Mit dem Fahrrad und Aphasie durch Europa. Band 2

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Mit dem Fahrrad und Aphasie durch Europa. Band 2
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Helmut Friedrich Glogau

Mit dem Fahrrad und Aphasie durch Europa

… und durch mein erstes und zweites Leben

Band 2

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Erste Auflage

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

www.engelsdorfer-verlag.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Ein zweites Vorwort

Acht mittel-, nord- und osteuropäische Hauptstädte

Die Reise nach dem Armenhaus Rumänien

Danksagung

Fußnoten

EIN ZWEITES VORWORT

Es ist Zeit, dass ich endlich den zweiten Teil des Buches »Mit dem Fahrrad und Aphasie durch Europa und durch mein erstes und zweites Leben« anfange.

Ein kleines bisschen müsste ich doch ausholen. Damals habe ich mich im Krankenhaus (es ist ewig her), mächtig gelangweilt.

An der Wand im Korridor waren Schilder angebracht, die komischen Zeichen konnte ich nicht deuten: »Vorsicht, Stufe« oder »Fahrstuhl« oder »Ruhe«, dann später habe ich ein Regal mit Büchern und ein Tisch mit Journalen entdeckt, ich hatte immer wieder die Buchstaben angeschaut, angestarrt, aber den Sinn der Buchstaben habe ich nicht begriffen. Eine steinalte Ärztin wollte sich über mich lustig machen, sie hatte mich gefragt, ob ich lesen könne oder ob ich nur die Bilder angucke. Bei der ersten Frage hatte ich verneint, mein Kopf heftig geschüttelt, sie hatte laut und albern gelacht und mich einfach stehen lassen.

Im Flur hatte ich immer wieder versucht den Sinn der Buchstaben herauszukriegen, denn ich war verunsichert. Die Buchstaben sind durch die Luft geflogen und wie durcheinander gepurzelt. Plötzlich hatten die Buchstaben in der Reihe angestanden und sind wohlgeordnet – ich kann lesen, ja – meine Seele war hoch erfreut, und gleichzeitig hätte ich die Welt umarmen können, trotzdem aber fiel es mir unwahrscheinlich schwer, das Lesen.

Dann hatte ich mich immer wieder als »Schriftsteller« versucht und sehr viel Zeit vergeudet; es ist mir ständig fehlgeschlagen, hier ist eine Kostprobe:

»Als ich war bin mit zweites Leben geboren im 4. Januar. Im Alter 43 Jahre alt. Bis 14. April kann ich nicht aufgeschrieben werden.

15. 4. 1996: Hannes (mein Sohn) hat Geburtstag. Ich habe morgens am sieben telefonierte um. Hannes sagt nichts. Und kann nichts.

16.4. Auf der Station ich war im Krankenhaus »Georg« bis 12. Februar.

17.4.: Ich habe die Kur am 5. 3. 1996 bis 30.4., schlecht schlafe. Lesen nicht Fortschritt. Sprechen und Fortschritt. Besuch Frau und Mutti.

18.4.: Ich spiele Tischtennis, schwimme und spiele Schach.

24.4.: Am 22.4. feierte ich den Geburtstag einer Tischtennis (kurz, 39 Jahre, klein) Saufen Schnaps 6 Flaschen/​Kopf tun.«

Aus dem tiefen Loch der Sprachlosigkeit habe ich mich aufgerappelt, es hat ein halbes Jahr gedauert, dass ich meine Hobbys (Tischtennis, Schach und Trompetenspielen – recht und schlecht – mehr schlecht) wieder langsam angefangen habe.

Am 8. November 1996 bin ich total ausgeflippt, weil ich zur zusätzlichen Eheberatung in die kognitive Tagesklinik musste (ich habe mich für ein ¾ Jahr therapieren lassen). Ich hatte einen, für mich wichtigen Zettel vergessen. Damals konnte ich wenig reden, fast gar nicht. Dieser Zettel beinhaltete wichtige Notizen, um mich zu verständigen. Anderen Leuten, wie z. B. der Diplompsychologin war das scheißegal. Meine Frau hat nur ihre Version dargestellt und viele, viele Worte gebraucht. Sie redete wie ein Wasserfall (Lügen, Halbwahrheiten und Wahrheiten). Ich wurde verurteilt, hatte keinen Widerspruch und keine Rechtfertigungen. Die Psychologin hat mich angeschnauzt und richtig ausgewettert.

