Methoden geisteswissenschaftlicher Pädagogik

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Methoden geisteswissenschaftlicher Pädagogik
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UTB 947

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Helmut Danner, Jg. 1941; Promotion in Philosophie, Habilitation in Pädagogik; Lehrtätigkeiten an Universitäten in München, Trier, Kanada und Südafrika; von 1986 bis 1995 Vertreter der Hanns-Seidel-Stiftung und Leiter von Projekten in der Erwachsenenbildung in Ägypten, Kenia und Uganda.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar.

UTB-ISBN 13: 978-3-8252-0947-6 (Print)

eISBN 978-3-8463-0947-6

© 2006 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

ISBN 978-3-8463-0947-6

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

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Inhaltsverzeichnis

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Titel Über den Autor Impressum Vorwort zur ersten Auflage Vorwort zur fünften Auflage 1 - Einführung 2 - Hermeneutik 3 - Phänomenologie 4 - Dialektik 5 - Hermeneutik, Phänomenologie und Dialektik im pädagogischen Erkenntnisprozess Anmerkungen Literatur Personenregister Sachregister

Vorwort zur ersten Auflage

Forschungsmethoden können prinzipiell auf zwei Weisen abgehandelt werden: wissenschaftstheoretisch im Hinblick auf ihre Begründung und darstellend im Hinblick auf ihre vorfindbare Gestalt und ihre Anwendungsmöglichkeit (Oppolzer 1969, 11 f). Dieses Buch greift die zweite Möglichkeit auf. Was in der Literatur, auch in der einschlägigen, häufig als bekannt vorausgesetzt wird, soll hier Gegenstand sein. So werden die geisteswissenschaftlichen Methoden Hermeneutik, Phänomenologie und Dialektik

a. auf allgemein philosophischer Ebene,

b. im Rahmen der geisteswissenschaftlichen Pädagogik,

c. durch Originaltexte und deren Interpretation,

d. mithilfe von schematischen Abbildungen und

e. durch Beispiele

dargestellt und nach ihren zentralen Begriffen, Grundgedanken und formalen Schritten entfaltet.

Die bewusste Beschränkung auf die Darstellung bringt einige Probleme mit sich, die von Anfang an benannt seien. Zum einen kann eine einführende Darstellung nicht gleichzeitig wissenschaftstheoretische und erkenntnistheoretische Grundlegung und Auseinandersetzung sein, obgleich solche Fragen ständig mit hineinspielen; der Anmerkungsteil wird im Rahmen des Möglichen hierzu Hinweise geben. Zum anderen gehen in die Darstellung notwendigerweise standortbedingte Entscheidungen und Voraussetzungen des Verfassers ein, die aber ebenfalls nicht näher erörtert und begründet werden können, sofern dies nicht durch die Darstellung selbst geschieht. Weiterhin wird die Bemühung, sich einfach und verständlich auszudrücken, oft durchkreuzt von der Schwierigkeit der Sachverhalte, die eine Simplifizierung verbietet; dies wird es mit sich bringen, dass dem einen unsere Darstellung zuweilen zu schwierig, dem anderen aber zu einfach sein wird – das Dilemma einer jeden Einführung.

Das Buch ist nicht nur für Pädagogen geschrieben, sondern für jeden, 8der sich grundlegende Kenntnisse über Hermeneutik, Phänomenologie und Dialektik aneignen will: der Bezug zur Pädagogik stellt dabei eine bestimmte Konkretisierung dar.

München, Januar 1979

H. Danner

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Vorwort zur fünften Auflage

Dieses Buch ist 1979 zum ersten Mal erschienen. Mag man fragen, ob es denn heute für eine fünfte Auflage eine inhaltliche Berechtigung gibt.

