Die Revolution der Städte

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Die Revolution der Städte
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Henri Lefebvre

Die Revolution der Städte

CEP Europäische Verlagsanstalt

© e-book Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2014

eISBN 978-3-86393-505-4

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INHALT

Vorwort

I. Von der Stadt zur verstädterten Gesellschaft

II. Das Blindfeld

III. Das Phänomen der Verstädterung

IV. Ebenen und Dimensionen

V. Stadtmythen und Ideologien

VI. Die urbane Form

VII. Auf dem Weg zu einer urbanen Strategie

VIII. Die Illusion des Urbanismus

IX. Die urbane Gesellschaft

X. Beschluß

Vorwort zur Neuauflage
Die Revolution der Städte wieder lesen

Man muss der Europäischen Verlagsanstalt dankbar dafür sein, dass sie den in Deutschland seit langem vergriffenen Klassiker Die Revolution der Städte wieder auflegt.1 Obwohl Lefebvres Buch inzwischen über vierzig Jahre alt ist, bietet es immer noch wichtige Referenzpunkte für eine gegenwärtige Urbanismuskritik.

Henri Lefebvre (1901 – 1991) wirkte zu einer Zeit, da der Sozialismus dem Kapitalismus als wirkliche Alternative gegenüberstand. In Ländern wie Frankreich oder Italien stellten die kommunistischen Parteien noch bis zum Ende des Fordismus in den achtziger Jahren einen wichtigen politischen Faktor dar. Den größten Teil seines politischen Lebens hat Lefebvre an zwei Fronten gleichzeitig gekämpft: als Kritiker des kapitalistischen Gesellschaftssystems ebenso wie als Kritiker des dogmatischen Marxismus.2 In vielen Punkten setzte sich der unabhängige Denker über die Programmatik der orthodoxen Linken hinweg, die vor allem auf die Eroberung des Staatsapparats und die zentralisierte Planung der Produktion durch die organisierte Arbeitermacht abzielte. Lefebvre hingegen erklärte den Alltag zur entscheidenden Kategorie: Er bilde den Zusammenhang zwischen der Ökonomie und der Lebenspraxis der Individuen. Alles was in den »höheren« Sphären der gesellschaftlichen Praxis (Staat, Politik, Wissenschaft) produziert werde, müsse sich im Alltag bewähren. Aus heutiger Sicht mag das banal erscheinen, aber in der Nachkriegszeit hatten sich die Sozialwissenschaften (im Gegensatz zur Philosophie) mit diesem Phänomen kaum beschäftigt.

Zur Stadtforschung kam Lefebvre, der nicht nur Philosoph, sondern auch Agrarsoziologe war, eher auf indirektem Wege: Während er in den fünfziger Jahren den Wandel des Alltagslebens, insbesondere im ländlichen Raum, erforschte, wurde er zunehmend mit den sozialen Auswirkungen der fordistischen Industrie- und Raumpolitik konfrontiert (Bocquet 2012, S. 42). Das noch stark ländlich geprägte Frankreich erlebte damals einen massiven Urbanisierungsschub. Mehr und mehr wurde Lefebvre bewusst, dass das »Städtische « die Widersprüche der modernen Gesellschaft am deutlichsten zum Ausdruck brachte. Der französische Philosoph erlebte die Auswirkungen des modernen Urbanismus auch am eigenen Leibe. Unweit seines Herkunftsortes, einem Marktflecken in den Pyrenäen, wohin er sich immer wieder gerne zurückzog, wurde Ende der fünfziger Jahre eine Retortenstadt aus dem Boden gestampft. Lefebvre konnte die sozialräumlichen Effekte des funktionalen Städtebaus sozusagen unter Laborbedingungen studieren. In seinen »Notizen zur Neuen Stadt« packt ihn angesichts der »Wohnmaschinen« das blanke Entsetzen (Lefebvre 1978 [1962], S. 143). Zwischen 1968 und 1974 veröffentlichte er in schneller Folge eine Reihe von Publikationen, die sich explizit mit dem Thema Urbanismus und Raum auseinandersetzen.3

Um die damalige Brisanz von La révolution urbaine (1970) zu verstehen, gilt es daran zu erinnern, dass die Stadtsoziologie in der Nachkriegsära statistisch-empirische Verfahrensweisen bevorzugte und wenig Neigung zur gesellschaftstheoretischen Reflexion zeigte. Viele Sozialwissenschaftler ließen sich unkritisch auf Fragestellungen der Planungs- und Verwaltungsinstanzen ein. Es formierte sich eine Gruppe von Planern und Experten, die einen neuen ideologischen Diskurs entwickelten: den des Urbanismus. Auf diesem Wissens- und Praxisfeld dominierten szientistisch-technokratisch verkürzte Konzeptionen von Rationalität, die im Sinne eines Regierungsdenkens auf die Kontrolle und Beherrschung sozialer Prozesse ausgerichtet waren.

