Das Mädchen und die Nachtigall

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Das Mädchen und die Nachtigall
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Henri Gourdin

Das
Mädchen
und die
Nachtigall

Aus dem Französischen

von Corinna Tramm


Die Geschichte spielt in den östlichen Pyrenäen, hauptsächlich in Villefranche-de-Conflent in den Jahren 1939 und 1940. Die Personen sind frei erfunden, der geografische und historische Rahmen dagegen ist ganz und gar real und so genau wie möglich aufgrund von Zeugenaussagen, die ich zusammentragen konnte, rekonstruiert. Die Stadt Villefranche gibt es immer noch; sie hat sich seit der Zeit, in welcher der Roman spielt, kaum verändert – eigentlich sogar, seit der Festungsbaumeister Sébastien Le Prestre de Vauban sie im 17. Jahrhundert anlegte. Ganz im Gegenteil, ihre Klassifizierung als Weltkulturerbe verleiht ihr eine Art Unsterblichkeit.

Inhalt

Argelès-sur-Mer

Villefranche

Weihnachten

Priester Raynal

Die Stadtmauer

Renée Levêque

Martha

Marcel

Émile

Bestandsaufnahme des Kulturguts

Pau Casals

Agnès

Lucienne

Saint-Pierre in Prades

Saint-Michel-de-Cuxa

Wanda Landowska

Charles Puech

Gérard Dieudonné

Charles de Gaulle

Die Flucht nach Bordeaux

René Levêque

Schmuggel

Das Jakobsfest

Notre-Dame-de-Vie

Mademoiselle de Brévent

Johann Sebastian Bach

Der Cady

Die Têt

Bernard Durand

Chronologischer Überblick

Danksagung

Argelès-sur-Mer

Das Lager von Argelès-sur-Mer war noch nicht eingerichtet, als uns die französische Armee in den ersten Februartagen des Jahres 1939 dorthin brachte. Es bestand aus einem Stück Strand, das von einem zwischen scheinbar zufällig gesetzten Holzpflöcken locker hängenden Stacheldraht begrenzt wurde. Dieser hatte nichts mit jenen zwölf Linien Stacheldraht gemein, die man später für uns errichtete und die bis zum Zerreißen zwischen vollkommen geraden und exakt aufgereihten Holzpfählen straff gezogen waren. Die Baracken waren nur in regelmäßigen Abständen aufeinandergestapelte Holzplanken, wahrscheinlich an den Orten, wo die zukünftigen Konstruktionen stehen sollten. Kein Schutz, kein Dach, am Anfang nicht einmal eine Decke: Jede Familie buddelte sich ein Loch in den Sand und schlief dort, vor dem Wind durch ihre aufgeschichteten Koffer und ihre Lumpen geschützt. Mit Kreide geschriebene Inschriften waren auf diesen Hütten zu lesen: Tausend und eine Nacht, Winterpalast, Eldorado …

Die Männer waren in einem ähnlichen Areal untergebracht, die Kämpfer der Internationalen Brigaden in einem dritten, und diese nebeneinander verlaufenden Rechtecke wurden durch eine Art Korridore voneinander getrennt, durch Sandstreifen von vielleicht zwanzig Metern Breite, auf denen zunächst eher gutmütige Gendarmen zu Pferd patrouillierten, die katalanisch mit uns sprachen und Erkundigungen über uns einholten, dann aber algerische Soldaten und senegalesische Schützen, die uns an die marokkanischen Bataillone der Armee Francos und ihre schrecklichen Grausamkeiten erinnerten.

Julia, unsere Nachbarin aus Tarragona, die meine Schwester und mich seit unserer Flucht begleitete, war außerordentlich lebenstüchtig und sehr geschickt mit ihren Händen. Kaum waren wir angekommen, hatte sie schon ein wenig Röhricht in einem Hain abgeschnitten, den wir noch nicht einmal bemerkt hätten, zwei oder drei Karosserieteile von Autowracks abgerissen und ein kleines Zuhause eingerichtet. Ich sehe sie noch, wie sie sich bei Einbruch der Dunkelheit unter dem Zaun hindurchzwängte, sich auf den Weg zu den im Hinterland liegenden Villen machte und mit Holz zurückkam. Feuer war unverzichtbar: Es wärmte uns die Knochen, vereinte uns während der langen Winterabende und brachte das modrige Wasser zum Kochen, das wir von Hand mit zwei Pumpen schöpften, die von den Soldaten errichtet worden waren. Diese Pumpen brachten ein brackiges Wasser zum Vorschein und befanden sich zudem neben dem Bereich, der uns als Latrinen diente: anfangs ein großes Viereck im Sand, bald schon ein ganzes Feld der Darmentleerung, wo man zwischen hockenden Menschen watete, ehe man sich selber niederkauerte.