Die Spanne von 27 Jahren rückt die „Methoden geisteswissenschaftlicher Pädagogik“ in ein verändertes Licht. Neben der ‚Methoden‘-Frage erhält auch die historische Perspektive Bedeutung; das Buch ist zu einem kleinen Beitrag zur Geschichte der Pädagogik geworden. Der letzte große Vertreter der ‚geisteswissenschaftlichen Pädagogik‘, nämlich Wilhelm Flitner, starb 1989. Aber die Kritik an der ‚geisteswissenschaftlichen Pädagogik‘ setzte bereits in den 60 er Jahren des 20. Jahrhunderts ein, verbunden mit einer Hinwendung zur empirischen und sozialwissenschaftlichen Erziehungswissenschaft. In der Tat gehen in die geisteswissenschaftliche Pädagogik Elemente der Hegel’schen Philosophie und der Dilthey’schen Lebensphilosophie sowie andere weltanschauliche und ideologische Komponenten ein, je nach Vertreter in unterschiedlicher Ausprägung und Akzentuierung – bis hin zur O. F. Bollnows Orientierung an der Existenzphilosophie.

Die ‚geisteswissenschaftliche Pädagogik‘ ist eine Richtung innerhalb der Geschichte der deutschen Pädagogik, die im Wesentlichen die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts dominiert hat. Es geht nicht darum, sie wieder zu beleben. Sie kann und muss in ihrer historischen Bedingtheit gesehen und belassen werden; aber die Auseinandersetzung mit ihr macht die Entwicklung der deutschen Erziehungswissenschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Teil verständlich. Beispielsweise hat auch die ideologiekritische Ablehnung des Bildungsbegriffs in den 60 er und 70er Jahren damit etwas zu tun.

Neben dem historischen Aspekt, der hier mehr am Rande interessiert, gibt es aber ein systematisches Interesse an der ‚geisteswissenschaftlichen Pädagogik‘, nämlich die Art und Weise, wie sie an ihren Gegenstand herangeht – an Erziehung, Bildung, Schule, etc. und die wissenschaftliche Reflexion darüber. Diese Herangehensweise ist so geartet, dass sie das eigentümlich Menschliche in den Blick zu bekommen und es zu bewahren versucht. Was das Menschliche ausmacht, ist Sinn, 10Sinnhaftes, Bedeutung. Nicht nur unser Sprechen, auch unser Handeln und unsere Hervorbringungen sind sinnvoll; und wenn wir sagen, was jemand sagt oder tut, sei ohne Sinn, sinnlos, dann reklamieren wir gerade, dass wir Sinn erwarten. Von Naturdingen, auch von Tieren, erwarten wir hingegen keinen Sinn. Eine Bedeutung der ‚geisteswissenschaftlichen Pädagogik‘ für die systematische Erziehungswissenschaft liegt gerade darin, dass sie das Erziehungs- und Bildungsgeschehen als ein sinnhaftes beschrieben und reflektiert hat.

Ist das heutzutage noch wichtig? Oder ist es nach dem PISA-Schock nicht besser, technokratische Mittel und Wege zu erforschen, um das Humankapital der deutschen Gesellschaft zu steigern und die künftige ökonomische Verwertbarkeit von Lernenden im globalen Wettkampf zu sichern (Rittelmeyer 2006)? Dabei muss dann nicht mehr auf ‚Sinn‘ geachtet werden; die Zweckhaftigkeit des Mitteleinsatzes reicht aus. Von ‚Sinn‘ zu reden, stört nur.

An diesem Punkt geht es in der Tat um eine grundlegende Entscheidung nicht nur des praktisch tätigen Pädagogen, sondern auch des Wissenschaftlers, der sich mit dem pädagogischen Geschehen befasst: wie sie nämlich ihre Aufgabe und ihren Gegenstand wahrnehmen. Hat in ihrer Wahrnehmung das Sinnhafte einen zentralen Platz; oder halten sie die Rede davon für ein überholtes Geschwätz, vor allem wenn es um den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit geht?

 

In meinem Tätigkeitsbereich der vergangenen Jahre, nämlich in der Entwicklungszusammenarbeit, kann interessanterweise eine ähnliche Antinomie – verstehendes gegen technokratisches Vorgehen – beobachtet werden. Ist es richtig, ‚Entwicklung‘ ökonomisch und statistisch zu definieren, wie es die Tendenz von Internationalem Währungsfonds und der Weltbank ist? Ist der folgerichtige Weg, den Entwicklungsländern ökonomische Maßnahmen zu verordnen? (Ein Beispiel hierfür ist der „Structural Adjustment Plan“ der 80er Jahre, der inzwischen als Irrweg eingesehen worden ist.) Kann man, wie das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung glaubt, Demokratie, Regierungsführung und Menschenrechte statistisch messen? Kann man Afrika mit einer Verdoppelung der Entwicklungshilfe, mit einem „big push“, in der Tat helfen, wie Blairs „Commission for Africa“ und der G8-Gipfel vom Juli 2005 glauben machen?