Ab den frühen sechziger Jahren wurde zwar in der bürgerlichen Öffentlichkeit zunehmend Kritik an der »Unwirtlichkeit unserer Städte« (Alexander Mitscherlich) geäußert, doch Lefebvre gehörte zu den ersten Vertretern der scientific community, die den fordistischen Urbanismus aus einer umfassenden theoretischen und gesellschaftskritischen Perspektive analysierten. Er registrierte, dass der französische Staat eine Restrukturierung des nationalen Raums betrieb und die Reorganisation des Kapitalismus forcierte. Städte und Verkehrssysteme wurden ebenso modernisiert und homogenisiert wie Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen. Die »Kolonisierung des städtischen Raumes« (Henri Lefebvre) produzierte eine neue Form von Normalität, in der das Partikulare und Differente als Abweichung wahrgenommen und gegebenenfalls verfolgt wurde. Denn nur ein homogener sozialer Raum schien regierbar zu sein. Der Raum wurde nun zum Objekt der Staatsgewalt, die mittels Planung, Wohngesetzen und Investitionen in die Infrastruktur politisch regulierend eingriff. Für Lefebvre stellte der Raum deshalb eine strategische Größe dar, Raumanalyse implizierte stets auch Machtanalyse (Lefebvre 2009a [1972], S. 174). Er kam zu dem Schluss, dass der Kapitalismus durch die »Produktion des Raums« seine inneren Widersprüche abzumildern vermag (Lefebvre 1972a [1970], S. 165).

Die strategische Hypothese

Gleich zu Beginn von Die Revolution der Städte formuliert Lefebvre seine Hypothese von der umfassenden Urbanisierung der Gesellschaft, die zugleich eine Definition enthält: »Wir wollen also die Gesellschaft eine‚verstädterte‘ nennen, die das Ergebnis einer vollständigen – heute potentiellen, morgen tatsächlichen – Verstädterung sein wird.« (Ebd., S. 7) Damit entspricht für ihn der Begriff »Stadt« keinem gesellschaftlichen Objekt mehr: »Aus dieser Sicht gibt es keine Wissenschaft von der Stadt (Stadtsoziologie oder Stadtökonomie usw.), sondern eine sich abzeichnende Kenntnis des globalen Prozesses und seines Endes (Ziel und Sinn).« (Ebd., S. 23)4 Unter »urbaner Revolution« versteht Lefebvre »die Gesamtheit der Wandlungen und Veränderungen, die unsere heutige Gesellschaft durchschreitet, um von einer Epoche, deren maßgebliche Probleme Wachstum und Industrialisierung (Modell, Planung, Programmierung) sind, zu jener überzugehen, wo die durch Urbanisierung entstandenen Probleme den Vorrang haben und die Suche nach den Lösungen und nach den für die verstädterte Gesellschaft spezifischen Modalitäten größte Bedeutsamkeit gewinnt«. (Ebd., S. 11) Lefebvre folgert daraus, dass nicht mehr das »Industrielle« und seine auf Kapital und Arbeit zielenden Disziplinen die Bedingungen der Erkenntnis bilden, sondern das »Städtische« zum strategischen Ort und strategischen Objekt der gesellschaftlichen Entwicklung wird (ebd., S. 51). Die Urbanisierung durchdringe nicht nur alle Bereiche des menschlichen Lebens (Ökonomie, Politik, Soziales, Kultur), das Städtische müsse vielmehr als etwas definiert werden, »das die gesamte Erde erfasst hat« (Ebd., S. 176). Diese These war zu Beginn der siebziger Jahre alles andere als selbstverständlich.