Alles hatte mit dem Aufstand der Faschisten im Juli 1936 begonnen. Sie besetzten eine spanische Provinz nach der anderen, mit massiver Unterstützung von Deutschland und Italien. 1938 war Katalonien an der Reihe, eines der letzten Bollwerke der Republik. Angriffe von beispielloser Gewalt. Trommelfeuer der Artillerie, Bombardierung von Städten und Dörfern, zivile Massaker. Wie in Guernica 1937. Im Mai 1938 bombardierten die Nationalisten das fünfundzwanzig Kilometer von Barcelona entfernte Granollers. Das war der Anfang vom Ende: Es folgten die Niederlage am Ebro im November und der Rückzug der Internationalen Brigaden. In der Miliz herrschte Chaos.

Tarragona fiel am 15. Januar. Es war Nacht. Die Explosionen weckten mich, und es war zu spät, um hinunter in Sicherheit zu gehen. Ich erinnere mich, als wäre es gestern: Mama stürzte in unser Zimmer und schrie, wir sollten uns auf den Boden legen. Unter dem Zischen der Bomben und Granaten mühte sie sich ab, die Matratzen unserer Betten über uns zu ziehen. Dann hört meine Erinnerung auf. Als sie wieder einsetzt, befreien Teresa und ich uns von einem Stapel Schutt. Die Mauer zum Garten hin ist aufgerissen. Durch ein riesiges Loch in der Decke erkennen wir den Himmel und den Schein des Feuers. Noch heute, zwanzig Jahre später, sehe ich diese Szene vor mir, ebenso wie die leblosen und blutüberströmten Körper von Papa und Mama, dort, wo der Flur war; ich höre das Knistern der Flammen und die Rufe von Julia. Sie klettert auf allen vieren die von Schutt überhäufte Treppe hinauf, befreit uns aus den Trümmern, und schon befinden wir uns in dem Strom der Opfer, die mit verstörtem Blick aus den Häusern herauskommen und sich in einem unbeschreiblichen Durcheinander aus der Stadt hinausbegeben.

Jeden Morgen trafen Arbeiter aus Argelès ein und verbrachten den Tag damit, Baracken zu errichten. Alleine. Unter uns gab es Schreiner, Dachdecker, Ingenieure. Sie boten ihre Dienste an. Aber nein, irgendwo hatte irgendjemand entschieden, dass sich die Ausländer nicht mit den Einheimischen vermischen durften und dass die Kollaboration mit den Flüchtlingen bei der Erbauung ihrer eigenen Unterkünfte eine Einflussnahme auf die inneren Angelegenheiten Frankreichs bedeutete. Sogar uns Frauen verlangte es danach, zu helfen. Je eher diese Baracken errichtet wären, desto früher hätten wir ein Dach über unseren Köpfen und einen Schutz gegen die Kälte, den Wind und den Regen. Vor allem gegen den Regen: Wir hatten unsere Koffer und Kartons, um uns ein wenig vor Wind und Kälte zu schützen, doch waren wir schutzlos dem Regen ausgeliefert. Aber nein, es kam nicht infrage! Also blieben wir mit hängenden Armen stehen und schauten zu.

Was den Konstruktionsplan betraf, waren diese Baracken sehr einfach: Zehn oder zwölf Holzpflöcke wurden in den Sandboden gerammt, Holzplanken als Wände darangenagelt, ein Dach aus geteerten Platten daraufgesetzt, und das war alles. Auf dem Boden: nichts als Sand. Es war sehr schlicht … und nicht gerade solide: Gegen Ende Februar stürzte eine der Baracken unter dem Gewicht des Schnees ein, und es gab einen Toten und mehrere Verletzte. Nichts, was unsere Höllenhunde erschreckte. Ein Toter, einige Verletzte, was war das schon?