Oder müsste man nicht auch jene Afrikaner zu Wort kommen lassen und ernst nehmen, die Entwicklungshilfe entweder ganz oder bedingt ablehnen? Wäre nicht das Angebot von Afrikanern zur Partnerschaft in dem Entwicklungskonzept „New Partnership for Africa’s Development“ 11(NEPAD) eine Chance, einen Dialog zu eröffnen, hinzuhören und zu verstehen, was die afrikanischen Länder und Völker traditionell, geschichtlich, kulturell, mental charakterisiert, um auf dieser Basis und in einem humanen Umgang ‚Entwicklungshilfe‘ anzubieten? Es ginge also auch hier um das Verstehen des Sinnhaften in Tradition, Kultur, Mentalität, etc.

Wenn man in Pädagogik, Entwicklungszusammenarbeit, aber auch in Politik und Wirtschaft, nicht auf technokratische Machbarkeit setzt, Menschen nicht als manipulierbare, wenn auch komplizierte Automaten behandelt, sondern im Sinnhaften des individuellen und gesellschaftlichen Lebens ein Wesentliches erkennt und anerkennt, dann ist das Anliegen dieses Buches nach wie vor aktuell. Es geht hier darum, wie Sinnhaftes interpretiert (Hermeneutik), in seinem Wesentlichen beschrieben (Phänomenologie) und in seinen Widersprüchen reflektiert (Dialektik) werden kann. Um die historische Belastung des Begriffes ‚geisteswissenschaftlich‘ zu vermeiden, sollte wohl angemessener von einer ‚sinn-orientierten‘ Pädagogik (Danner 1981; 1985 a) gesprochen werden. Ebenso sei schon hier darauf hingewiesen, dass Methode in unserem Zusammenhang genau genommen ein Hilfsbegriff ist; denn es geht nicht um wissenschaftliche Methoden von der Art, wie sie beispielsweise mit einem Fragebogen, einer Statistik oder einem Laborversuch gegeben sind. Der englische Begriff approach würde die Sache angemessener beschreiben, wenn wir von Hermeneutik, Phänomenologie und Dialektik sprechen; sie sind in diesem Sinn ‚Annäherungswege‘, ‚Zugangsweisen‘.

Diese Neuauflage belässt im Wesentlichen die Hauptteile – die grundlegenden Einführungen in Hermeneutik, Phänomenologie und Dialektik – in ihrer bisherigen Form. Es wurden zwei zusätzliche Exkurse aufgenommen, um auf jüngere erziehungswissenschaftliche Entwicklungen in der Hermeneutik und in der Phänomenologie hinzuweisen, nämlich auf die objektive Hermeneutik sowie auf den Bezug zur Lebenswelt und die ethische Reflexion im Anschluss an Lévinas. Anmerkungen wurden, so weit vertretbar, in den Text aufgenommen und Literaturhinweise durch neuere Erscheinungen ergänzt. Einige hartnäckige Druckfehler konnten eliminiert werden. Nach wie vor möchte das Buch nichts anderes sein als eine Einführung – eine Analyse der grundlegenden Begriffe, Phänomene und Erkenntisprozesse, um die Grundlage zu schaffen für eine theoretische Auseinandersetzung und praktische Anwendung.

Für wertvolle Hinweise zu dieser Auflage danke ich Christian Rittelmeyer, 12in dessen eigenen, praktisch orientierten Arbeiten das Hand-in-Hand-Gehen von Hermeneutik und Phänomenologie demonstriert wird, und vor allem danke ich Frau Wehler und Frau Henning des Ernst Reinhardt Verlags für die Entscheidung zu dieser neu gestalteten Auflage und für deren Betreuung, womit sie das Anliegen einer ‚Sinn-Orientierung‘ unterstützen.