Die epochale Verschiebung vom Industriellen zum Urbanen erfordert nach Lefebvre einen grundsätzlichen Terrainwechsel in der Theorie wie in der Praxis, denn der Vorgang der révolution urbaine ist für ihn vergleichbar mit den historischen Umwälzungen der industriellen Revolution. Doch mit welchen erkenntnistheoretischen Mitteln lässt sich dieser Transformationsprozess erfassen? Lefebvre stellt die vollständige Urbanisierung als eine Hypothese vor, die sowohl eine Definition als auch eine »Möglichkeit« einschließt: »Das Urbane (Abkürzung für‚verstädterte Gesellschaft‘) wird nicht als eine erreichte Wirklichkeit definiert […], sondern als Ausblick, als aufklärende Virtualität. Sie ist das Mögliche, definiert durch eine Richtung am Ende eines Weges, der zu ihm hinführt.« (Ebd., S. 23) Lefebvre projiziert also die bestehenden Tendenzen in eine mögliche Zukunft, um von dort aus die Gegenwart zu erhellen. Gleichzeitig fügt er dieser Perspektive eine gegenläufige Reflexionsbewegung hinzu, nämlich »die Projektion der Vergangenheit auf die Gegenwart, da er einen noch nicht gegebenen Zustand, die Verstädterung, am Beispiel der Stadt, einem nicht mehr vorhandenen Zustand, untersuchen will.« (Treusch-Dieter 1975, S. 112)

 

In einem ersten Schritt versucht Lefebvre die Geschichte der (europäischen) Stadt entlang einer »Raum-Zeit-Achse« zu rekonstruieren: An ihrem Anfang steht die vollständige Herrschaft des Landes, an ihrem Ende öffnet sich eine »kritische Zone« der umfassenden Urbanisierung. In diesem »Blindfeld« der Erkenntnis »verflüchtigt sich das Gelände unter den Füßen und entzieht sich dem Blick. Der Boden ist vermint. Die alten Begriffe entsprechen nicht mehr, neue Begriffe bilden sich heraus.« (Lefebvre 1972a, S. 176) Bei seiner historischen Analyse orientiert sich der Philosoph an der recht grobschlächtigen marxistischen Periodisierung von antiker Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus und Kapitalismus. Jede Formation bringe ihren eigenen Stadttypus hervor: die politische Stadt, die Handelsstadt und die industrielle Stadt. Allerdings insistiert Lefebvre darauf, dass in der Stadt – jenseits der unterschiedlichen Produktionsweisen – ein »relativ kontinuierlicher Kumulationsprozess « stattgefunden hat: »Wissen, Techniken, Dinge, Menschen, Reichtümer, Geld und schließlich Kapital wurden angehäuft. « (Ebd., S. 30)

Die politische Stadt, »ganz und gar Ordnung, Erlass, Macht« (Ebd., S. 14), beutet das umliegende Land aus und verkörpert die Arbeitsteilung zwischen materieller und intellektueller Tätigkeit. Im Laufe des Mittelalters bringt die Handelsstadt etwas völlig Neues hervor: auf »wirtschaftlichem Gebiet die Industrie – auf sozialem Gebiet das bewegliche Eigentum […] und schließlich auf politischem Gebiet den Staat.« (Lefebvre 1975 [1972], S. 32) Dabei macht Lefebvre drei große Konfliktlinien aus: Stadt gegen Land, Bürgertum gegen Feudalherrschaft, mobiles (privates) Eigentum gegen fixes Gemeinschafts- und Grundeigentum.

In dem Maße, wie die Bedeutung der landwirtschaftlichen Produktion gegenüber der handwerklichen und industriellen Produktion abnimmt, gewinnt die Stadt die Oberhand über das Land, sowohl in ökonomischer und politischer wie auch in sozialer Hinsicht. Mit dem Aufschwung der Industrie und der Ausdehnung des warenförmig organisierten Marktes bemächtigt sich schließlich der Kapitalismus der »historischen Stadt« und produziert einen neuen, abstrakten Raum. Lefebvres Rekonstruktionsgeschichte bricht mit der industriellen Stadt, der »Anti-Stadt«, wie er sie auch nennt, ab. Es handle sich dabei um »eine Agglomeration von kaum städtischem Charakter, ein Konglomerat, ein Ineinanderübergehen von Städten und Ortschaften« (Lefebvre 1972a, S. 20).