Ruhr, Tuberkulose und Typhus forderten unzählige Opfer, Kälte und Hunger nicht mitgerechnet. Die Krankenschwestern gingen jeden Morgen zu Beginn ihres Dienstes durch das Lager und sammelten die Leichen ein. Zumindest diejenigen, die sie fanden: Da die Familien nicht wussten, was mit den Toten geschah, versuchten sie sie zu verstecken, um sie selber in den umliegenden Weinbergen zu beerdigen, wenn die Wachen ihnen den Rücken kehrten. Sie kennzeichneten die Stellen, um sie später wieder aufzusuchen, wenn alles vorbei wäre. Ich bin manchmal dorthin gegangen. Es war eine aufreibende Arbeit: in gefrorener Erde zu graben, voller Steine, mit einem Lumpen oder einem alten Löffel! Und die Leiche, die einen anschaute!

 

Die ersten Baracken waren für die Verletzten bestimmt, zumindest für die Schwerverletzten, denn es gab nicht genug Platz für alle. Dann wurde den Arbeitern die Errichtung des Stacheldrahtzauns aufgetragen, und der Stapel Holzplanken blieb wochenlang auf dem Boden liegen. In der Zwischenzeit strömten immer mehr Flüchtlinge in das Lager. Vor allem nach der Einnahme von Barcelona am 26. Januar. Sobald die Grenze von der französischen Regierung in der Nacht vom 27. auf den 28. Januar geöffnet worden war bis zur Schließung im Februar stieg die Zahl der Menschen im Lager von einigen Hundert auf ungefähr fünfzigtausend. In den kommenden Monaten sollte sie auf sechzigtausend ansteigen. Und das war nichts im Vergleich zu den anderthalb Millionen Spaniern, die durch den Sturz der Republik und aus Angst vor den Nationalisten auf die Straßen getrieben worden waren, und den fünfhunderttausend, die in Frankreich, hauptsächlich in den Ostpyrenäen, aufgenommen wurden.

Fünfzigtausend, das war eine große Stadt. Das Lager von Argelès war in der Tat eine große Stadt, jedoch eine Stadt ohne Geschäfte, ohne Kirche, ohne Schule, ohne Kino. Nur eine kleine Krankenstation und Hunderte von Holzbaracken, die ein Windstoß hätte umwerfen können.

Wenn unsere Kräfte es erlaubten, wohnten wir am Eingang des Lagers der Ankunft der Neuankömmlinge bei. Die Gendarmen begannen damit, die Familien zu trennen: die Männer in ein Lager, die Frauen und Kinder in ein anderes, manchmal in der Nähe, manchmal weit entfernt, und jedes Mal waren es herzzerreißende Szenen, Schreie, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen. Vor allem die Schreie der Frauen. Sie hatten ihr Heim verloren, ihre Kinder oder Eltern sterben sehen, sie waren am Ende ihrer Kräfte, krank, und nun nahm man ihnen auch noch ihre Söhne, ihre Ehemänner, ihre Brüder. Die Frauen waren verzweifelt und zeigten es auch, doch habe ich auch Männer im Augenblick der Trennung schwanken oder gar plötzlich zusammenbrechen sehen.

Nach der Trennungsprozedur verteilte ein Gendarm Decken, die er aus einem Laster zog, ein anderer notierte Namen und Alter in ein Heft. Jeder neue Flüchtling begab sich in den Bereich, den man ihm zuwies, legte sein weniges Gepäck ab, buddelte ein Loch in den Sand und kam dann zum Zaun zurück, um auf der anderen Seite einen Ehemann oder eine Ehefrau, einen Bruder oder Cousin ausfindig zu machen. Auf diese Weise war der Stacheldrahtzaun von Menschenreihen bevölkert, die von einem Lager zum anderen kommunizierten, mit wenigen Worten, die der Wind davontrug. Häufig wehte der Mistral, manchmal eine ganze Woche lang, wirbelte den Sand hoch, sodass die Augen brannten. In stürmischen Nächten donnerten die Wellen, der Wind pfiff und es herrschte eine feuchte Kälte, die einem bis in die Knochen drang.

