Mit dem Fahrrad und Aphasie durch Europa. Band 1

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Mit dem Fahrrad und Aphasie durch Europa. Band 1
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Helmut Friedrich Glogau

Mit dem Fahrrad und Aphasie durch Europa

Band 1

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Zweite überarbeitete Auflage

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

www.engelsdorfer-verlag.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Vorgeplänkel

Ein ganz normaler Landstraßenritter

Kirchentage: Berlin

Rom, die ewige Stadt

Dublin

Zwischendurch nach Hannover – Kirchentage

Danksagung

Fußnoten

VORWORT

Am vorletzten Urlaubstag – es war am 4. 1. 1996 – frühmorgens hatte ich mir eine Krankheit zugezogen, eine unklare Krankheit.

Aber ich habe Glück gehabt, denn ich lebe doch noch, und zwar mit dem zweiten Leben – ich war damals 43 Jahre alt.

Ich konnte nur nicht reden:

Kaum jemand kann sich vorstellen – ich glaube niemand, über etwas so Selbstverständliches wie die eigene Sprache nicht mehr verfügen zu können. Es ist frappierend – unfassbar.

Die Gedanken waren alle da, nur wie gesagt – ich konnte nicht reden, nicht einmal »Scheiße« sagen.

Dann habe ich der Hausärztin mein Leid geklagt – ohne Sprache. Sie sagte: »Mal sehen.« Ich musste irgendwas aufschreiben, meine Güte, ich konnte nicht einmal ein winziges Wörtchen aufs Papier bringen, es ist für mich noch viel schlimmer, ohne Schrift und ohne Lesen – wie ein Tier.

Man hat mir einfach so das Sprachzentrum im Grips lahmlegen lassen. Die bestimmten Nervenzellen sind verantwortlich für die Sprache – man nennt es einen Schlaganfall.

Gut einen Monat war ich drin in einem Krankenhaus »St. Georg«, wegen der Sprachlosigkeit; vielleicht drei, vier Tage war ich richtig stumm – dann konnte ich ein wenig reden –, allerdings konnte ich die Vokabel »Scheiße« ausgezeichnet sagen.

Und Lesen konnte ich auch, nach vielleicht 8 oder 10 Tagen – extrem langsam und viele Fehler eingerechnet. Ich fühlte mich wie ein halber, ein viertel Mensch – mit meiner Unsprache.

Manche Leute sagten: »Es ist nur die Sprache, mein Gott, es ist halb so wild!«

»Ich könnte ausrasten!«

Es ist schließlich keine Erkältungskrankheit, aber langsam und stetig habe ich den Schock überwunden und habe sogar drei neue Hobbys gefunden – das Schwimmen, das Schreiben und das Fahrradfahren.

Das Schwimmen ist eigentlich gut, dank meines Kuraufenthalts in Bad Düben habe ich das Schwimmen richtig lieb gewonnen. Fast täglich war ich im »Bagger« – ein kleiner See in Leipzig – mit dem Fahrrad zum Schwimmen gewesen – natürlich nur im Sommer. Später war ich beim Verein des Behindertenschwimmens angemeldet, es wurde nicht nur im Sommer, sondern im ganzen Jahr geschwommen. Man nannte mich manchmal Schnellschwimmer oder sogar weißer Hai, wegen des grauen Haarschopfes und meines Schnauzbartes.

Dann – ein gutes Jahr nach dem Ereignis Schlaganfall – habe ich mich mit meiner »Schriftstellerei« gequält; stundenlang, fast täglich – und manchmal nachts.

Das Schreiben tat gut, obwohl das Schreiben sehr anstrengend war, ich habe die »Unsprache« verfasst.

Im Jahre 2002 habe ich das dritte Hobby angefangen, das Fahrradfahren.

Als Gesunder hätte ich nicht das Herumkutschieren mit dem Rad ausgewählt, aus Kostengründen.

