und ich in der Studienzeit eine Zeitlang zusammen gewesen waren. Marion war zwei Jahre älter als ich, und ich war ihr damals sehr zugetan gewesen. Sie hatte ein Jahr im Ausland studiert, das hatte unsere Beziehung beendet. Als sie zurückkam, hatten wir uns ausgesprochen und beschlossen, Freunde zu bleiben. Wenn Marion Probleme hatte, hatte sie mich früher immer angerufen. Sogar noch, als sie ihren Mann schon kennengelernt hatte. Ein klein wenig war Julia deswegen immer eifersüchtig gewesen. Wir hatten aber nie darüber gesprochen. Marion hatte mir auch ihren Mann zur Behandlung anvertraut. Wie würde es für sie nun weitergehen? Sie besaßen einen gut gehenden pharmazeutischen Betrieb in Graz und einen zweiten in Ungarn. Lederer war Doktor der Chemie gewesen, sein Hauptgeschäft machte er mit der Herstellung von Generika. Marion hatte eine kleine, aber feine medizinische Allgemeinpraxis mit einer wohlhabenden Klientel. Ihr Sohn, der uns der Schuld am Tode seines Vaters bezichtigt hatte, studierte noch. Ihre Tochter war bereits verheiratet, ihr Mann war ebenfalls im Familienunternehmen tätig. Ich wusste aber nicht, inwiefern Marion über die Geschäfte Bescheid wusste und welche Rechte sie in der Firma besaß.

In Graz, der zweitgrößten Stadt Österreichs, haben sich den letzten Jahrzehnten mehrere mittelständische Firmen entwickelt, die – wie die Lederer Pharmazeutik – 80 Prozent ihrer Produktion exportieren. Die Palette dieser Betriebe reicht vom Hochtechnologiesektor bis zur Holz verarbeitenden Industrie, und auch der steirische Autocluster zählt zahlreiche Unternehmen. Kein Wunder, dass die Stadt einen ständigen Zuwachs an Einwohnern verzeichnet. Die Lebensqualität ist sehr hoch, es gibt Schulen, mehrere Universitäten, ein Theater, eine Oper, zahlreiche Museen und Galerien und zwei symphonische Orchester. Auch naturbewusste und sportliche Menschen finden in nächster Nähe alles, was sie begehren. Trotzdem ist Graz eine überschaubare Stadt geblieben, man kennt sich, und es gibt, wie überall, einige Familien, die wirtschaftlich und politisch gut vernetzt sind und das gesellschaftliche Leben bestimmen. Die Lederers waren eine solche Familie, daher war der Tod von Fritz Lederer ein Ereignis, das sich wie ein Lauffeuer verbreitete.

Die Obduktion

Das Wochenende war irgendwie an mir vorübergegangen. Am Montag ging ich mit einem angespannten Gefühl zur Arbeit. Von meiner Sekretärin erfuhr ich, dass die Obduktion am Nachmittag im Institut für Gerichtsmedizin stattfinden würde. Geistesabwesend absolvierte ich mein Operationsprogramm und diktierte einige Briefe, bis der Anruf von der Gerichtsmedizin kam. Ich nahm die Schachtel mit den leeren Ampullen und die beiden Infusionsflaschen, in denen sich noch Flüssigkeitsreste befanden, steckte sie in einen Plastiksack und fuhr zum Institut. Als ich den Saal betrat, war der Gerichtsmedi­ziner bereits am Werk. Den Leib hatte er geöffnet und Herz und Lunge untersucht.

Prof. Neumeister wandte sich zu mir: „Kein Anhaltspunkt für einen Herzinfarkt oder eine Lungenembolie. Absolut nichts.“

Ich war erstaunt, denn ich war der festen Meinung, dass es nur eine Lungenembolie gewesen sein konnte. Er setzte seine Untersuchung mit der Exploration der Bauchhöhle fort. Ich hatte Lederer wegen eines Dickdarmtumors operiert und eine Resektion eines Darmstücks durchgeführt, bei der das erkrankte Darmstück entfernt und die gesunden Darmenden wieder miteinander vereinigt werden. Die Nähte waren dicht, die Anastomose war nicht aufgegangen, kein Zeichen einer Entzündung oder sonstiger Wundkomplikation war zu sehen, alles war so, wie es sein sollte. Der Pathologe setzte seine Untersuchung fort, die Schädeldecke wurde eröffnet, das Gehirn betrachtet. ­Makroskopisch waren alle Organe normal. Von allen wichtigen Organen wurden Gewebsproben entnommen, die anschließend unter dem Mikroskop ­untersucht werden sollten. Ebenso wurden Blut und andere Körperflüssigkeiten entnommen, um chemischen und toxikologischen Analysen unterzogen zu werden.

„Die Todesursache ist unklar, ich hoffe, dass die Analyse des Bluts einen Hinweis ergeben wird.“

Ich überreichte ihm den Sack mit den Infusions- und Durchstichflaschen: „Ich habe Ihnen die Infusionen und die Chargen der Medikamente mitgebracht. Möglicherweise waren sie nicht einwandfrei. Vielleicht hat er einen Schock auf das Antibiotikum erlitten. Allerdings hat er es bereits vier Tage lang erhalten und ohne Probleme vertragen.“

„Eines steht fest, und das ist für Sie wichtig: Die Operation ist nicht die Ursache des Todes.“

„Ich bin froh, dass Sie das sagen, aber ich habe des­wegen kein schlechtes Gewissen gehabt, denn die Indikation zur Operation war ganz klar gewesen, der Dickdarmtumor musste operiert werden. Aber der Patient stand mir nahe, seine Frau ist eine Studienkollegin von mir, und ich erlebe die Tragik dieses Todes sozusagen aus der Nähe der Familie.“

Als ich nach Hause kam, lautete die erste Frage von Julia: „Weiß man, woran er gestorben ist?

