Die heilende Kraft menschlicher Spannungen

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Aus der Reihe: Franziskanische Akzente #2
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Die heilende Kraft menschlicher Spannungen
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HELMUT SCHLEGEL

Die heilende Kraft menschlicher Spannungen

Franziskanische Akzente

Für ein gottverbundenes und engagiertes Leben

Herausgegeben von Mirjam Schambeck sf und

Helmut Schlegel ofm

Band 2

Die Suche der Menschen nach Sinn und Glück ernst nehmen und Impulse geben für ein geistliches, schöpfungsfreundliches und sozial engagiertes Leben – das ist das Anliegen der Reihe „Franziskanische Akzente“.

In ihr zeigen Autorinnen und Autoren, wie Leben heute gelingen kann. Auf der Basis des Evangeliums und mit Blick auf die Fragen der Gegenwart legen sie Wert auf die typisch franziskanischen Akzente:

Achtung der Menschenwürde,

Bewahrung der Schöpfung,

Reform der Kirche und

gerechte Strukturen in der Gesellschaft.

In lebensnaher und zeitgerechter Sprache geben sie auf Fragen von heute ehrliche Antworten und sprechen darin Gläubige wie Andersdenkende, Skeptiker wie Fragende an.

HELMUT SCHLEGEL

Die heilende Kraft menschlicher Spannungen


Herzlicher Dank geht an Clemens Wagner für die fachkundige und äußerst versierte Unterstützung bei den Korrekturarbeiten sowie an die Deutsche Franziskanerprovinz mit Sitz in München.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

© 2014 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter-verlag.de Umschlag : wunderlichundweigand.de (Foto : © Petr Juilek / shutterstock.com) Satz : Hain-Team (www.hain-team.de) ISBN 978-3-429-03749-9 (Print) 978-3-429-04776-4 (PDF) 978-3-429-06191-3 (ePub)

Inhalt

1. In der Schule des Bogenschützen – eine Art Vorwort

2. Spannungen als Glaubenswege – Frauen und Männer der Bibel

Lachen und Lächeln – Abraham und Sara

Verwundung und Gesundung – Mose

Grund und Abgrund – die Betenden

Protest und Prophetie – Jeremia

Entlarvung und Umarmung – Jesus

3. Spannungen als Reifungsprozess – Franz von Assisi

Bitterkeit wird Zärtlichkeit – das Fremde integrieren

Bindung wird Freiheit – das Evangelium leben

Askese wird Lebenslust – die Schöpfung lieben

Abstieg wird Aufstieg – das Sterben annehmen

4. Spannungen als Energiequellen – gangbare Wege

In der Gegenwart leben

Emotionen temperieren

Beziehungen wachsen lassen

Kontemplativ engagiert sein

5. Übungen zur „Mystik der offenen Augen“

Geerdet meditieren

Selbst zum Gebet werden

Die ABBA-Meditation

Wohnen im dreifaltigen Gott

6. Ausgespannt am Kreuz umarmst du die Welt – eine Art Nachwort

Zum Weiterlesen

Abkürzungsverzeichnis

1. In der Schule des Bogenschützen –
eine Art Vorwort

Der Bogenschütze, der das Seminar anleitete, nahm sehr behutsam und fast zärtlich seinen Bogen in die Hand und schaute ihn an. Mit geübten Händen spannte er ihn und sagte : „Man muss seinen Bogen so spannen, dass das richtige Maß an Spannungsenergie von der Sehne auf den Pfeil übertragen wird. Ohne Spannung taugt der Bogen nicht zum Schießen, überspannt ist er in Gefahr zu brechen. Die richtige Spannung zu finden – das ist das Ziel dieses Seminars.“

Im Lauf der Tage, die unter der Überschrift standen „Zen und die Kunst des Bogenschießens“, begriff ich, dass es nicht nur um den Bogen geht. Da ist der Pfeil. Wenn er auf die gespannte Sehne gelegt ist, gilt es zu warten. Ja, ich muss selbst zum Pfeil werden und aushalten, bis es Zeit ist. Dann aber muss ich loslassen und freigeben. Mich loslassen und freigeben. Es kommt nicht darauf an, dass der Pfeil trifft, es kommt darauf an, dass ich selbst zwischen Festhalten und Loslassen mein Maß finde.