Obwohl, ich habe eine grüne Seele mit einer basisdemokratischen Grundorientierung, Ökologie (Umweltschutz), weitgehende Entmilitarisierung, gegen Diskriminierung von Minderheiten und für multikulturelle Gesellschaft. Ich bin gegen Deutschtum und gegen das Nationale. Das war ich schon vor dem Schlaganfall, und erst recht nach der Attacke.

So grün war ich auch nicht, ich habe mir durchaus erlaubt, dass ich mit dem Auto in den Urlaub fahre – dann ging es leider oder vielleicht Gott sei Dank – nicht mehr.

Selbstverständlich musste ich die knappe Kasse berücksichtigen – Behinderte haben immer mehr oder weniger Geldnöte. Also »muss« ich mit dem Fahrrad in den Urlaub fahren, natürlich allein, meine Frau hat es abgelehnt, im Wald zu schlafen und meine Söhne waren zu jung.

Das dritte Hobby war sozusagen erzwungen. Aber ich wollte trotzdem die Welt anschauen: Reisen mit Aphasie, Erholung und Therapie – Traum oder Wirklichkeit?

Für mich ist es Wirklichkeit, allerdings träumte ich von Ägypten und dem Morgenland, vielleicht wird es Wirklichkeit, wer weiß?

Jedenfalls habe ich zwischen 2002 und 2011 mit dem Fahrrad 36 Staaten (32 Hauptstädte) kennengelernt (beinahe 37 Staaten und 33 Hauptstädte).

Mit meinem gewöhnlichen, spottbilligen Fahrrad, aus dem »Praktiker« für 99 DM.

Da ich den geneigten Leser nicht durcheinanderbringen möchte, erlaube ich mir den Hinweis, dass nachfolgend die Vergangenheit in kursiv dargestellt wird.

Einen chronologischen Ablauf möchte ich geben:


2002 Dänemark, Frankreich …. 21 Tage (ca. 2500 km)
2003 Berlin (Posaunenchor), Rom … … … … … … … 43 Tage (ca. 4100 km)
2004 London, Dublin … … …. 46 Tage (ca. 4700 km)
2005 Hannover (Posaunenchor), Mittelnordosteuropäische Staaten … … … … ….. 41 Tage (ca. 4200 km)
2006 Schwarzes Meer … … … … …. 43 Tage (ca. 5200 km)
2007 Köln (Posaunenchor), Paris, Schweiz, Marseille.. 47 Tage (ca. 5400 km)
2008 Barcelona … … … … … 55 Tage (ca. 6100 km)
2009 Bremen (Posaunenchor), Oslo … … … … … … … 32 Tage (ca. 3200 km)
2010 München (Posaunenchor), Athen … … … … … …. 44 Tage (ca. 4700 km)
2011 Lissabon Dresden (Posaunenchor) … …4 Tage (ca. 270 km)


Dänemark/​Schweden/​Deutschland

VORGEPLÄNKEL

Dann ging es los: am 14.5. bis 20. 5. 02 – nur sieben Tage, ich musste es erst einmal ausprobieren.

Es war lange her, in meiner Jugendzeit in Stendal hatte ich mich immer sonntags und sommers auf das Fahrrad geschwungen: Ich fuhr oftmals teils mit dem Brüdern (auf dem Kindersattel), unter anderem in ein wunderschönes Städtchen voller Sehenswürdigkeiten, nach Tangermünde.

Später fuhr ich kreuz und quer – ohne die Brüder – frühmorgens bis spät abends – durch die Altmark und die angrenzenden Gebiete beispielsweise nach Magdeburg oder Brandenburg.

Übrigens hatte ich nach der Schule in der 9. und 10. Klasse einen Minijob im Seifen- und Kunstgewerbegeschäft gehabt, und zwar mit dem Fahrrad die Kunden zu beliefern.

Leider hat es nur zwei oder drei Jahre mit der Fahrradkutscherei gedauert, denn ich hatte einfach keinen Bock mehr.