Ich war sehr erbost und verzweifelt. Ich musste raus. Aller Krankheit und Aphasie zum Trotz. Die Jahreszeit war dafür allerdings denkbar ungünstig.

Ich war stinkig, na klar; über meine Frau oder über die Psychologin oder über alle beide! Oder vielleicht über mich? Sie, die Diplompsychologin, hatte sich um einige Zeit später bei mir entschuldigt, sie hätte vom »Ehekitten« keine Ahnung, sagte sie.

Ich nahm zu Hause einen Koffer und habe mich von meinem Sohn verabschiedet. Ich hatte gelogen, ich sagte, ich fahre nach Stendal und ging los. Ich hatte keinen Plan – nur ein kleines Plänchen: Ich möchte irgendwie nach Süd-Frankreich gelangen, wegen der Wärme, und bin einfach geradeaus gegangen mit dem Koffer.

Ich war megabescheuert.

Abends war ich schätzungsweise gegen einundzwanzig Uhr an dem Stausee in Knautkleeberg mit meinem Koffer angelangt. Immer geradeaus. Mitternacht. In der Nähe von Zwenkau. Der Koffer war schwer. Ich konnte nicht schlafen. Meine Hände waren kaputt. Ich hätte meine Hände wegschmeißen können. Um die Ecke war ich marschiert, ich hatte mich bloß umgeguckt, ohne Koffer, war weiter gelaufen. Plötzlich ist mir eingefallen, dass ich meinen Koffer suchen muss. Die Aktion dauerte anderthalb Stunden an, da es stockfinster war.

Der Tag fing an. Ich war in der Nähe bei Eytra südlich von Zwenkau. Ich bin getrampt, und ohne zu winken nahm mich ein junger Mann mit. Wir fuhren nach Großdalzig zum Bahnhof. Von dort aus fuhr ich nach Gera. Ich bin schwarzgefahren und die Schaffnerin kam sehr schnell. Mit ihr war nicht gut »Kirschen essen«, ich musste Strafgeld bezahlen. Gerade so hat mein Geld gereicht. Gleich nach meiner Ankunft suchte ich in Gera eine Sparkasse. Sonnabend und Sonntag hat das Bankhaus nicht geöffnet. Ich war enttäuscht.

Gera ist ein Drecknest für mich.

Die zweite Sorge galt dem Koffer, dass ich ihn irgendwie loswerden kann. Die Schließfächer sind zu teuer. Für die Zugfahrt hatte ich mein Geld in den Rachen der Bundesbahn geschmissen, ich war richtig arm. In der Nähe vom Bahnhof war ein wilder Platz mit vielen Büschen. Drei Mal war ich angelaufen, der Koffer war schwer, ich hatte ihn in die Mitte geworfen, damit ihn keiner finden kann. Also war das Problem erledigt.

Genug Zeit, um mich in der Stadt herumzutreiben. Dann suchte ich eine Möglichkeit zu schlafen, es war eine schwierige Angelegenheit. Bei dem DRK versuchte ich es, ich zeigte eine Geste, dass ich schlafen möchte. Eine relativ junge Frau hat mich nicht verstanden, sie hatte erstaunt und hilflos geguckt. Dann kam ein sehr junger Mann (schätzungsweise 20 Jahre), der hatte mich richtig heruntergeputzt, und wurde sogar regelrecht laut. Mit einem unfreundlichen Menschen hatte ich also zu tun, und das bei dem Deutschen Roten Kreuz, ich fasse es nicht.

Gerade in dieser Nacht begann An diesem Tag begann ausgerechnet die Nachtfrostperiode, glaube ich jedenfalls. Auf dem Bahnhof wurde zufällig ein Zug auf dem Nebengleis abgestellt war. Heimlich habe ich mich in den Zug reingeschlichen, um dort zu übernachten. Aber es war auch hundekalt.

Am Sonntag war ich beim Gottesdienst. Die Predigt war gut, vielleicht von dem verlorenen Schaf oder von dem verlorenen Sohn, ich hatte eine gewissermaßen freudige Hoffnung gehabt. Als der junge, vielleicht dreißig oder fünfunddreißigjährige Pastor die Predigt beendigt hatte, war ich zu ihm hingegangen. Der Pfaffe hatte aber überhaupt keine Zeit für mich, er hatte nur kurz mit einem anderen Menschen, ich glaube dem Küster gesprochen. Er hat kaum ein Sterbenswörtchen zur Kenntnis genommen, so schnell war er verschwunden. Die Predigt war gut, der Mensch, der Priester, war schlecht. Vielleicht hat der Kirchenmann wirklich keine Zeit, wer weiß.