Historisch betrachtet, also von der Antike bis zur Neuzeit, war die »Stadt« mit dem »Land« eng verwoben, es bestand eine konflikthafte, aber gleichwohl funktionierende Symbiose. Doch mit der Industrialisierung löst sich diese Verbindung schrittweise auf. Nach Lefebvre breitet sich stattdessen im Laufe des 20. Jahrhunderts ein »urbanes Gewebe« (tissu urbain) über die Landschaft aus. Sowohl die Stadt wie auch das Land werden Opfer der kapitalistischen Akkumulation. Bildhaft gesprochen vollzieht sich der Urbanisierungsprozess nach dem Prinzip von »Explosion« und »Implosion« (ebd., S. 20). Die historische Stadt explodiert; ihre Trümmer werden weit hinausgeschleudert, und neue Randgebiete und Satellitenstädte entstehen. »Implosion« steht für die gleichzeitig stattfindende Aufwertung der historischen Stadtzentren, die von den noch bestehenden »Elendsquartieren« gereinigt werden. Der frühere Stadt-Land-Gegensatz transformiert sich zu einem neuen Gegensatz, demjenigen zwischen Zentrum und Peripherie.

Nachdem Lefebvre die »Stadt« als eine historische Konfiguration analysiert hat, geht er zu einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive über und unterscheidet drei geschichtlich-räumliche »Kontinente«: das Rurale, das Industrielle und das Urbane. Diese Kraft- und Konfliktfelder, die spezifische Denk-, Handlungs- und Lebensweisen repräsentieren, sind nicht nur als diachrone Abfolge zu verstehen, sondern auch als ein räumliches Nebeneinander unterschiedlicher Sektoren, bei dem Überlagerungen und Ungleichzeitigkeiten möglich sind. Lefebvre verweist hier etwa auf die Länder des Trikonts, die alle drei Bereiche gleichzeitig durchlaufen (ebd., S. 38).

Das rurale Feld ist vom bäuerlichen Leben und der Landwirtschaft bestimmt. Es ist »die Zeit der begrenzten Produktion – der ‚Natur‘ unterworfen und unterbrochen von Katastrophen und Hungersnöten; Knappheit regiert.« (ebd., S. 38) Das industrielle Feld wird vom Ökonomischen und einem »universellen Rationalismus« strukturiert. Die Industrien unterwerfen sich die Natur, und die für die Warenproduktion erforderliche Arbeitsteilung kommt in allen gesellschaftlichen Bereichen verstärkt zum Einsatz (ebd., S. 40). Für Lefebvre bilden Industrialisierung und Verstädterung eine dialektische Einheit: Die Industrialisierung der Gesellschaft impliziert immer auch eine Urbanisierung. Ihre Dynamik führt zu einer Zusammenballung von Arbeitskräften und Produktionsmitteln, welche wiederum den Ausbau städtischer Infrastrukturen vorantreibt. Schließlich das urbane Feld: Hier handelt es sich um ein noch weitgehend unbekanntes Raum-Zeit-Gebilde. Allerdings glaubt Lefebvre Symptome für den Übergang zur »urbanen Epoche« ausmachen zu können: »Ganze Kontinente gehen von der einstigen Form der revolutionären Aktion zum Stadtguerillakrieg über, stecken sich Ziele über Leben und Organisation eines städtischen Daseins […]. Die Zeit der Revolution der Städte hebt an.« (Ebd., S. 50) Eine Tendenz, die sich allerdings als sehr kurzlebig erweisen sollte.