Zusätzlich war ich in meiner Lehre in Premnitz (zwischen Rathenow und Brandenburg) – ich habe einen neuen Abschnitt meines Lebens, eine Weggabelung gemacht, es war wahrscheinlich nicht so gut, in die stinkige Chemie einzutauchen.

Wie gesagt, ich musste mich langsam an das Fahrrad gewöhnen; die 27-jährige Pause musste ich überbrücken, ich war dem Fahrradfahren fast entwöhnt.

Damals wollte ich von Leipzig gerne auf den Nebenstraßen fahren, es ist aber fast immer zeitaufwendig, man fährt länger, und vor allem die mühsame Sucherei nach dem Weg war anstrengend.

 

Über die Dörfer fuhr ich nach Bitterfeld. Unterwegs war ich in der Nähe von Zschortau gewesen.

Damals – im Jahre 1997 bei meiner Fußreise nach Stendal – war ich im Wald in der Nähe von Zschortau.

Plötzlich waren da eine Menge Polizisten, die Herren in Grün mit Kugelsicherungswesten, mit Maschinengewehren und mit großen Hunden, wie Blitze waren die da. Von zwei Kriminalpolizisten (in Zivil) wurde ich verhaftet.

Es stellte sich heraus, dass man mich für einen gefährlichen Kriminellen, Herrn Zurwehme, hielt.

Ich fuhr auf dem nicht fertigen Weg längs des brandneuen, sehr großen Sees in der Nähe von Bitterfeld.

Übrigens habe ich in Bitterfeld meine dreijährige Absolventenzeit verbracht, nach meinem Studium in Magdeburg.

Im CKB (Chemiekombinat Bitterfeld), dem wahrscheinlich größten Chemiemuseum in der Welt, und unter nicht gerade gesunden, richtig unmöglichen Arbeitsbedingungen habe ich gekleecht, gearbeitet.

Gegen die schrecklichen Rußpartikel in den Augen musste man etwas tun, beispielsweise die Augen schließen, aber man kann gar nicht immer die Augen zu machen, blubs, die vielen Stückchen Kohle flogen in der Luft, und garantiert in die Augen.

Ich musste für ein halbes Jahr, wie auch die vielen Absolventen, im Schichtbetrieb und in einem dunklen, hässlichen und maroden Salzbetrieb praktisch arbeiten, es gab einen beträchtlichen Facharbeitermangel.

Ein junger Arbeiter in der Nachtschicht füllte einen großen Kessel, es dauerte eine halbe Stunde. Der Lohnarbeiter bückte sich in den Bottich, seine Hände führte er innerhalb des Bottichs hinein, er konnte schlafen, bis die heiße Brühe die Hände berührte, also für eine halbe Stunde.

Zwischen Bitterfeld und Wolfen gab es eine Gemeinde Greppin, mittendrin im Gelände des Chemiekombinates, die armen Leute taten mir leid.

Längs der Mulde und der Elbe war ich über Dessau und Magdeburg gefahren.

In meiner Bezirkshauptstadt Magdeburg habe ich beim dreijährigen Studium die schönsten Jahre erlebt.

Dann radelte ich über Jerichow nach Tangermünde, allerdings habe ich nur die Stadt aus der Ferne gesehen, denn der Weg führte entlang der anderen Seite des Elbstromes.

Kurze Zeit später war ich bei Arneburg, allerdings gegenüber dem großen Fluss.

Kein Tag länger als nötig war ich in Bitterfeld, und ich musste eine neue Arbeit finden, in der Baustelle des KKW (Kernkraftwerk) wurde ich fündig für vier Monate, eben bei Arneburg.

Elbaufwärts findet sich der Ort Havelberg, eine relativ hübsche Stadt.

Ich muss die Zeiten rückwärts drehen, in der DDR war es nicht so übel, relativ, aber die Bausubstanz war richtig schlecht. Die Spuren von 40 Jahren kann man nicht vergessen, und für die blühenden Landschaften muss man sich ein bisschen gedulden.