Und weiter : Ich schaue auf das Ziel. Ein runder Punkt in der Scheibe. Weit weg ist das Ziel und doch ganz nahe, denn ich selbst bin das Ziel. Mich in meiner Mitte anzutreffen ist mein Ziel. Und wenn ich nicht treffe, gilt es, das hinzunehmen. Als Mensch bin ich ein Leben lang in der Spannung zwischen dem Sein „in der Mitte“ und meinem Leben „ganz außen“. „Ganz wichtig“, sagt der Meister, „ist dein Atem. Er geht und kommt und dazwischen ist nichts. Vertraue dich dem Atem an. In seinem Rhythmus findest du den richtigen Zeitpunkt für das Lösen deiner Finger. Im Einschwingen auf deinen Atem findet der Pfeil sein Ziel.“

Dies haben mich der Bogen, der Pfeil, das Ziel und vor allem mein Atem gelehrt : Alles ist in Spannung. Unsere Existenz bewegt sich zwischen Angst und Zuversicht, Hunger und Sattsein, Licht und Schatten, Trauer und Freude, Leben und Tod. Es ist gut so, denn aus der Spannung wächst Kraft. Die Kunst des Lebens liegt im Aushalten und Ausleben des „Dazwischen“. Wer sich den Gegensätzen und Paradoxien stellt, schöpft aus ihren Spannungen Energie.

Die eine Wahrheit ist, dass Spannungen – auch unangenehme Spannungen – nicht vermeidbar sind. Der Glaube, jeder Art von Lebenslast, Existenzangst und Sinnleere könne geholfen werden, wenn wir nur das richtige Mittel anwenden, ist eine Häresie.

Die andere, viel wichtigere Wahrheit ist, dass Spannungen in Wirklichkeit heilsam sind und sowohl dem ganzheitlichen Wohlbefinden als auch dem menschlichen Wachstum dienen. Wenn wir den Mut aufbringen, uns auf die Widerstände des Lebens einzulassen, werden sie uns Kraft und Lebensqualität schenken.

Dieses Buch will einladen, in guter Weise mit Spannungen umzugehen, ja sie als Kraftquellen für ein gesundes und erfülltes Leben zu nutzen. Dabei lade ich Sie ein, zunächst einige der großen biblischen Gestalten – vor allem Jesus von Nazaret – anzuschauen, um zu erkennen, dass sie keineswegs von Spannungen und Konflikten verschont blieben. Die Bibel stellt uns den Glauben als einen spannenden und spannungsreichen Weg dar. Unsere biblischen Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter zeigen, dass dieser Weg mühsam und heilsam zugleich ist – gerade wegen der Spannungen, in die er uns führt.

Es ist selbstverständlich, dass eine Schrift, die sich in die Reihe „Franziskanische Akzente“ einfügt, auch einen Blick auf Franz von Assisi wagt. Zweifellos ist auch sein Leben von starken Spannungen geprägt. Wie geht er damit um? Es ist immer fragwürdig, Menschen, die in einer ganz anderen Zeit gelebt haben, als Vorbilder zu präsentieren, müssen wir hier und heute doch mit ganz anderen und neuen Spannungen im persönlichen, beruflichen und gesellschaftlichen Leben zurechtkommen. Dennoch : Die Art und Weise, wie Franziskus sein Leben in der Nachfolge des gekreuzigten und auferstandenen Christus sieht und wie er die Paradoxien auf diesem Weg als Herausforderung für eine weltbejahende und hingebende Liebe sieht, ist in einem guten Sinn provokativ.

Schließlich will dieses Buch Wege aufzeigen, wie Menschen von heute ihre körperlichen und seelischen, aber auch ihre gesellschaftlichen und persönlichen Spannungen aushalten und als geistig-geistliche Energiequellen nutzen können. Entsprechend der Absicht dieser Reihe werden dabei vor allem franziskanische Grundhaltungen als hilfreiche Perspektiven vorgestellt. Sie motivieren uns dazu, ganz in der Gegenwart zu leben, in den emotionalen Bewegungen die Temperantia – das ist die Tugend des rechten Maßes – zu finden, im Umgang mit anderen Menschen Geschwisterlichkeit zu praktizieren und in unserer Gottesbeziehung die „Mystik der offenen Augen“ (J. B. Metz) zu üben, in der das Gebet zu einer Energiequelle der tätigen Nächstenliebe und des verantwortlichen Handelns in Kirche, Gesellschaft und Welt wird.