Zweimal am Tag fuhr ein Militärlaster durch das Lager, hielt an jeder Baracke an, um einen Kochtopf abzustellen, meistens mit Topinambur, manchmal mit Kartoffeln. Ein anderer Laster folgte, ein Wächter stand im Gefährt und warf wahllos Brot herab, ohne hinzuschauen. Man musste sehr großen Hunger haben, um dieses Brot und diese Kartoffeln zu essen, die uns Bauchschmerzen bereiteten, und wirklich sehr durstig sein, um – wenn auch abgekocht – dieses Wasser zu trinken, das wir mit Konservendosen an den berüchtigten Handpumpen schöpften. Natürlich stand kein Fleisch auf dem Speiseplan, obwohl es die von den Flüchtlingen mitgebrachten Tiere gab. Sie weideten in den Gärten oder starben vor Hunger, wenn sie nicht von den Metzgern von Argelès entwendet worden waren, doch es gab eine Vorschrift, die es untersagte, sie zugunsten ihrer Besitzer zu schlachten. In unserem Sektor waren wir alle krank, und das fast immer. Die Ruhr war allgemein verbreitet, die Kinder weinten tagelang vor Hunger, und dann starben sie, vor allem am Anfang. Später begann das Rote Kreuz mit seinen Besuchen und setzte sich bei den Verantwortlichen dafür ein, die Baracken bevorzugt den Frauen mit Kindern zuzuweisen. Aber auch so sah man überall Frauen im Sand sitzen, mit ihren Babys im Schoß oder auf dem Arm, und sie mit ausgetrockneter Brust stillen. So saßen sie einige Tage an derselben Stelle, dann sah man sie nicht mehr und wusste, dass es zu Ende war, das Baby war gestorben.

In der ersten Zeit waren wir zu erschlagen, um uns für das politische Geschehen zu interessieren, geschweige denn für irgendetwas anderes. Aber später, genauer gesagt ab dem Zeitpunkt, als wir uns in den Baracken einrichten konnten, erwachten die Gewerkschaftler und die Aktivisten zu neuem Leben, und es gelang ihnen, sich zu informieren. Ende Februar erfuhren wir, dass Frankreich das nationalistische Regime anerkannt und Verhandlungen über die Rückführung der Flüchtlinge eröffnet hatte, weil diese sie viel Geld kosteten. Am 2. März wurde Marschall Pétain in Burgos zum Botschafter von Frankreich ernannt, bei seinem alten Freund Franco. Er setzte die Frage der Flüchtlinge auf die Tagesordnung, doch er hatte viel zu tun, besonders, was die Rückgabe spanischen Vermögens betraf, das von den französischen Banken zurückgehalten wurde. In Spanien verkündete El Caudillo, der Führer, ein Gesetz der politischen Verantwortlichkeit, das erlaubte, die republikanischen Anführer bei ihrer Rückkehr ins Land anzuklagen und zu inhaftieren. Das Wort ›inhaftieren‹ war im nationalistischen Wortschatz häufig ein Synonym für ›beseitigen‹: Wenn jemand im Gefängnis landete, hörte niemand mehr von ihm, und es bestand eher die Chance, mit den Füßen voraus als auf zwei Beinen wieder herauszukommen. In den französischen Lagern war es ähnlich, doch die Schamlosigkeit der Regierung wurde durch die Fürsorge einiger Privatpersonen gelindert. Ein Beispiel? Als die Kältewelle ihren Höhepunkt erreicht hatte, führte eine englische Tierschutzgesellschaft eine Inspektion bei uns durch: Die Delegierten gingen gruppenweise an uns vorüber und fragten, ob wir Haustiere hätten und ob es ihnen an nichts fehlte!

Persönlichkeiten mieden Argelès im Allgemeinen, das als Nest von Gewerkschaftlern und militanten Republikanern betrachtet wurde, doch wir erhielten einige Besuche. Ich erinnere mich an einen Abgeordneten der Partei, der dem Empfang von Ausreißern beiwohnte, und an einen Journalisten von La Dépêche, der einen lobenden Artikel über die Organisation des Lagers schrieb. Laut ihm ein Paradies auf Erden. Im Juli inspizierte Pétain das mustergültige Lager von Barcarès, geplant für siebzigtausend Flüchtlinge in tausend Baracken mit jeweils siebzig Menschen! Die Zeitungen veröffentlichten Fotos und enthusiastische Artikel, in denen der Komfort in diesen Hunderten von ›Chalets‹ gerühmt wurde, die in einer Reihe angeordnet waren und deren Dächer aus Wellblech in der Sonne glänzten. Tatsächlich verhinderte das Wellblech jegliche Luftbewegung, und die Hitze darunter war grauenvoll.