Dann fuhr ich nach Wittenberge und manchmal auf schlechten Wegen.

Vor Lauenburg verließ ich den Elbstrom, es ging auf einmal in die Höhe, ich hatte niemals gedacht, dass ich in so eine hohe Landschaft geraten war.

Ich fuhr nach Lübeck. In dem von Wasser umgebenen Altstadtoval sind zahlreiche bedeutende Baudenkmäler der norddeutschen Backsteingotik erhalten bzw. wiederaufgebaut.

Von Travemünde stach ich in See, mit einer große Fähre nach Trelleborg in Schweden (2. Land), und dann brach ich mit dem Rad nach Malmö auf.

Über die berühmte Brücke möchte ich von Malmö nach Kopenhagen (1. Hauptstadt – 3. Land) radeln – aber auf der Brücke war absolutes Fahrradverbot, und ich habe nicht einmal die Brücke gesehen, denn es war Nacht.

Am frühen Pfingstmontag hatte ich mir zum ersten Mal eine Panne in einem Dorf eingefangen, und ich hatte die Fahrradwerkzeuge vergessen.

Nicht lange und ein großer Däne mit einem voluminösen Hund kam (er hat mich auf Deutsch angeredet), er sagte, er habe keine Probleme mit der Fahrradreparatur, und er hat mich zum Frühstück eingeladen.

Über Seeland – Falster – Lolland bin ich gefahren, und ich habe immer wieder kleine Fähren benutzt.

Als ich mit einer größeren Fähre in Deutschland auf Fehmarn angekommen bin, bin ich zum Festland endlich auf einer Brücke über die Ostsee gefahren – na ja, viele Autos gab es, vielleicht zu viele, ich kam mir vor, als ob ich jeden Moment überfahren würde.

Dann bin ich fast allein auf der Landstraße geradelt, ich wusste nicht, wo ich war, aber es war kein Problem, irgendwie kam ich doch ans Ziel.

In Lübeck war ich am Ende der Fahrradtour. Nach Leipzig bin ich mit einem Zug gerollt.

Als ich nach Hause gekommen war, bin ich – laut meiner Frau – zu früh angerückt. »Aha, es wird das nächste Mal etwas länger dauern.«


Deutschland/​Benelux-Staaten/​Frankreich

EIN GANZ NORMALER LANDSTRASSENRITTER

Anno 2002 haben wir eine einwöchige Urlaubsreise nach Neugersdorf (Zittauer Gebirge) gemacht mit einem Zug.

Ein bisschen Training schadet nicht, also habe ich von Dresden aus das Fahrrad geschnappt und bin meinem Urlaubsziel entgegengefahren.

Zwischendurch bin ich in Tschechien wegen des gewissen Trainings herumgefahren.

Meine Familie beendete in Leipzig die Urlaubsreise mit dem Zug, und ich hatte sozusagen begonnen, ich bin weiter gefahren bis nach Mönchengladbach, also begann dort meine Fahrradtour im selben Jahr – vom 13.7. bis 27. 7. 02.

Knapp zwei Monate war der Kopenhagentrip vorbei, und ich möchte sehnlichst durch Frankreich reisen, ich hatte nämlich ein wunderbares Gefühl – es passierte mir schon nichts, die Fahrradreparatur war in Dänemark spitze, und vor allem das Wetter spielte mit, damals.

Schon bei der Zugfahrt hat es sich gezeigt, dass mit dem Wetter nicht zu spaßen sei.

Beim Umsteigen in Halle/​Saale traf ich zufällig eine Urlaubsbekannte aus Neugersdorf.

Lächelnd erzählte sie mir, dass sie erst gestern in Neugersdorf angekommen war und eigentlich in der Oberlausitz Fahrradurlaub machen wollte, weil es so schön wäre.