Nairobi, Februar 2006

Helmut Danner

1

Einführung

„Geisteswissenschaftliche Pädagogik am Ausgang ihrer Epoche – Erich Weniger“: So lautet ein Buchtitel, der 1968 erschienen ist (Dahmer / Klafki). Erich Weniger starb 1961; mit ihm scheint demnach die Epoche der geisteswissenschaftlichen Pädagogik zu Grabe getragen worden zu sein; die Zukunft und der Fortschritt gehören jetzt – wem? Die Vertreter der „kritischen“ Erziehungswissenschaft streiten sich mit den empirisch-analytischen Pädagogen um den Rang der alleingültigen Wissenschaftlichkeit. Aber beide glauben, das „weltfremde, metaphysische Gerede“ der geisteswissenschaftlichen Pädagogik längst überwunden zu haben. Immerhin, ein Rezensent des genannten Werkes kommt zu dem tröstlichen, wenn auch unsicheren Urteil: „Ist auch die Epoche der geisteswissenschaftlichen Pädagogik an ihr Ende gelangt, so scheint doch ihr Beitrag zur Entwicklung der Erziehungswissenschaft nicht vergeblich gewesen zu sein“ (Stütz 1968, 665 f).

Wozu also sich mit längst Vergangenen abgeben, noch dazu mit einem ganz speziellen Ausschnitt daraus, mit geisteswissenschaftlichen Forschungsmethoden? Nun wäre es denkbar, dass nicht die Sache selbst, nämlich die geisteswissenschaftliche Pädagogik, zu Ende gegangen ist, sondern einfach das Interesse einiger Schüler des Geisteswissenschaftlers Erich Weniger und anderer an dieser Sache; dass also die Fragen und Probleme, mit denen sich die geisteswissenschaftliche Pädagogik beschäftigt, nach wie vor bestehen. Wenn es so wäre, dann hätte es also sehr wohl Sinn, sich auf die Denkhaltung der geisteswissenschaftlichen Pädagogik einzulassen, ja es könnte sogar ein Versäumnis für die Erziehungs-und Bildungsfrage bedeuten, wenn man es nicht täte. Das vorliegende Buch macht es sich – quasi nebenbei – zur Aufgabe, die Bedeutung der geisteswissenschaftlichen Fragestellung aufzuzeigen. Die Hauptaufgabe aber liegt in der Darstellung der Methoden dieser geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Zuvor aber scheint es nötig, sich einige Gedanken zu machen über die umstrittenen Begriffe „Geisteswissenschaft“ und „geisteswissenschaftliche Pädagogik“. Eine wissenschaftstheoretische Gesamtdarstellung und Grundlegung ist weder möglich noch beabsichtigt.

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1.1 Zum Sinn der Methodenreflexion

Zunächst fragen wir, was denn „Methode“ heißt. Das Wort kommt aus dem Griechischen: μἐυoδoς (méthodos) und setzt sich zusammen aus den Wörtern μετά (metá) „entlang“ und óδóς (hodós) = „Weg“. „Methode“ bedeutet also soviel wie das „Entlanggehen eines Weges“ (Bocheński 1969, 16). Die Methode ist das Verfahren, das einen bestimmten Weg aufzeigt, um ein vorgesetztes Ziel zu erreichen (Müller/ Halder 1967, 110). Die Verfahren des Lehrers, um bei seinem Schüler zu einem Urteil zu kommen, können darin bestehen, den Schüler über längere Zeit zu beobachten oder ihm gezielte Tests vorzulegen. Und der Erziehungswissenschaftler hat beispielsweise die Möglichkeit, die Methode des (strengen) Beschreibens oder der statistischen Erhebung anzuwenden, um etwa verschiedene Erziehungsstile zu ermitteln.