Ich schüttelte den Kopf: „Es ist rätselhaft, wenn die Blutwerte normal sind, wird die Todesursache für immer unklar bleiben.“

Am nächsten Vormittag um zehn Uhr, ich saß gerade in meinem Büro, läutete das Telefon. Es war der Gerichtsmediziner: „Schlechte Nachrichten für Sie, Herr Kollege, Ihr Patient starb an einer Hyperkaliämie. In seinem Blut hatte er einen Kaliumwert von zehn Millimol pro Liter.“

Ich glaubte, nicht richtig gehört zu haben, denn bereits bei der Hälfte dieses Werts man spricht von einem lebensgefährlichen, oft tödlichen Kaliumüberschuss.

„Aber warten Sie, nun kommt es erst: In der Infusionsflasche, in der sich das Antibiotikum befand, wurde eine hohe Konzentration an Kaliumchlorid gemessen. Lederer ist mit großer Wahrscheinlichkeit durch diese Infusion ums Leben gekommen. Ich habe auch die ungeöffneten Chargen der Antibiotikapackung untersucht. Keine Spur von Kalium. Auch in den zur Auflösung verwendeten Durchstichflaschen des Natriumchlorids war natürlich kein Kalium. Meines Erachtens nach wurde es der Infusion zugesetzt, nachdem das Antibiotikum bereits aufgelöst war.“

„Was heißt das?“

„Tod verursacht durch Fahrlässigkeit oder Absicht. Ich habe bereits die Staatsanwaltschaft verständigt.“

Mir schwirrte der Kopf, ich versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen: „Ich werde mit dem betreffenden Turnusarzt sprechen und außerdem versuchen herauszufinden, ob es auf der Station überhaupt Ampullen mit Kaliumchlorid gibt. Es muss also der bereits aufgelösten Infusion zugesetzt worden sein? Sie können sich vorstellen, dass ich an einer lückenlosen Aufklärung mehr als interessiert bin.“

„Ich fürchte, das wird ein Riesenskandal werden. Bereiten Sie sich darauf vor.“

Ich bedankte mich für die Vorinformation und legte den Hörer auf. Wenn der Kaliumspiegel im Blut, aus welchen Gründen auch immer, zu hoch ist, kommt es zu einem Herzstillstand in der Diastole. In den USA wird Kaliumchlorid verwendet, um die Todesstrafe zu vollziehen – zusammen mit einem Betäubungsmittel.

Mein erster Weg führte mich auf die betroffene Station. Ich ging mit der verantwortlichen Schwester den ­Medikamentenvorrat durch. Kaliumchlorid gab es nur im Notfallwagen. Ich versammelte alle anwesenden Schwestern und befragte sie, ob sie in den letzten Monaten einmal Kaliumchlorid in der Hand gehabt hätten und wüssten, ob es als Infusionszusatz verwendet worden sei. Sie verneinten es einstimmig. Die Standardsalzlösungen enthalten meist mehrere Elektrolyte, und Kaliumchlorid in Ampullen wird nur unter gewissen Umständen zugesetzt, das macht man eher auf einer Intensivstation.

Danach sprach ich mit dem jungen Turnusarzt, der die Infusion zubereitet hatte. Der Arme tat mir leid. Völlig zusammengebrochen saß er mir gegenüber. Ich versicherte ihm, dass ich nicht glaubte, dass er fahrlässig gehandelt habe. Er schilderte den Ablauf seiner Tätigkeit sehr glaubhaft. Die zur Vorbereitung notwendige Flüssigkeitsmenge von 100 Milliliter Natriumchlorid gab es gar nicht in Ampullenform, sondern nur in einer Durchstichflasche, er konnte es also gar nicht mit Kaliumchlorid, das in Ampullen abgefüllt ist, verwechselt haben. Er hatte die Infusion im Schwesternraum vorbereitet und sie dort ­stehen gelassen. Die Schwester hatte sie genommen und unmittelbar danach in das Zimmer zum Patienten gebracht, der zu dieser Zeit mit seiner Frau am Gang auf und ab spazierte. Im Zimmer war sie eine gute halbe Stunde am Bett gehangen, bis die Schwester sie an die Leitung am Unterarm des Patienten angeschlossen hatte. Ich ersuchte den jungen Mann, darüber ein Protokoll zu verfassen. Auch ich setzte mich an den PC und versuchte, eine exakte Dokumentation der gesamten Ereignisse zu erstellen.

Als meine Sekretärin Simone den Bericht las, war sie entsetzt: „Herr Professor, das bedeutet ja Mord! Jemand hat das Kaliumchlorid in voller Absicht zugesetzt. Mord, bei uns im Spital! Aus welchem Grund? War das ein Wahnsinniger?“

„Es ist perfid, einen kranken Menschen zu beseitigen. Wenn ich nicht alle Infusionen sofort sichergestellt hätte, wäre die Lage noch viel schwieriger für uns gewesen. Wenige Stunden später wäre alles entsorgt gewesen. Man hätte uns bezichtigt, Beweise auf die Seite geräumt zu haben.“

 

Am Nachmittag erhielt ich den ersten Anruf von der Polizei. Man würde am nächsten Tag zu uns kommen, ich möge doch sämtliche betroffenen Personen zu Befragungen bereithalten. Man wolle auch einen Lokalaugenschein vornehmen. Ich beauftragte Simone, alle zu verständigen.