Aber der Küster hat sich etwas Zeit für mich genommen. Ihm habe ich mein Leid geklagt. Es war schwierig, fast ohne Worte. Nach vergeblichen Versuchen hatte ich den Küster endlich überzeugt, dass ich dringend eine Übernachtungsmöglichkeit brauchte. Der Kirchendiener hat mir sehr geduldig geholfen, er hat mir dann einen Straßenbahnschnipsel und drei DM (für Übernachtung) geschenkt ich hatte es ihm nicht einmal zurückgegeben können, ich bin schlecht. Ich fuhr zum Obdachlosenheim.

Zum ersten Mal war ich dort. Es war verkeimt, es gab viele Spinnenganker aber Einzelzimmer für Gäste. Nachdem ich mein Zimmer bezahlt habe, hat mich mein Magen erinnert, dass ich für knapp zwei Tage nichts gegessen hatte. Ein Betreuer hat mir zum Beißen und Trinken hingestellt und ich bin überglücklich in das Bett gefallen.

Montag, nachdem ich die Sparkasse aufgesucht hatte, holte ich den Koffer. Ich habe den Koffer, die ganzen drei Tage nicht einmal geöffnet, eigentlich für die Katz. Gestern hätte ich eine warme Jacke aus dem Koffer überziehen können, weil ich die 400 Meter zum Bahnhof zurücklegen musste, doch war ich aber zu müde und zu faul.

 

Dann fuhr ich nach Leipzig zurück, selbstverständlich mit der eigenen Fahrkarte, nicht schwarz.

Mein Wochenendausflug war beendigt, ich hätte eigentlich auf dem Weg nach Süd – Frankreich sein müssen.

Gut zehn Jahre später war ich tatsächlich in Süd-Frankreich gewesen.

Meinen Koffer hatte ich zu Hause abgeliefert, dann fuhr ich zur Klinik. Die Leute von der Tagesklinik hatten sich rührig um mich gekümmert, eine Sozialtherapeutin hat mir eine Schlafstelle besorgt, ich wollte auf gar keinen Fall mit »meiner lieben Frau« zusammenkommen.

Manche Sachen habe ich manchmal falsch gemacht, meine liebe Frau (ohne Gänsefüßchen) hat sich einfach mit der ganzen Situation irgendwie überfordert gefühlt und die Kinder waren noch klein, und ich habe sowieso die Erziehungsaufgaben an meine Frau abgegeben. Die Angehörigen haben es doch doppelt so schwer, zum Beispiel »unsereiner Macken«, die Gedanken nicht mehr in Worte fassen zu können, also mit der »kaputten Sprache«, geduldig umzugehen und es zu ertragen.

Im Osten von Leipzig war mein Zimmer, es war zirka 20 Quadratmeter groß und mit alten Möbelstücken (beinahe antik) eingerichtet. Es gab hier eine kleine Frau. Sie umarmt uns alle. Sie war schwerbehindert. Für eine Übernachtung war es zu teuer, keine Frage: Zweiundvierzig DM, einschließlich Abendessen.

Die Tagesklinik hatte für mich alles erledigt, beispielsweise die Anmeldung für das Obdachlosenheim.

Auf dem Weg zum Obdachlosenheim habe ich mich erst mal verlaufen. Für die Übernachtung und das Abendessen bezahlte ich je drei Mark, sagenhaft billig. Das Mahl schmeckt ausgezeichnet und man wird richtig satt. Mit meinem athletischen und großen Zimmerkumpel hatte ich überhaupt gar keine Verständigungsprobleme, denn er war besoffen. Wie ein Buch erzählte er. Ich hatte eine Pause von ihm genutzt, um meine »Unsprache« zu erklären. Ich konnte nur sehr langsam reden und mit vielen Denkpausen. »Das stimmt nicht«, sagte er abwertend, »Ich lasse mich nicht von irgendwelchen Menschen verscheißern.«

Nicht immer, aber öfter, wurde dort die Nacht zum Tag erklärt, ich hatte sehr interessante Themen gehört, einer kam nach dem anderen zur Tür hinein, die quatschen und quatschen fast wie die Frauen, ich musste aber früh Morgens in die Tagesklinik fahren. Nur vier Tage habe ich – Gott sei Dank – im Obdachlosenheim im äußersten Westen von Leipzig zugebracht.