Im Frühling begannen die Soldaten davon zu reden, dass wir im Land untergebracht werden sollten. Die etwas wohlhabenderen Leute suchten Mädchen für ihren Haushalt, die Bauern Helfer bei der Feldarbeit. An einem bestimmten Tag kamen einige Matronen und begutachteten die Kandidatinnen: die Zähne, die Augen, die Muskeln … Wie Vieh. Doch es war eine Gelegenheit, aus dem Lager zu kommen und seine Haut zu retten. Meine Schwester und ich hatten uns eingeschrieben und gaben an, zusammenbleiben zu wollen: wir beide gemeinsam oder keine. Daraufhin wurde Teresa krank, und ich wollte sie nicht im Stich lassen. Die Krankheit wurde plötzlich schlimmer, und eines Nachts schreckte ich aus dem Schlaf auf: In meiner Umgebung fehlte etwas. Ich lauschte und begriff: ein Geräusch weniger. Es war Teresas Atmung.

Ein schrecklicher Augenblick. Ihr Körper, am Vorabend noch heiß vom Fieber, drückte kalt an meine Hüfte und meinen Schenkel. Einen Moment lang versuchte ich die Realität zu leugnen, dann begann ich zu zittern. Am ganzen Körper. Meine Hände, meine Beine, meine Brust waren nur noch ein Beben. Meine Zähne schlugen in der Stille der Baracke aufeinander. Ich glaube, es war dieses Klappern, das die Aufmerksamkeit meiner Nachbarinnen auf sich zog.

Was war danach geschehen? Ich erinnere mich nicht daran. Ich sehe mich mit offenen Augen liegen, ich spüre Teresas Druck an meinem Schenkel, und dann stehe ich am Eingang der Baracke, von meinen Kameradinnen umgeben. Wie jeden Morgen kommt die Gesundheitskontrolle, lädt den Leichnam auf die Bahre, bedeckt ihn wie immer mit einer Plane. Die Mädchen stehen schweigend da. Kaum ein Schluchzer oder eine Träne auf den Wangen.

Dieser Moment hat sich in mein Gedächtnis eingegraben. Ich schließe die Augen, und alles ist wieder da: die gezielten, professionellen Handgriffe der Krankenschwestern in dem grauen Licht, das durch die kleinen Fenster fällt, das Prasseln des Regens auf dem Dach, der Matsch auf dem Boden und unten an den Wänden. Ich sehe die Schweißtropfen an der Stirn eines der beiden Männer herunterlaufen, die Ratlosigkeit auf den Gesichtern der Frauen, und ich höre in dem Getöse des Regens und dem Husten einer Kranken die ersten Takte von La maja y el ruiseñor – Das Mädchen und die Nachtigall – in mir aufsteigen, des Klavierstücks von Granados, dem spanischen Komponisten. Ich stehe regungslos da. Ich betrachte diese Männer und wie sie mit diesem Körper umgehen, als beträfe es mich nicht, so wie ich dieselben Männer andere Körper habe aufheben sehen, fast jeden Morgen seit meiner Ankunft in Argelès, und ich höre diese Melodie, die mich wiegt und umhüllt.

Villefranche

Der Leiter des Lagers ließ mich am späten Vormittag rufen.

»Ich begleite dich«, sagte Julia und erhob sich.

»Lass nur«, entgegnete ich aus meiner tiefen Niedergeschlagenheit heraus.

Ich begab mich langsam zu dem kleinen Backsteingebäude mit den Büros und der Krankenstation. Dabei versuchte ich, auf den Holzplanken, die die Soldaten endlich über die Kloake gelegt hatten, das Gleichgewicht zu halten.

Der Leiter erwartete mich, und er war nicht allein. Er unterhielt sich in seinem Büro mit einer kleinen rundlichen Frau, von der ich durch die offen stehende Tür zunächst nur den Rücken erblickte. Als ich eintrat, drehte sie sich halb um, begutachtete mich von Kopf bis Fuß, und ihr Blick blieb erst an meinen Beinen hängen, dann an den Hüften und an dem, was von meiner Brust noch übrig geblieben war.

»Maria Soraya«, sagte der Soldat nach einem Räuspern. »Ist das dein Name?«

»Ja, das bin ich.«

»Madame …«

»Puech, Félicie Puech.«

»Madame Puech aus …«

»Villefranche, Villefranche-de-Conflent.«

»Madame Puech aus Villefranche-de-Conflent hat sich gemeldet, um dich aufzunehmen. Sie braucht Hilfe in ihrer Bäckerei, so ist es doch?«

»Ja. Mein Sohn wurde eingezogen, wie ich Ihnen gesagt habe …«

»Also …«

Er fuhr mit seinem dicken, fettigen Finger über ein Blatt Papier.