 

2. Spannungen als Glaubenswege – Frauen und Männer der Bibel

Das Grundanliegen der Heiligen Schrift ist es, dass Menschen im Licht der Gottesbegegnung Heil und Heilung erfahren. Bereits in den Schriften der hebräischen Bibel wird deutlich : Gott bewahrt den Menschen nicht vor Konflikten – mitunter führt er ihn sogar mitten in diese hinein –, aber er begleitet ihn mit starker Hand und gibt ihm die Kraft, in den Spannungen zu wachsen. Die christliche Bibel zeigt uns, dass Gott sich selbst in Jesus Christus in den Spannungsbogen menschlicher Konflikte hineinstellt – bis hin zur Erfahrung des Scheiterns und des Todes. Der Weg der Erlösung ist kein Weg der Entspannung, vielmehr ist er durch das Kreuz, das gewissermaßen als Symbol und Brennpunkt aller menschlicher Paradoxien gilt, gezeichnet. Jesus löst das Kreuz nicht auf, sondern trägt es mit allen Konsequenzen durch, bis er von Gott aus dem Tod in ein neues Leben gerufen wird.

Wer die biblischen Schriften ernst nimmt, findet darin alles andere als eine „Wohlfühlreligion“, in der ein harmloser lieber Gott dem Menschen die kantigen Steine aus dem Weg räumt. Wenn Karl Marx Religion als „Opium des Volkes“ bezeichnet, dann hat er offensichtlich Fehlformen davon kennengelernt. Zu allen Zeiten sind Menschen in Gefahr, Gott zu instrumentalisieren, entweder um die Religion als Drohmittel zu missbrauchen und eigene Interessen durchzusetzen oder um die Zumutung des Glaubens zu domestizieren und auf die Bedeutung eines seelischen Trostmittels zu reduzieren. Gerade die widerständischen Texte der Heiligen Schrift zeigen aber, dass Gott der ganz Andere und immer Größere ist.

Der Glaubensweg, wie ihn die Bibel aufzeigt, will den Menschen die Zumutungen eines spannungsreichen Lebens nicht ersparen. Er will uns in Wahrheit aus der selbstgewählten oder fremdbestimmten Unfreiheit herausholen. Die Bibel zeigt uns ein Leben in Gott als Erfüllung unserer tiefsten Sehnsucht einerseits und als Herausforderung, an einer gerechten und schöpfungsfreundlichen Welt mitzugestalten, andererseits.

Lachen und Lächeln – Abraham und Sara

Die Geschichte Abrahams und Saras beginnt in Ur in Chaldäa. Dies war eine der ersten Großstädte, von den Sumerern im Zweistromland erbaut. Dort blühten Kultur und Zivilisation. Auf dem Land bauten die Menschen Getreide und Früchte an. In den Städten entwickelten sie Techniken, die das tägliche Leben erleichterten. Kein Wunder, dass die Bewohner wohlhabend waren. Umso mehr erstaunt es, dass Abraham und seine Frau Sara samt ihrer Sippe dieses Land mit unbekanntem Ziel verlassen. Die Bibel erzählt, dass Gott selbst es ist, der Abraham zum Aufbruch auffordert : „Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde. Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein“ (Gen 12,1 f).

Ein recht ungewöhnlicher Auftrag, wenn wir bedenken, dass Abraham und Sara kinderlos geblieben und nun bereits 75 Jahre alt sind. Und doch ziehen sie los – Abraham, seine Frau Sara, sein Neffe Lot, die Mägde und Knechte und die Viehherden.