Am Sonnabend fuhr ich zu einem neuen Domizil in Lützschena, etwa acht Kilometer nördlich von Leipzig, ein kleines Obdachlosenheim, ein Männerhaus.

Für fünf Monate habe ich dort gelebt, ich habe mich von meiner Familie abgeseilt, lange genug.

Zur Arbeit brauchte ich nicht mehr zu gehen, ich bin EU-Rentner. Durch die kognitive Tagesklinik und durch meinen ehemaligen Betrieb, die Betonbude, wurde mir ermöglicht, dass ich meine Belastungsprobe durchführen konnte. Bei der Überprüfung auf Arbeitsfähigkeit bin ich richtig mit Pauken und Posaunen durchgerauscht. Ob es für mich richtig oder falsch war, konnte ich nicht entscheiden. Aber meine Fahrradreisen hätte ich wahrscheinlich nicht gemacht.

Nach anderthalb Jahren war meine EU-Rente durch und meine Betonbude hat mir ermöglicht, etwas zur EU-Rente dazuzuverdienen, also hatte ich zuerst 520 DM, dann 650 DM, jetzt 400 €. Meine Aufgabe war es eine Siebanalyse zu erstellen, es war recht langweilig und erheblich laut (durch das elektrische Schüttelsieb), aber ich hatte 35 Urlaubstage, also 7 Wochen.

Kaum habe ich die Schriftsprache neu erlernt, wofür ich 13 Monate brauchte, ich hatte weiter nichts zu tun als meine Erlebnisse und Gefühle in Form eines Buches »Die Unsprache« niederzuschreiben. Es waren übrigens jahrelange (dreieinhalb Jahre) mühevoller Arbeit, am Anfang schriftlich, dann mit Hilfe eines Computers. Mein Tischtenniskumpel, ein angenehmer Zeitgenosse, hat mir ermöglicht, dass ich mit seiner Hilfe einen gebrauchten Computer kaufen konnte. Anfangs habe ich für mich geschrieben, sozusagen als Rechtschreib- und Grammatikübung, dann habe ich überlegt, dass Geschriebene kann vielleicht für Andere wertvoll sein. Also habe ich wie verrückt geschrieben, viele freundliche Menschen halfen mir.

Zwischendurch habe ich zwei Jahre pausiert. Ich musste geduldig sein und hätte niemals erwartet aber ich habe doch gehofft, ein Buch herauszugeben. Bis es endlich, dank freundlicher Hilfe, das Buch gedruckt wurde. So hatte ich im Jahre 2003 mein Erstlingswerk in der Hand.

Die zahlreichen Reisetagebuchnotizen fügte ich zu einem Hefter zusammen, wieder mal halfen mir viele freundliche Menschen In vielen Verlagen hatte ich diesen Hefter gezeigt, die Verlage haben äußerst höfliche Form gewahrt – aber dankend abgelehnt. Ich musste also eine neue inhaltliche Verarbeitung erstellen.

Eine Studentin der Medizinischen Akademie (Schule für Logopädie) hat mir eine Karte für die Leipziger Buchmesse 2011 geschenkt, dadurch ließ sich der Draht zu einem verständnisvollen Verlag herstellen.

Noch ein kurzer Schwenker. Ich möchte noch einige Fehler aus dem 1. Teil korrigieren, zum Beispiel: Meine Fußreise nach Stendal war im Jahre 1999 nicht 1997. Eine Passage fehlt: Pfingstsonntag habe ich im erstaunlich sehenswerten Kopenhagen verbracht. Am Abend waren viele Dänen besoffen – noch viel erstaunlicher, die Alkoholpreise sind gepfeffert und ich nicht einmal die »Seejungfrau« gefunden.

Außerdem ist es erstaunlich, wie viele Rechtschreib- und Grammatikfehler sich eingeschlichen haben, ich musste noch mal korrigieren.

Zur Ausrüstung und Übernachtung hatte ich kein Wort verloren, ich bin einfach losgefahren ohne große Vorbereitungen. Ich wusste nur das Ziel ist Kopenhagen. Und ich hatte Glück gehabt, ich hatte immer in einer freien Natur und auf der »löcherlichen« Matte geschlafen. Nachts hatte ich mich mit einer gewöhnlichen Decke eingehüllt. Eine Tasche mit Wechselklamotten habe ich mitgenommen. Erst nach Frankreich habe ich mir die Seitentaschen für das Fahrrad angeschafft.