»Du hast mehrere Angebote abgelehnt, nicht wahr? Maria Soraya. Deine Schwester und du, ihr wolltet in derselben Familie aufgenommen werden, stimmt doch, oder? Nun …«

»Ich werde mitgehen«, sagte ich entschlossen.

»Du sprichst Französisch?«, fragte die Frau und blickte mir tief in die Augen.

»Ein wenig. Ich verstehe es«, fügte ich auf Katalanisch hinzu.

»Ein wenig!«, wiederholte sie enttäuscht.

Sie erhob sich seufzend, und ich fragte mich, ob die Anstrengung, die diese einfache Bewegung ihr abverlangte, durch ihre Korpulenz, gewöhnliche Müdigkeit oder vielmehr durch den Ekel, den ich ihr einflößte, hervorgerufen wurde. Sie drückte meine Muskeln an den Oberarmen, zog meinen Rock bis über die Knie hoch, inspizierte meine Haare und lief währenddessen unablässig mit unentschlossener Miene und Seitenblicken hin zum Lagerleiter um mich herum. Als sie ihre Inspektion beendet hatte, setzte sie sich wieder, seufzte noch einmal und schaute mich mit ihren kleinen Marderaugen einen Augenblick aus der Entfernung an.

»Marie also?«, fragte sie wiederum seufzend.

 

»Ja, Madame.«

»Gut. Ich nehme sie.«

Sie nickte, und ich begriff, dass ich aus dem Lager herauskommen würde, um irgendwo in einer Stadt oder einem Dorf der Ostpyrenäen Brot zu verkaufen. Der Leiter des Lagers stempelte ein Blatt Papier und hielt es ihr hin.

»Zehn Minuten«, sagte er, ohne mich anzusehen. »Du hast zehn Minuten, um deine Sachen zu holen.«

»Der Zug wartet nicht«, setzte die Frau mit einem letzten Seufzer hinzu.

Ich habe keine genaue Erinnerung an den ersten Teil unserer Reise, nur einige Bilder sind mir geblieben: Madame Puechs Bedrängnis in dem Moment, als sie auf den Lastwagen der Militärbehörde aufstieg, der Tumult am Bahnhof von Argelès, die eisernen Brücken über den Flüssen, das Grau des Meeres an der Flussmündung. Deutlich sehe ich jedoch den schwarzen Mantel und den kleinen Hut meiner Chefin unter einem großen Glasdach vor mir, das muss am Bahnhof von Perpignan gewesen sein. Und ich habe drei Trittbrettstufen und zwei sich gegenüberstehende hölzerne Sitzbänke vor Augen. Ein Reisender schickte sich an, meinen Koffer zu nehmen, um ihn auf der Gepäckablage über den Sitzplätzen zu verstauen, doch ich hinderte ihn daran und drückte den Koffer fest an mich. Ein kleines Ding aus aufgeweichtem Karton, an den Ecken eingedrückt, von Regen und Sonne verformt. Doch es war alles, was mir von meiner Vergangenheit geblieben war, das Einzige, was mich an meine Familie erinnerte.

»Nun gut!«, murmelte Madame Puech deutlich genug, dass ich es hörte. Seht euch das an!, sagte ihr Blick. Seht diese Zurückgebliebene, die sich an ein Stück Karton wie eine Bettlerin an ihre Mütze klammert! Doch sie spürte, dass ich nicht von meinem Entschluss ablassen würde, und insistierte nicht. Sie ließ sich am Ende der Sitzbank am Fenster nieder und wies mir mit einer Kinnbewegung den Platz ihr gegenüber zu.

»Setz dich dort hin«, sagte sie, als ich zu ihr kam.

Sie wiederholte es auf Katalanisch. Ich ließ mich nieder und versuchte dabei unter den Falten dessen, was von meinem Mantel übrig geblieben war, die Flecken und Risse meines Rocks zu verbergen.

»Nun, wir werden dich neu einkleiden«, sagte sie mit einem erneuten Seufzer, während sie mein Unterfangen beobachtete.

»Danke, Madame«, erwiderte ich auf gut Glück auf Französisch.