Die Abenteuerlust trieb sie, und sie hatte sich Wunder was vorgenommen. Allein durch das schlechte Wetter bedingt, hatte sie es vorgezogen, sich gen heimatliche Gefilde nach Hamburg zu bewegen.

Sie verstummte, den Blick auf das Gegenüber erwartungsvoll gerichtet.

Jetzt war ich am dransten. Ich suchte krampfhaft nach geeigneten Worten, umsonst, mit unverständlichen Gesten, dem Grunzen einer Wildsau nicht unähnlich, kurzum, ich konnte mit meiner eigenen Sprache keinen vernünftigen Satz hervorbringen. Ich habe mich total blamiert.

Sie versuchte, ein Lächeln zustande zu bringen, aber es schlug fehl.

»Ach du meine Fresse, das gibt es nicht, … seltsame Leute.«

Man merkt richtig das Absterben des Lächelns in ihr.

Beim Umsteigen in Hannover tat die Dame etwas Überraschendes, sie verabschiedete sich von mir, und sie hatte mir ein freundlichen Lächeln geschenkt.

Als ich am Abend in Mönchengladbach angekommen bin, hatte ich keineswegs an das schlechte Wetter gedacht, ich war relativ gut vorangekommen, schon war ich in Roermond, in Holland (4. Land), in Belgien (5. Land), durch Maastricht und dann in das Städtchen Tongeren.

In Dänemark hat das Schlafbedürfnis eher keine große Rolle gespielt, bei der jetzigen Reise schon.

Bei der Suche nach einer Schlafmöglichkeit wanderte ich querbeet an einigen Dornenhecken vorbei, die beiden Schläuche von dem Fahrrad überlebten es nicht.

Es war Dämmerung, ich war in ein Dorf in der Nähe von Tongeren zurückgekehrt. Ich habe einfach in das niedrige Haus durch das Fenster – ohne Gardinen – geschaut. Da war ein gut aussehender Belgier, er lag auf der Couch und dachte über Gott und die Welt nach. Plötzlich merkte er, dass draußen jemand herumtrampelte, er stand auf und ging langsam ans Fenster.

Man konnte annehmen, dass eine Szene aus einem Stummfilm nachgestellt würde, ich war mit scheuem und verschämtem Blick dabei, um Hilfe zu bitten. Der andere konnte nur Französisch.

Oh Gott, das Gedächtnis.

Vor der Fahrt hatte ich mir vorgenommen, dass ich keinesfalls die Gerätschaften vergesse. Und wo waren die Werkzeuge?

Es dauerte eine Weile, bis er es geschnallt hat, die Werkzeuge und die Flicken hat er gereicht, nachdem er mich in den geräumigen Hof hineingebeten hatte. Auch eine gut strahlende Lampe mit hoher Wattzahl war da.

Ich habe den Flicken aufgebracht und – pssst – das Loch ist nicht zu bzw. schon zu, aber es waren zu viele Löcher.

Der Belgier wollte sich doch jetzt arrangieren, es selbst einfädeln, er hat mich nur milde belächelt, er hat den Schlauch in die Regentonne getaucht und fünf oder sechs Löcher gezählt. Dann nahm er ohne Bedenken und kurz entschlossen sein Fahrrad daher, die beiden Schläuche wurde eigenhändig ausgebaut und mir übergeben.

Wahnsinn, viele Menschen sind eigentlich hilfsbereit. – Schon in der Bibel stand geschrieben: »Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet, so wird euch aufgetan.« –

Aber ich traute mich nicht, um eine Übernachtungsstelle zu bitten, also habe ich die nächtliche Stille »genossen.« Irgendwann habe ich in der freien Natur geschlafen, aber zu kurz. Ich bin sehr unausgeschlafen aufgewacht.

Dann gab es ein Schweinewetter, die Fahrradtaschen sind total aufgeweicht, endlich kam eine geräumige Bushaltestelle im flämischen Städtchen Huy, ich wollte so gerne schlafen, aber nass und schlafen passt nicht.