Da ich den Leser nicht durcheinanderbringen möchte, erlaube ich mir den Hinweis, dass nachfolgend die Vergangenheit in kursiv dargestellt wird.


Das zweite Fahrrad

ACHT MITTEL-, NORD- UND OSTEURO-PÄISCHE HAUPTSTÄDTE


In Leipzig, in der Nähe vom Hauptbahnhof gab es einen Fahrradladen und eine Fahrradwerkstatt. An- und Verkauf gab es damals am Sonnabend. Das Gebäude war sehr hässlich und marode, aber billig und mit volkstümlichen Preisen. Ich war damals Stammkunde und mein Fahrrad war letztendlich unreparierbar.

Wie gesagt, ich kann mir ein neues Fahrrad nicht leisten, höchstens ein Gebrauchtfahrrad, das zweite Fahrrad kostete 50 Euro. Das alte Tachometer wurde mit Hilfe von einem freundlichen Werkstattmann und umsonst an das Gebrauchtfahrrad angebaut.

Es ist gar nicht so lange her, da kostete ein neues Fahrgerät 99 DM.

Der einzige Vorteil war, dass es etwas größer war, ein Achtundzwanziger Fahrrad und der Sattel war schön weich, aber die Nachteile waren eindeutig: Die Gangschaltung war kaputt und die Schrauben zum Festmachen des Sattels ausgeleiert, ich musste mit eingeknickten Beinen fahren, ein beklemmendes Gefühl, aber ich möchte das neue Hobby nicht aufgeben.

Und es war ein zweites Problem aufgetreten, mein um neun Jahre jüngerer Bruder war plötzlich gestorben. Die Nachbarn hatten ihn nach acht bis zehn Tagen gefunden, als es schon sehr gestunken hatte.

Ich war deshalb am 8. 7. 05 bei dem Begräbnis in Stendal auf dem Friedhof fast umgefallen, es fing mit dem Schlechtwerden an, und gleichzeitig verschwand die Farbe aus meinem Gesicht, man kann ohne Übertreibung vermerken, ich war »leichenblass«. Meine Frau bemerkte, dass es mir nicht gut ging und sagte laut in die Runde: »Kann jemand helfen?« Mein Schwager stützte mich und wir gingen gemeinsam zu einer Bank, ich setzte mich hin. Meine Frau gab mir Wasser, ich trank zügig die Flasche aus. Daraufhin ging es mir besser.

An jenem Sonntag, dem 10. 7. 05, um 10.00 Uhr – schob ich meine Bedenken beiseite – und machte mich auf den Weg, um mittel,- nord,- und osteuropäische Staaten und das Baltikum zu erkunden. Die Reise sollte bis zum 23. 8. 05 dauern.

Im Fernseher gab es kurz vorher eine Sendung mit den »Wetterfröschen«, die von der Legende »Siebenschläfer« berichtete. Ein »Hoch« über Osteuropa, da ist die Wahrscheinlichkeit für einen erfreulichen, einen trockenen Sommer groß.

Am Nachmittag – völlig überraschend – regnete es.

Aber nur kurz. In der Bushaltestelle hatte ich meine Mütze vergessen.

Vor Hitze hatte ich es kaum ausgehalten, ich überprüfte den Sitz meiner Kopfbedeckung und stellte fest: Mein Gott – die Mütze war weg. Also zurück. In der Omnibus-Haltestelle lag tatsächlich meine Kappe.

Über Lutherstadt Wittenberg fuhr ich bis Treuenbrietzen. Es war halb Sieben, ich hatte genug gestrampelt.

Übrigens war ich doch nach dem Studium in Magdeburg beziehungsweise in Bitterfeld (Praktikum) mit dem Fahrrad unterwegs und zwar war ich von Bitterfeld über Wittenberg, den Spreewald, Eberswalde, die Ostsee (Usedom und Rügen) und zurückgefahren.

(Vorläufig hatte ich dort den letzten Gottesdienst besucht, der Pastor hat so geschrien, vielleicht wie in Lutherzeiten.)

Ich hatte zwischen Greifswald nach Stralsund mit dem scharfen Gegenwind zu kämpfen – ich hatte es mir einfach im Straßengraben gemütlich gemacht und war richtig eingeschlafen.

Als ich von dem Hupen vieler Autos erwachte, sah ich eine sehr lange Autoschlange. Der erste der Schlange wollte mir helfen. Alle mussten auf mich warten.