In diesem Augenblick ertönte ein Pfiff auf dem Bahnsteig, und die Dampfstöße wurden mit dem Schließen der Türen und dem Quietschen der Kuppelstange beantwortet. Es hatte aufgehört zu regnen, ein winterliches Licht glitt über die Gesichter, und die Geräusche fügten sich in einer Art Abschiedssymphonie zusammen, welche die Kulisse einhüllte und durchdrang.

Die Musik war der Mittelpunkt meines Lebens, ja, meines Seins gewesen, bevor ich Tarragona verlassen hatte. Die Bombardierung hatte sie plötzlich aus meiner Welt genommen, und nun kam sie auf diese Weise wieder zurück, ohne Vorwarnung. Warum gerade in diesem Moment? Hing es damit zusammen, dass ich das Lager verlassen hatte? Dass sich nach diesen Monaten der Zurückgezogenheit, der schieren Hoffnungslosigkeit neue Perspektiven eröffneten? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass sie da auf einem Bahnsteig im ›Zentrum der Welt‹, wie Salvador Dalí diesen Ort genannt hatte, wieder ihren Platz in mir einnahm.

Der Zug entfernte sich vom Bahnhof, dann von den Vorstädten, um durch einen Weinberg zu fahren, der sich mit seinen Hohlwegen, Mandelbäumen und Hütten unter Feigenbäumen in sanften Wellen dahinzog, so weit das Auge reichte. Es gab dort Felsen, die wie Schornsteine mit einer Haube aussahen, Dörfer mit roten Dächern und weißen Mauern, die mich an Spanien erinnerten, linkerhand bewaldete Abhänge und darüber eine hohe, mit Schnee bedeckte Gebirgskette.

»Der Canigou«, sagte Madame Puech, als sie meinem Blick folgte.

»Der Canigou«, wiederholte ich.

»Komm näher«, murmelte sie wenig später und rutschte an den Rand ihres Sitzplatzes.

Sie zögerte, dann sagte sie leise, indem sie sich von den Mitreisenden abwandte: »Ich muss mit dir reden. Über Charles. Meinen Sohn Charles. Meinen einzigen Sohn, hörst du?«

Sie sah mich durchdringend an. Was war mit diesem Charles?

»Die Armee hat ihn uns genommen«, seufzte sie. »Die Mobilmachung, verstehst du? Das tut uns weh. Es schadet dem Geschäft«, sprach sie stirnrunzelnd weiter. »Wir können ihn nicht ersetzen, sie sind alle weg, verstehst du? Alle Männer sind fort«, wiederholte sie mit einer Handbewegung, als würde sie einen Schwarm Spatzen nachahmen, »das Backhandwerk ist Männerarbeit, und es gibt keine Männer mehr, es sind keine mehr da.«

Sie setzte sich wieder zurück auf ihren Platz und erklärte mir unter weiteren Seufzern und ohne mich anzuschauen die Organisation ihres Geschäfts und was sie von mir erwarteten, ihr Mann und sie: Ich würde im Laden arbeiten und Arlette, ihre Angestellte, in die Backstube überwechseln. Dann holte sie ein großes viereckiges Stück Stoff aus ihrer Manteltasche, schnäuzte sich und rieb sich die Nasenflügel.

»Charles …«

Sie zögerte, dann sagte sie mit traurigem Gesicht: »Er schreibt nicht.« Und mit einem in die Ferne auf irgendein Detail der Landschaft gerichteten Blick: »Émile macht es ganz krank.«

»Émile?«

»Émile, mein Mann. Muss man dir alles erklären? Charles sollte ihn ablösen. Er hat es versprochen. Aber nun ist Krieg, er ist weg, und Émile, nein, er kann nicht, es ist zu viel für ihn. Es wird ihn umbringen«, fuhr sie fort und schnäuzte sich wieder mit einer großtuerischen Geste, bei der sie ihre Augenbrauen zusammenzog.

Den Blick noch immer abgewandt, fügte sie leise hinzu: »Deshalb haben wir dich genommen, verstehst du? Für den Verkauf.«

»Den Verkauf?«

»Für den Brotverkauf natürlich! Ach, begreifst du denn gar nichts?«

»Doch«, stammelte ich. »Für den Brotverkauf.«

»Wirst du es schaffen?«, fragte sie besorgt, nachdem eine ganze Weile Stille geherrscht hatte.