Viele Jahre später finden wir das Paar bei Mamre wieder. Das ist ein Eichenhain bei Hebron, westlich vom Jordan. Was hat sich getan in Sachen Nachwuchs? Nichts. Und die beiden sind fest davon überzeugt : Da wird sich auch nichts mehr tun. Inzwischen sind sie fast 100 Jahre alt. Bittere Zweifel nagen im Herzen : Was ist das für ein Gott, der uns dermaßen hinhält? War es falsch, dass wir uns auf seine Versprechungen eingelassen haben? – Hinter dieser Frage steckt eine viel tiefere Frage. Sie trifft und erschüttert vermutlich jeden Menschen. Es ist die Frage, die mir meine Endlichkeit stellt : Was bleibt von mir? Welche Spur hinterlasse ich? Für die Orientalen setzt sich das eigene Leben in den Kindern fort. Das mag heute für viele von uns anders sein, aber die Sehnsucht, zu „bleiben“, ist tief im Menschen verankert. Es ist im Übrigen eine Sehnsucht, die Menschen aller Religionen und Weltanschauungen, ja auch jene, die sich ungläubig nennen, verbindet. Sie ist eng verknüpft mit der Erfahrung des Todes. Die Frage, wie wir mit dem Tod umgehen, ist darum eine der wichtigen Fragen, an denen sich der Wert menschlicher Kultur entscheidet.

Das Buch Genesis berichtet, wie eines Tages in der Mittagshitze drei Fremde vorbeikommen. Wie alle Orientalen sieht auch Abraham in den Fremden Gott selbst. So sagt er : „Mein Herr, wenn ich dein Wohlwollen gefunden habe, geh doch an deinem Knecht nicht vorbei!“ (Gen 18,3). Die Fremden bleiben und Abraham bittet Sara, Brot zu backen. Seinem Knecht gibt er den Auftrag, ein junges Kalb zu schlachten, er selbst besorgt Butter und Milch und bewirtet die Fremden im Schatten der Eiche. Und so erzählt die Bibel weiter : „Der Herr sprach : In einem Jahr komme ich wieder zu dir, dann wird deine Frau Sara einen Sohn haben. Sara hörte am Zelteingang hinter seinem Rücken zu. Abraham und Sara waren schon alt; sie waren in die Jahre gekommen. Sara erging es längst nicht mehr, wie es Frauen zu ergehen pflegt. Sara lachte daher still in sich hinein und dachte : Ich bin doch schon alt und verbraucht und soll noch das Glück der Liebe erfahren? Auch ist mein Herr doch schon ein alter Mann! Da sprach der Herr zu Abraham : Warum lacht Sara und sagt : Soll ich wirklich noch Kinder bekommen, obwohl ich so alt bin? Ist beim Herrn etwas unmöglich? Nächstes Jahr um diese Zeit werde ich wieder zu dir kommen; dann wird Sara einen Sohn haben. Sara leugnete : Ich habe nicht gelacht. Sie hatte nämlich Angst. Er aber sagte : Doch, du hast gelacht“ (Gen 18,10–15).

Die erneute Verheißung finden die beiden Alten zum Lachen. Ein Lachen, das die ganze Spannung des Glaubens deutlich macht : Dem Sohn, den die beiden dann doch bekommen sollten, geben sie den Namen „Isaak“, zu Deutsch „Gott lächelt“. Der Mensch lacht und Gott lächelt. Das ist der hintergründige Humor der Bibel und drückt die ganze Spannung des Glaubens aus : Der bewegt sich zwischen ironischem Lachen und gütigem Lächeln, zwischen Skepsis und Trotzdem-Glauben, zwischen der Erfahrung Gottes, der verborgen und nah zugleich ist, zwischen enttäuscht werden und aushalten. Diese Paradoxie des Glaubens zieht sich durch alle Geschichten der Bibel. Abraham und Sara sind eben wegen dieses „Trotzdem“ für jüdische, christliche und muslimische Gläubige „Eltern“ und Vorbilder des Glaubens. Sie zeigen in ihrem Glauben einen langen Atem. Auch wenn sich über Jahre hinweg die Verheißung Gottes nicht erfüllt, ja irgendwie menschlich gar nicht mehr erfüllbar erscheint, bleiben sie ihrem Gott treu. Sie halten in dieser Spannung aus. Und sie erfahren, dass auch Gott langen Atem hat. Dass er zu seinen Verheißungen steht und die menschliche Glaubenstreue bei Weitem überbietet.

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