Meine Frau war damals zufällig in dem Stau dabei, sie musste sozusagen auch auf mich warten. So hatte ich meine Frau das erste Mal gesehen und unabsichtlich kennen gelernt.

Wie gesagt, ich war sehr wenig motiviert, ich war keineswegs auf dem Damm, ich hatte kleine Attacken mit dem Übelwerden zu überstehen und die Sache mit meinem Bruder ließ mich vorläufig nicht mehr los. Zu allem Überfluss meine Drahtbeine, meine geknickten Beine waren richtig schlapp.

Frühmorgens um sechs war ich nach einem durchaus erquickenden Schlaf putzmunter.

Die Umgebung von Berlin ist ausnehmend schön, eine Augenweide, viele Seen und Wälder.

In Ferch, einem kleinen Urlaubsort war ich angekommen.

Erinnerungen an meinen einwöchigen Tischtennisangelurlaub wurden wach. Es ist lange her, es waren die frühen achtziger Jahre. Ich bin gerade in Leipzig fast heimisch geworden (aber den unmöglichen Dialekt habe ich mir niemals angewöhnt).

Damals war ich noch unbeweibt und ich war – ich muss es leider zugeben, ein ziemlicher »Suffkopp.«

In Ferch hatte mein Tischtenniskumpel eine Wette abgeschlossen, dass ich nicht über 40 Jahre zu leben hätte wegen dem Alkoholmissbrauch.

Mit einer mittelgroßen Flasche mit süßem Feuerwasser im Kopf (auf einmal bekam ich ein sehr gutes Gefühl, von der Umdrehung des Sprits, krabbelte es in meinem Gehirn und es wurde mir ungemein leicht gemacht), ich habe mich allerdings sehr daneben benommen. Mein Tischtenniskumpel sagte: »Kein Elefant schafft es die Flasche leer zu saufen, aber du schon.«

Mein Bruder und ich haben sehr ähnliche Eigenschaften, vor allem die Neigung, die Betäubungsmittel zu verbrauchen.

Mein Vater war im 2. Weltkrieg in Russland als 17-jähriger schwer verwundet worden. Ein Granatsplitter hat sein Schulterblatt zertrümmert. Sein rechter Arm wurde dadurch unbrauchbar gemacht.

Gott sei es geklagt, leider, mein Vater war ein »Suffkopp« geworden, ein waschechter Trinker.

Ich hatte dann geradeso noch die Kurve hinbekommen, denn meine Frau und ich hatten Hochzeit gefeiert, immerhin war ich schon 35 Jahre alt, ein »uralter Mann« mit der Aktentasche in der Hand. Meine Frau hat es doch hinbekommen, dass ich nicht nur 40 Jahre zu leben hätte wegen dem Alkoholmissbrauch, meine süße Frau hat mich sozusagen gerettet.

 

Durch Potsdam bin ich gefahren, nicht nur viele Seen habe ich gesehen, sondern auch zwölf prachtvolle Schlösser. An die Zeiten »Friedrichs des Großen« erinnern das Schloss »Sanssouci« und das »Neue Palais.« Aus Versehen bin ich dann zu einer Besichtigung von Berlin gekommen. Ich dachte nämlich, wenn ich durch die Oranienburger Allee fahre, dann komme ich irgendwie in Oranienburg an.

Es nahm aber immer mehr ein großstädtisches Aussehen an, ich war fast in der City.

Einen Passanten habe ich angehauen: »Wie kommt man am besten nach Oranienburg?«

»Du kannst am besten die S-Bahn benutzen«, erwiderte ein schnoddriger Berliner.

Es wäre eine Überlegung wert – aber nein, schon aus Kostengründen fällt das weg.

Also gelangte ich mit Umwegen über Spandau nach Hennigsdorf, wo ich damals in der Nähe stationiert war.

Es war im Jahre 1972 bei der »Fahne« bei Hennigsdorf.

Sieben Soldaten hatten versucht, die »berühmte Mauer« zu überwinden um mit einem Panzer gewaltsam von Osten (eigentlich von Westen) in den Westen (eigentlich in den Osten) einzudringen. Die mit gutem Beton gebaute Mauer stand eisern fest – die Kämpfer, die Soldaten waren mausetot.

Dann fuhr ich in Richtung Oranienburg.

In der Nähe war mein Truppenübungsgelände Vorwitz, südlich von Oranienburg.