Ich habe sowieso gegenüber der Kopenhagenreise gemischte Gefühlen, zum Ersten der permanente Mangel an Schlaf, zum Zweiten es regnete wie verrückt und schließlich zum Dritten habe ich mich dauernd verfahren, ich wollte möglichst auf der ebenen Landstraße fahren, statt über die Ardennen zu kutschieren, hoch und runter.

Inzwischen fällt weniger aus dem Himmel, fast nichts, das bisschen Regen macht nichts, ich bin schließlich nicht aus Zuckerwatte.

Während der Zwangspause von vier Stunden fuhr ich nach Frankreich (6. Land). Die französische Grenze wurde überschritten, durch Givet an der Maas (Meuse).

Wahrscheinlich habe ich eine »Abkürzung« genommen, plötzlich fuhr ich auf einer immer kleineren Straße, dann ein Feldweg und dann nichts mehr, ich musste umkehren.

Ach du Scheiße – Platten im Hinter- und Vorderrad.

Es blieb mir weiter nichts übrig, als zu schieben.

Als ich irgendwie zur Landstraße gekommen war, ich fuhr tatsächlich mit einem Lieferauto per Anhalter samt meiner Karre zurück nach Givet, einer kleinen Stadt, direkt vor ein Fahrradgeschäft.

Glück gehabt.

Es war ungefähr 16 Uhr.

Fast Glück gehabt, so was wie Öffnungszeiten gab es nicht, leider.

Jedenfalls kam zufällig ein junger Bengel, ein schätzungsweise 17-Jähriger, aus dem Haus und ich habe versucht, mit ihm ins Gespräch zu kommen.

Pantomime:

»Der Ladenbesitzer schläft schon.«

»16 Uhr?«

»Na und! Morgen 9 Uhr.«

Derweil hatte ich es mir gemütlich gemacht, unmittelbar vor dem Laden war ein großer Platz, die Sonne schien auf einmal wie verrückt, eine Bank wurde von mir in Beschlag genommen, und die feuchten Klamotten wurden von der Sonne einigermaßen getrocknet.

Zur Schlafenszeit hätte ich auf Publikum gerne verzichtet, aber die Leute sind nun mal – zwar nur wenige – aber doch da. Auf der ein bisschen engen Bank gönnte ich mir tatsächlich eine Mütze Schlaf.

Am nächsten Tag pünktlich um 9 Uhr öffnete das Fahrradgeschäft. Die beiden Schläuche, mit französischen Ventilen, ein Schraubenschlüssel, ein Pack Flickenersatz und so weiter waren käuflich zu erwerben.

Mit den französischen Ventilen kam ich nicht klar – die Luftpumpe war eigentlich sinnlos.

Als ich mehrmals in dem Laden aufgetaucht war, hatte der Ladenbesitzer die Schnauze voll, er hat mich nur milde belächelt, und mich in die Fahrradwerkstatt im Keller eingeladen.

Ein Mitarbeiter hatte ratzbatz meinen Drahtesel zusammengebaut, ohne Bezahlung, sein Chef verlangte nichts, das ist Service.

 

So viel weiter kam ich nicht, mitten in der Landschaft in der Nähe von Revin war ein zweistöckiges Abbruchhaus zu sehen, das niemals ein Dornröschenschloss werden konnte, aber es trotzdem war, schon wegen des Gestrüpps. Keinerlei Wege sind auszumachen, lieber 30 Meter zur Ruine mit dem Rad tragenderweise zurückzulegen, sicher ist sicher – wer sein Fahrzeug liebt, der trägt.

Nachdem ich die Restfeuchte aus den Anziehsachen – breit gelegt – herausdünsten lassen hatte, konnte ich endlich schlafen!

Ich hatte drei vielleicht vier Stunden geschlafen, dann kam vor der Abenddämmerung ein Vogel daher, der hat ein unbeschreibliches Gezeter angestellt, ein schrill klingender Urvogel, man konnte unmöglich auch noch an Schlaf denken.