Uns soll es hier um Forschungsmethoden gehen. Das heißt also, dass uns nicht interessiert, welche Wege der Lehrer einschlägt, um seinen Schülern das Bruchrechnen oder geschichtliches Denken beizubringen. Wir lassen außer Acht, welche Maßnahmen Eltern ergreifen mögen, um ihren Kindern Ordnungssinn anzuerziehen. Dies sind Fragen der Unterrichts- bzw. Erziehungsmethodik, die in unserem Zusammenhang keine Rolle spielen. (Einen Überblick über Erziehungs- und Unterrichtsmethoden bietet beispielsweise K. H. Schwagers Artikel „Methode und Methodenlehre“ (1970, 93–128). Wir fragen hier nach Methoden, welche die Pädagogik als Wissenschaft anwenden kann und muss, um zu Erkenntnissen zu kommen. Der Begriff „Forschungs“-methoden setzt sich also ab gegen praktische Methoden der Pädagogik. Dabei ist zu beachten, dass mit „Forschung“ nicht nur etwa Labor- und Felduntersuchungen gemeint sind, sondern z. B. auch eine historische Untersuchung. Mit Forschung soll also hier allgemein die gezielte, planvolle wissenschaftliche Tätigkeit verstanden werden.1

Methode bezeichnet also in einer Wissenschaft den Weg, die Art und Weise, wie zu einer Erkenntnis gelangt werden kann. Wenn ich methodisch arbeite, gehe ich planvoll und nach bestimmten Regeln vor. Jede Wissenschaft versucht, die Methoden, die ihr am angemessensten sind, herauszufinden, zu begründen und zu differenzieren. Diese Bemühung einer Wissenschaft um ihre Methoden steht aber in einem größeren Zusammenhang, den man mit Wissenschaftstheorie bezeichnet.

In der Wissenschaftstheorie legen die einzelnen Wissenschaften ihr Selbstverständnis als Wissenschaft fest und versuchen, es zu begründen. 2 Das bedeutet also, wenn wir uns hier mit bestimmten Methoden 15der Erziehungswissenschaft beschäftigen, dass wir dann auch nach dem Selbstverständnis der Pädagogik als Wissenschaft fragen. Es ist nun einmal ein fundamentaler Unterschied, ob ich beispielsweise das autoritäre Verhalten von Vätern gesamtmenschlich zu verstehen und zu deuten versuche, oder ob ich eine Strichliste darüber führe, wie oft sie ihren Kindern etwas verbieten. Der Unterschied dieser beiden einfachen Beispiele liegt ja nicht nur in der Methode, sondern darin, wie ich als Wissenschaftler meine, zu pädagogisch bedeutsamen Aussagen gelangen zu können.

Hier schließt sich sofort die Frage an, was denn als „pädagogisch bedeutsam“ gelten soll, ja letztlich: welches Menschenbild ich habe, aufgrund dessen ich meine, wissenschaftlich so oder so vorgehen zu müssen. Diese Fragen zeigen, in welcher Dimension und Bedeutung die Methodenreflexion gesehen werden muss. Mit anderen Worten: Es ist nicht gleichgültig, welche Methoden in der erziehungswissenschaftlichen Forschung angewandt werden. Die Reflexion über die Methoden hat darum unter anderem den Sinn der wissenschaftstheoretischen Klärung (siehe Abb. 1).


Abb. 1: Einordnung der Methoden

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Das Schaubild will zum einen die Stellung der Methodenfrage im Rahmen der Wissenschaftstheorie und der praktischen wissenschaftlichen Forschung andeuten: Die Methodenfrage ist ein Teil der Wissenschaftstheorie; die angewandten Methoden bestimmen wesentlich die wissenschaftliche Tätigkeit; umgekehrt müssen die Methoden dem jeweiligen Forschungsgegenstand angemessen sein (kleine Pfeile). Zum anderen soll das Schaubild auf die innere Abhängigkeit der Wissenschaftstheorie, der Wissenschaft(en)und damit auch der Methoden von philosophischen, weltanschaulichen Grundlagen und Voraussetzungen hinweisen (große Pfeile). Mit anderen Worten: Das, was unter Wissenschaft verstanden werden soll (Wissenschaftstheorie) und die forschende Tätigkeit ändern sich, wenn von unterschiedlichen philosophischen Voraussetzungen ausgegangen wird. Diese können bewusst als philosophische Grundannahmen oder als weltanschauliche Haltung eingebracht werden; sie können aber auch unbekannt als jeweiliges Welt- und Menschenbild einfließen.