Das Primat des Wohnens

In welcher Weise aber ist die Entwicklung der Stadt mit den übergreifenden gesellschaftlichen Prozessen verwoben? Um diese Frage zu beantworten, führt Lefebvre das Modell der »Ebenen« ein. Er betrachtet die gesellschaftliche Wirklichkeit anhand von drei Kategorien: der privaten Ebene (P), der städtischen oder »gemischten « Ebene (M) und der globalen bzw. allgemeinen5 Ebene (G). Die unterste Ebene (P) bezeichnet Lefebvre in einem anderen Zusammenhang auch als die »nahe Ordnung«, der er die »ferne Ordnung« gegenüberstellt, nämlich die staatliche Gewalt und mächtige Institutionen, welche die Gesellschaft organisieren und regulieren (Lefebvre 2009b [1968], S. 44). Es handelt sich zugleich um eine abstrakte Ebene, auf der allgemeine Beziehungen zum Tragen kommen, wie Warentausch, Industrialisierung etc. Dazu zählen nach Lefebvre auch Teile des Baubereichs und die Logistik: städtebauliche Projekte im großen planerischen Maßstab, die allgemeine Organisation des Verkehrswesens und der institutionelle Urbanismus. Die mittlere, städtische Ebene mit ihren Versorgungsstrukturen, Dienstleistungen und lokalen Machtsystemen fungiert wiederum als Mediator zwischen der »fernen Ordnung« und dem Alltagsleben. Hier werden das »Allgemeine« und das »Private« miteinander artikuliert. In dieser Eigenschaft kommt der gemischten Ebene eine bestimmte soziale Funktion zu; sie führt die Elemente der Gesellschaft zusammen und macht sie so erst wirksam und fruchtbar (Lefebvre 1972a, S. 86–88).

Den Begriff der Ebene (niveau) hatte Lefebvre bereits in der Kritik des Alltagslebens entwickelt, um damit die Komplexität des gesellschaftlichen Ganzen erfassen zu können: »Wo es eine Ebene gibt, da gibt es mehrere Ebenen und infolgedessen Zwischenräume, relativ schroffe Übergänge, Verzerrungen oder Möglichkeiten zu Verzerrungen zwischen den Ebenen. Der Begriff schließt also den des durchgängigen Feldes aus, ohne freilich unvereinbar zu sein mit denen des allgemeinen Rahmens, der Globalität oder des Ensembles. « (Lefebvre 1975 [1961], S. 133) Die Ebenen können sich gegenseitig durchdringen, überlagern und aufeinander einwirken. Für Lefebvre umfasst die »private Ebene« neben dem Alltagsleben und primären Sozialbeziehungen wie Familie, Nachbarschaft etc. auch den »Wohnraum« (Lefebvre 1972a, S. 88). Allerdings habe die urbanistische Rationalität das »Wohnen“« (l’habiter)6 auf elementare Funktionen wie Essen, Schlafen und Fortpflanzung reduziert und damit die vormals bestehende Vielfalt städtischer Lebensweisen unterdrückt. Zurück bleibe ein von oben installierter »Lebensraum«7 (l’habitat): »Anwendung eines globalen, homogenen und quantitativen Raums, Zwang für das ‚Erlebte‘8, sich in Schachteln, Käfigen oder ‚Wohnmaschinen‘ einschließen zu lassen.« (Ebd., S. 89) Die Folgen der industriell-technokratischen Raumproduktion sind für Lefebvre verheerend. Noch nie zuvor wurde die Beziehung des Menschen zur Natur und zu seiner eigenen Natur (Begierden, Körperlichkeit) so zerstört »wie unter der Herrschaft des Lebensraums« (ebd., S. 91). Die kapitalistische Produktionsweise untergräbt nicht nur »die Erde und den Arbeiter« (Karl Marx), sondern auch den »Wohnraum«.

Mit dem Prozess der umfassenden Urbanisierung entsteht für Lefebvre die Tendenz, dass die verschiedenen Ebenen miteinander verschmelzen und das »Allgemeine« das »Private« zu absorbieren versucht. Gegen diese Vereinnahmung lasse sich zwar die gemischte, städtische Ebene als Terrain für soziale Kämpfe mobilisieren, aber eigentlich sei die »private Ebene« des Wohnens entscheidend (ebd., S. 98). Lefebvre knüpft hier an Überlegungen aus seiner Alltagskritik an. Bereits dort verlässt er das Basis-Überbau-Schema des traditionellen Marxismus, der in letzter Instanz stets auf das »Ökonomische« verweist. Für ihn impliziert der Begriff der Produktion auch, »im weitesten Sinne, die Reproduktion« (Lefebvre 1972b [1968], S. 49). Der (urbanisierte) Alltag ist nicht mehr das Abgeschobene und Verdrängte, sondern Produkt einer technokratischen Regulierung und ökonomischen Bewirtschaftung.