Was sollte ich schaffen? Mich an den Preis des Brotes erinnern, die Bestellungen notieren, das Kleingeld herausgeben? Das erledigen, was ich so oft die Angestellten der Bäckerei in unserem Viertel in Tarragona hatte tun sehen? Warum nicht? Ich hatte mir vorgestellt, dass ich Wäsche ausschlagen, Kartoffeln schälen und Wasser aus einem tiefen, dunklen Brunnen heraufholen musste. Letztendlich verlangte man von mir, dass ich mich hinter einen Ladentisch stellte, um Brot auszugeben, was würde das ändern? Das Einzige, was für mich in diesem Moment zählte, war, aus diesem Lager wegzukommen, zu dem man mich zurückbringen würde, wenn ich die an mich gestellten Aufgaben nicht erfüllte. Tatsächlich hätte ich an jenem Tag und auch noch geraume Zeit später alles Mögliche akzeptiert, nur aus Furcht, nach Argelès zurückgeschickt zu werden. Sagte man mir: Tu dies, mach das – ich tat es, ohne zu versuchen, es zu verstehen, oder zu widersprechen. Wie dem auch sei, ich hatte meinen Vater, meine Mutter, mein Zuhause verloren, ich hatte auf der Flucht Schreckliches gesehen, wie ich es mir nie hätte vorstellen können, und nun war Teresa tot, und ich war allein auf der Welt. Also Wäsche waschen oder Brot verkaufen …

»Ja, Madame«, sagte ich in meinem unvollkommenen Französisch, »ich werde es schaffen.«

Und später, nachdem ich ein wenig nach den Worten gesucht hatte: »Sie können sich auf mich verlassen.«

Sie sah mich noch einen Moment lang an, mit diesem zweifelnden Ausdruck, mit dem sie mich von Anfang an im Büro gemustert und den sie seitdem beibehalten hatte, dann wandte sie den Kopf zum Fenster und versank in ihre Gedanken.

Wir fuhren in einen Bahnhof ein, der den Namen ›Prades‹ trug. Auf dem Bahnsteig erinnerte mich ein mit Kugeln und Girlanden geschmückter Weihnachtsbaum an das Datum: Es war der 24. Dezember. Ich hob den Kopf und nahm die Menschen in unserem Abteil wahr. Ich war so in meine Gedanken vertieft gewesen, von der Betrachtung der Landschaft so in Anspruch genommen, dass ich sie weder gesehen noch gehört hatte. Hätte man mich gefragt, wer von ihnen mit uns zusammen in Perpignan eingestiegen war und wer an den folgenden Haltestellen, ich wäre nicht in der Lage gewesen zu antworten.

Ich lauschte. Die Unterhaltung handelte von den Rationierungsmaßnahmen, den Schwierigkeiten, Lebensmittel zu bekommen, der drohenden allgemeinen Mobilmachung. In Kriegszeiten Weihnachten feiern – wie passt das zusammen?, bemerkte jemand. Eine Antwort blieb aus.

Dieser Halt dauerte länger als die anderen, doch der Zug setzte sich schließlich wieder in Bewegung. Die Silhouette des Tannenbaums entfernte sich rasch, und die Kulisse verengte sich. Da waren keine großen Obstgärten und bewaldeten Hügel mehr. Wir fuhren langsam durch einen Engpass, der mich an den Anstieg des Passes von Perthus nach der Bombardierung erinnerte. Tränen stiegen mir bei dieser Erinnerung in die Augen. Würde die Kette meiner Unglücke jemals enden? Stand es irgendwo geschrieben, dass ich immer wieder auf Menschen ohne Mitleid treffen würde, die nur den Profit oder den Vorteil im Sinn hatten, den sie aus mir ziehen konnten? Wie diese Madame Puech. Sie beobachtete mein Spiegelbild in der Glasscheibe der Tür, stellte meine Bestürzung fest und tat, als ob sie nichts bemerkte, nichts sah. War das eine Angewohnheit der Leute hier? Eine besondere Sitte in dieser Gegend? Nein, seit ich das Lager verlassen hatte, war ich einige Male angelächelt worden. Am Bahnhof mit dem Tannenbaum hatten mich die Reisenden mit einer Mischung aus Neugier und Sympathie angeschaut. Sie hätten mich sicherlich angesprochen und sich meiner angenommen, wenn meine Chefin nicht da gewesen wäre.