Unser Schaubild ist rein schematisch und idealtypisch – und somit auch vereinfachend wie jede Schematisierung. Denn vor allem die These, dass philosophische und weltanschauliche Grundannahmen in die Wissenschaftsauffassung eingehen, wird weithin abgelehnt (Brezinka 1978, 19). Teilweise wird an der Existenzberechtigung der Philosophie gezweifelt; Wissenschaftstheorie und Philosophie werden dann identisch. Damit würde sich auch unser Schaubild verändern; das untere Feld „Philosophie“ müsste dann wegfallen.3 Es wäre noch eine Reihe von anderen Variationen vorstellbar, auf die wir aber hier nicht eingehen müssen.

Wenn es nicht gleichgültig sein soll, welche Forschungsmethode angewandt wird, so ist damit noch etwas anderes gesagt: Jedes methodische Vorgehen hat seine ganz bestimmte Möglichkeit und seine Grenzen (Röhrs 1971, 42). Man kann also von einer Methode nur etwas Bestimmtes erwarten; anderes leistet sie dagegen nicht. Auf unser Beispiel mit den autoritären Vätern bezogen, bedeutet das: Wenn ich die Verbote, welche sie erteilen, lediglich zähle, dann kann ich über die Häufigkeit autoritären Verhaltens Aufschluss erhalten; das Zählen bringt mich jedoch nicht weiter bei der Frage nach dem, was „autoritär“ überhaupt ist und bedeutet; das Zählen sagt nichts aus über den Sinn, die Berechtigung von Erziehungsverboten, auch nicht über die Auswirkung auf das Kind, auf sein Verhältnis zum Vater usw.

 

All dies leistet schon eher die verstehende Methode, die versucht, etwa die Verbote innerhalb des Gesamtrahmens der Erziehung zu sehen, 17sie einzuordnen und gesamtmenschlich zu beurteilen; sie kann zu einer Differenzierung kommen und zwischen berechtigten und unsinnigen Verboten, zwischen autoritativem und autoritärem Erziehungsverhalten unterscheiden. Der Unterschied besteht u. a. darin, dass der autoritäre Erzieher seine Überlegenheit so ausnutzt und ausspielt, dass sich das Kind nicht entfalten kann, während der autoritative seine Überlegenheit positiv einsetzt, um dem Kind gerade zur Selbstentfaltung zu verhelfen. Durch Verstehen und Deuten komme ich zu keiner Aussage darüber, wie verbreitet autoritäres Verhalten innerhalb einer Gesellschaft ist.

Nun sind aber Forschungsmethoden im pädagogischen Zusammenhang nicht einfach jeweils verschiedene Instrumente, die man nach Gutdünken einsetzen kann. Sie unterscheiden sich nicht nur formal, sondern auch inhaltlich. Die Häufigkeit eines erzieherischen Verhaltens abzuzählen oder dieses verstehen zu wollen, sind zwei grundverschiedene Dinge; der Erziehungswissenschaftler kann seinen Untersuchungsgegenstand unter Umständen total verfehlen, ihn gar nicht in den Blick bekommen, wenn er nicht die angemessene Methode anwendet. Was als „angemessen“ zu gelten hat, daran scheiden sich die Geister. Es ist, wie wir schon angedeutet haben, im Letzten eine Frage des Menschen- und auch des Weltbildes.4

Die Methodenfrage würde jedoch zu einseitig gesehen werden, wenn man meinte, man müsse sich für eine einzige Methode entscheiden. Wissenschaftliche Forschung geschieht immer durch das Zusammenwirken mehrerer Methoden. Der wissenschaftstheoretische oder weltanschauliche Streit um die „richtigen“ Methoden spielt sich darum auch zwischen Gruppen von Methoden ab, im Wesentlichen zwischen den geisteswissenschaftlichen und den empirisch-analytischen. Unter geisteswissenschaftlichen Methoden werden ziemlich übereinstimmend folgende verstanden: Hermeneutik (als verstehende und historische Methode), Phänomenologie und Dialektik.5 Für die empirischen Methoden ist eine Aufzählung nicht so eindeutig; am häufigsten werden dazu aufgeführt: Beobachtung, Befragung, Experiment, Test und Statistik.6 Aber auch jene Polarisierung zwischen empirischen und geisteswissenschaftlichen Methoden müsste nicht so extrem und ausschließlich sein, wenn diese jeweils sinnvoll eingesetzt und ergänzend aufeinander bezogen würden.7