Auf der Raum-Zeit-Achse der Urbanisierung macht Lefebvre zwei »kritische Phasen« aus: In der ersten gerät die einst dominierende Landwirtschaft in eine untergeordnete Position gegenüber der Stadt, die ihrerseits bald von den Verwüstungen der Industrialisierung heimgesucht wird. In der zweiten kritischen Phase wird die Industrie der »städtischen Wirklichkeit« untergeordnet und das bislang als nebensächlich geltende »Wohnen« erlangt zentrale Bedeutung. »Unter dem hier vorgeschlagenen Blickwinkel gibt es also ein Primat der Verstädterung, und dem Wohnraum wird Priorität zuerkannt.« (Lefebvre 1972a, S. 98)

Daraus ergeben sich grundlegende strategische Konsequenzen, was die Frage des »revolutionären Subjekts« anbetrifft. Nach Lefebvre befindet sich das Industrieproletariat mit der zunehmenden Urbanisierung der Gesellschaft in einem Auflösungsprozess, der seine historische Rolle als Träger der Veränderung unterminiert. Und zwar in einem doppelten Sinne: Einerseits verallgemeinert sich der Proletarierstatus, den nun auch die meisten Bewohner der Neuen Stadt innehaben (Lefebvre 1972b, S. 87). Andererseits besitzt die traditionelle Arbeiterklasse kein politisches Gewicht mehr, denn »auf dem Gebiet des Urbanismus hat sie nichts Bedeutendes vorzuweisen.« (Lefebvre 1972a, S. 195) Die Repräsentanten dieser Klasse (Gewerkschaften, Parteien) und die Mehrheit der Arbeiterschaft haben sich gänzlich auf die Logik des Ökonomischen, des Quantitativen eingelassen.

Lefebvre begibt sich damit auf vermintes Gelände. So will er die Marxsche Geschichtsphilosophie, die wesentlich auf der Idee des emanzipatorischen Proletariats beruht, fortschreiben und gleichzeitig mit ihr brechen. Doch der Philosoph gibt sich bescheiden: Er beabsichtige lediglich, »das marxistische Projekt einer Revolution innerhalb der industriellen Organisation durch das Projekt zur Revolution der Stadt [zu] ergänzen.« (Ebd., S. 110). Schon in Le droit à la ville (1968) hatte Lefebvre behauptet, dass Marx die Dialektik von Industrialisierung und Urbanisierung aus historischen Gründen nicht wirklich begreifen konnte. Das Problem des Wohnens sei zwar von den »Klassikern« erkannt worden, aber das Phänomen der Urbanisierung gehe über die »Wohnungsfrage« weit hinaus (Lefebvre 2009b [1968], S. 78). Lefebvre deutet damit eine historische Beschränkung des Marxschen Denkens an: Er ordnet Marx in die Epoche der Industrialisierung ein, hält aber gleichzeitig an dessen Methode fest – nach der marxistischen Erkenntnistheorie, die auf der dialektischen Einheit von Gegenstand und Methode beruht, eine nicht akzeptable Verfahrensweise (Treusch-Dieter 1976, S. 115).

 

Für Lefebvre ist der »Wohnraum« ein Bereich, auf den kein Individuum verzichten kann, der sich aber mit fortschreitender kapitalistischer Raumverwertung für die Nutzerinnen und Nutzer zunehmend als defizitär erweist. Angesichts dieser Konstellation erhofft er sich die Entstehung eines neuen widerständigen Subjekts, das nicht nur gegen die Ausbeutung seiner Arbeitskraft, sondern gegen die Ruinierung seines gesamten Lebenszusammenhangs revoltiert. Im Rückblick erweist sich der erweiterte Alltagsbegriff von Lefebvre als visionär: Mit der gegenwärtigen kapitalistischen Vergesellschaftung sind die herkömmlichen Trennungen von Arbeit und Nicht-Arbeit, von Produktion und Reproduktion endgültig obsolet geworden. Indem das Kapital heute nicht nur die Arbeitskraft, sondern das Potenzial des gesamten schöpferischen Vermögens der Individuen ausbeutet, versucht es ihren Lebenszusammenhang umfassend zu regulieren (vgl. Virno 2005). Gegen diese »postfordistischen « Kontrolltechnologien und -prozeduren artikuliert sich in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen Widerstand: gegen Ausbeutung und Unterdrückung ebenso wie gegen Ausgrenzung und vordefinierte Subjektpositionen (Foucault 1987, S. 247).