Meine unschöne Erinnerung an die »Fahne- oder Muckerzeit« wurde aufgefrischt.

Vorher bin ich in Groß-Behnitz, liegt versteckt im Wald, zwischen Rathenow und Berlin eingezogen worden, eine in sehr geheime Raketeneinheit.

Das war richtig anstrengend. Schon am ersten Tag ging es los, ich habe keine Turnschuhe bekommen. Frühmorgens musste ich für drei Tage beim Frühsport die dicken Arbeitsschuhe anziehen, infolge dessen habe ich einen mächtigen Muskelkater gekriegt. Die Grundausbildung war sehr hart, aber die Kost war außergewöhnlich, wie ein Sonntagsessen.

Es war ein Sonnabend, nach dem Mittagessen habe ich vielleicht nur fünf Minuten auf meinem Bett gelegen. Ich glaube wegen der Härte der Ausbildung bin ich einfach eingeschlafen. Natürlich bin ich erwischt geworden, zur Strafe musste ich fast täglich einen Küchendienst absolvieren, immer Kartoffeln schälen.

Dann wurde ich nach ungefähr sechs Wochen nach Oranienburg versetzt.

Wir vier Soldaten kamen von unterschiedlichen Garnisonen (Militärstandorten) an. Den riesengroßen Exerzierplatz mussten wir mit einem großen Seesack überwinden, ich durfte eigentlich zwei tragen, denn ein Soldat war sehr behindert.

Dieser Staat war ein Unrechtsstaat, schon wegen der Behinderten. Also war ich ein Mucker (Sandlatscher). In Oranienburg wurden nicht nur die Infanterie (man erkennt es an den Schulterklappen – weiß), sondern auch Rotärsche oder Artillerie (rot) und Panzergrenadieren (schwarz) ausgebildet.

Damals war ich mit schrägen Typen zu Gange, wie »Nappel«, ein Unterfeldwebel (ein Zeitschwein – er muss mindestens 25 Jahre »dienen«), der gerne laut und aus Spaß »Gas« rief, die Folge war, ich musste oft den Schnuppersack (Gasmaske) anlegen.

Oder der Hauptmann »Schweinebacke«, der sagte: »Ich werde euch die Eier schleifen bis das Gelbe kommt«.

Ein gemeiner Soldat war ein Bischofssohn, der bestimmt nicht heilig war. Weiterhin war da ein Thüringer, ein Soldat, der sich selbst mit brennenden Streichhölzern am Oberarm ein Kreuz eingebrannt hat. Dazu noch zwei Nachzudienende: Ein Fahnenflüchtling und ein Krimineller.

Weithin ein Major, Bataillons-Kommandeur, der sagte beim Bataillonsappell: »Ich mache euch Licht an das Fahrrad, und ich werde selbst der Dynamo sein«.

Es gab den Unteroffizier »Festus«, der immer rief »Durchlaufen Sie sich, beeilen Sie sich«; und mehrere normale Menschen gab es auch.

Die Soldaten und die Offiziere waren überhaupt aus ganz verschiedenen Gegenden der DDR und sehr unterschiedlichen Intelligenzgraden. Es wurde manchmal doch interessant.

Aber die Tage sind sehr schleppend vorbei gegangen und meine Verblödung merkte man sehr flink.

Über Wandlitz (da gab es ein Sommerhäuschen von Honny – Erich Honecker glaubte ich, aber es war nix zu sehen) kam ich dann in die Nähe von Eberswalde, der zweite Tag war vergangen, glaubte ich.

Es war keineswegs der zweite Tag vergangen, lediglich war das emsige Radeln vorbei. Ich musste eine unangenehme Pflicht übernehmen, nämlich den Kampf gegen die kleinen Quälgeister, gegen die aggressiven Mücken, sie hatten diesen aber gewonnen.

Viele Schlafgestörte glauben in der Nacht kein Auge zuzutun. Die vermeintliche schlaflose Nacht bestünde aus einem oder mehrmaligen Aufwachen.

Es ist interessant, dass demgegenüber das fast völlige Fehlen von Schlafstörungen bei Naturvölkern zu beobachten ist.

Aber vielleicht ist es so, dass in der Lexikonweisheit nur von Bienen oder Ameisenvölkern die Rede ist.

Aber die Mücken hatten schon dafür gesorgt, dass meine Schlaflosigkeit wirklich real war.