So drängte sich die Schlussfolgerung auf, dass von der Vorsehung absichtlich mir der mit dem grauenvollen Gekreische begabte Vogel hergeschickt wurde, um ja nicht schlafen zu können, es war verächtlich und gemein.

Der sagenhafte Vogel hat recht gut die fensterlose Ruine bewacht, man kann ihn nicht sehen, man kann ihn sehr gut hören. Ich hatte mehrere Steine abgefeuert, vergebens, je mehr Steinwürfe gegen den Vogel geschmissen wurden, desto näher schien der Krachmacher zu sein.

Der Spuk wurde beendet mit dem allmorgigen Gezwitscher der normalen Vögel, denn das Rabenbiest hat sich mit der einbrechenden Morgendämmerung verabschiedet.

Es reicht normalerweise aus, um kein Auge zu zu tun, zumal mit der zunehmende Helligkeit das tausendfache, stimmgewaltige Geschwirr von Vögeln einsetzte, aber ich schlief und schlief mindestens bis um 9 Uhr.

Über Vireux, Molhain und Revin kam ich nach Reims.

Eine gewaltige, alles überragende, majestätische Kathedrale (13. Jahrhundert; Krönungsstätte der französischen Könige) gab es.

Am Donnerstag fuhr ich frühmorgens durch eine kleine, aber ungeheuer lange Stadt, Dormans.

Inzwischen hat sich das Wetter sehr verbessert, zum Hochsommer hin.

Ich wollte gerne gemütlich frühstücken – ich fuhr und fuhr – nach einer Bank hatte ich vergebens gespäht. Die Wünsche sind manchmal oder häufig wie verhext, die Bänke in Frankreich sind anscheinend ausgestorben.

Na gut – auf einem nicht gerade bequemen Stein hatte ich mich zum Frühstück niedergelassen. Dieser Stein war unmittelbar vor einem Grundstück mit einer prachtvollen Villa gelegen. Der gusseiserne Zaun wurde unterbrochen mit einem Backsteinpfeiler, der diente mir als Rückenlehne.

Als ich beim Frühstücksmahl war, fuhr eine junge, bisschen dickliche, sehr gut geschminkte, französische Dame vor, die offenbar die Herrin des Prachtanwesens war.

Mit einem »Bonjour« hatten wir uns gegenseitig begrüßt.

Die Dame hatte das Tor aufgeschlossen, sie fuhr mit ihrem exzellenten Auto durch das Tor, sperrte dann selbstverständlich sorgfältig das Tor ab und ging in das prächtige Haus hinein.

Die Sache war recht ungewöhnlich, denn sie war nach mehreren Minuten an den Ort des Geschehens zurückgegangen mit einem Pott Kaffee. Sie schob die Riesentasse bücklings durch das Tor, ich konnte mich nicht einmal umdrehen, sie war, rips raps, schon wieder verschwunden.

Apropos, der Kaffee war schön heiß, sehr gut. Es muss unbedingt gesagt werden, die charmante Französin hat es sehr gut gemeint, aber der Kaffee wurde mit einem Haufen Zucker und mit einem Haufen bester Sahne regelrecht verpanscht, das Gesöff war fast ekelerregend.

Bei schönstem Wetter fuhr ich über Chateau-Thierry (Aisne) und Meaux (in der Nähe von Disneyland).

Große Pedalschritte wurden unternommen, bis mein Begehren in Erfüllung ging, nämlich Paris endlich und wirklich und persönlich in Augenschein zu nehmen.

Aber in die City einzudringen, war sehr kompliziert, ich musste halb Paris umfahren, man konnte Paris fast »riechen,« aber nicht betreten.

Im Mittelalter waren die Städte von hohen Mauern umgeben, wegen der Sicherheit. Heutzutage wird alles für das Auto getan.

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