Dann flog ein Hubschrauber mitten in der Nacht über dem Wald Kreise, richtig unzeitlich. Gegenüber den kleinen »Flugmaschinen«, die massenhaft Blut gekostet hatten, war die große Flugmaschine eindeutig besser, nur zu laut.

In Angermünde kaufte ich Mückenspray.

Am Nachmittag hatte ich ein Mittagsschläfchen gehalten, das Spray wirkte gut, aber es war sehr heiß.

Als ich aufgewacht war, verfärbte sich meine Isomatte auf Grund dieser Hitze blau, mein Gesicht war mit blauen Streifen verziert.

Eine halbe Stunde später in Schwedt (welche zu den flächengrößten Kommunen in Deutschland zählt) polterte plötzlich mein Fresskörbchen herunter – mitten auf dem Fahrradweg.

Zu DDR-Zeiten wuchs die Stadt, dank der Anbindung von über 3.000 Kilometern Erdölleitung aus dem Uralgebiet an das Erdölverarbeitungswerk (heute PCK Raffinerie – Petrolchemisches Kombinat).

Innerhalb der DDR war Schwedt Synonym mit Ölindustrie, aber auch mit Militärjustiz. Das einzige Militärgefängnis der DDR für Wehrdienstverweigerung, Fahnenflüchtlinge, aber auch Kriminelle. Sehr scharfe Haftbedingungen, sehr harte Strafen herrschten hier, selbst bei Bagatellvergehen.

Da lag es, das verbeulte Körbchen samt dem Inhalt verstreut. Wegen der starken Wärme war das Ding aus Plaste einfach abgeschmolzen und auf Grund der Schwere des Inhaltes abgebrochen.

Eine mittelalterliche Frau hat mir geholfen das Zeug einzusammeln, sie brachte extra aus ihrer Wohnung einen leider nicht sehr stabilen Draht mit versuchte zu helfen. Sie wies mir dann den Weg zur Fahrradwerkstatt.

Als ich in dem Fahrradladen angekommen war, hatte der Chef keinen neuen Korb angeboten, der Typ hatte gesagt, es lohnt sich nicht, er würde sowieso schon wegen der Schwere noch einmal abbrechen.

Ich war doch deprimiert, aber eine Autowerkstatt hat mir ein Stück stabilen Draht überlassen.

Dann kam ich in die Schwedter Touristeninformation, um mich nach einer Duschmöglichkeit oder einem Schwimmbad zu erkundigen. Die junge und große Frau hat mir den Stadtplan gezeigt, aber ich möchte die Straßenkarte nicht kaufen.

»Komisch«, sagte ich: »in ausländischen Touristeninformationen gibt es immer umsonst einen Stadtplan.«

Na gut, die Wegschreibung habe ich natürlich vergessen, habe aber einen Passanten angesprochen.

Am Kartenhäuschen des Waldbades hatte mir eine ältere Dame die Eintrittskarte ausgehändigt.

Als ich in den Spiegel äugte, bemerkte ich zu mir selber: »Ach du Scheiße, die Isomatte – blitzeblau gestreift bin ich.«

Die Leute hatten mich angesehen, aber nichts gesagt, beispielsweise die Passantin, die mir das Zeug einzusammeln geholfen hatte oder die Angestellte der Touristeninformation oder der Fahrradfritze oder der Automonteur und die Waldbadkassenkartenhäuschenangestellte.

»Was ist das?«, sagte ich. Die schöne Dusche war defekt, ich war fast verzweifelt, halbnackt stürzte ich wieder raus. Die Waldbadkassenkartenhäuschenangestellte sagte: »Ja, hätten Sie nur gesagt, dass Sie duschen wollten.« Und sie rückte die Duschmarke heraus.

Am Abend wurde die polnische Grenze erreicht (16. Land).

Ein netter und freundlicher Grenzer hat mir zu verstehen gegeben, dass ich nur 5 Tage hier seien dürfe.

(Es betraf nämlich die Gültigkeit des Passes, aber ich habe nichts verstanden, mein Geburtstag wäre kaum von Interesse gewesen).

In der Nähe von Stettin gab es einen wilden Wald, fast einen Urwald, das Unterholz war üppig. Es gab einen streunenden Hund (vielleicht war es sogar ein Wolf?) und eine Unmenge von Mücken.

Schnell das Spray aufgetragen – die Mücken trauten sich erst mal nicht zu stechen. Zwei Stunden später war die Wirkung verflogen.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?