Diese skizzenhaften Andeutungen sollen zeigen: Das Kennenlernen von und das Nachdenken über Methoden sollen zu einem kritischen Bewusstsein verhelfen, was eine Methode leisten kann und was nicht. Es soll dadurch auch bewusst werden, was man unter Umständen versäumt, 18wenn man eine Methode nicht anwendet. Dieses Methodenbewusstsein vermag den Sinn für Wissenschaftlichkeit zu wecken; denn wissenschaftliches Arbeiten ist methodisches Arbeiten. Darum erweist es sich auch für den Studierenden als sinnvoll, Forschungsmethoden kennen zu lernen und mit der Zeit auch selbstständig und bewusst anzuwenden.

Wenn wir uns hier ausführlich mit ‚geisteswissenschaftlichen‘ – oder allgemeiner: sinn-orientierten – Forschungsmethoden befassen wollen, so soll dennoch von Anfang an die Methodenfrage auch in ihrer begrenzten und relativen Bedeutung gesehen werden. Der Satz „wissenschaftliches Arbeiten ist methodisches Arbeiten“ lässt sich nämlich nicht umkehren. Nicht jedes methodische Vorgehen garantiert schon Wissenschaftlichkeit. Wenn wir also Pädagogik als Wissenschaft ernst nehmen wollen, dann dürfen wir nicht die Methodenfrage zum obersten und einzigen Prinzip erheben; die Methode übernimmt „bei der Beantwortung eines Fragezusammenhanges nur eine dienende Funktion“ (Linke 1966, 157). Wir müssen uns also vor einer Methodengläubigkeit hüten (Feyerabend 1976; Wuchterl 1977, 57 f). Denn mit statistischen Erhebungen über Schülerverhalten oder mit phänomenologischem Beschreiben der Mutter-Kind-Beziehung allein ist pädagogisch noch nichts oder nur wenig ausgesagt.

Zudem kann wohl nicht geleugnet werden, dass die Methodendiskussion in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu einer gewissen Mode-Erscheinung geworden war. „Vielleicht ist es keine Übertreibung zu behaupten, daß sie [die Methodologie] selten so eifrig gepflegt wurde wie in unserer Zeit“ (Bocheński 1969, 138). In Deutschland hatte das den geschichtlichen Hintergrund, dass in den sechziger Jahren damit begonnen worden war, die empirisch-analytischen und sozialwissenschaftlichen Forschungsergebnisse und -methoden zu übernehmen, die in der übrigen westlichen Welt erzielt bzw. angewandt wurden.8

Mehr oder weniger dazu gedrängt, kam damit auch die geisteswissenschaftliche Pädagogik in die Situation, verstärkt Methodenreflexion zu betreiben. Dies hatte die positive Auswirkung, dass sie sich wissenschaftstheoretisch darstellen und dadurch selbst kritisch prüfen musste. Gleichzeitig geriet sie in Gefahr, ihre inhaltliche Aufgabe zu vernachlässigen, nur weil sie einem modischen Trend nachgab (Wuchterl 1977, 5). In einer ähnlichen Lage der wissenschaftstheoretischen Begründung der Geisteswissenschaften im Fahrwasser der Naturwissenschaften befand sich W. Dilthey vor rund 120 Jahren. Dabei aber „hat sich Dilthey von dem Vorbild der Naturwissenschaften zutiefst bestimmen lassen, auch wenn er gerade die methodische Selbständigkeit 19der Geisteswissenschaften rechtfertigen wollte“ (Gadamer 1975, 4). Könnte dieser modische Trend, geistesgeschichtlich gesehen, nicht darin bestehen, dass man die Flucht ins Formale angetreten hat, weil man unfähig geworden ist, inhaltlich etwas auszusagen? Auch aus diesem Grund also sollte die Methodenfrage nicht überbewertet, wenn auch in ihrer sinnvollen Aufgabe nicht unterschätzt werden (Nicklis/Wehrmeyer 1976, 6 f).

Ein Gesichtspunkt soll noch genannt werden, der sich aus einer Überbetonung des Methodenproblems ergibt: die Verdeckung des Gegenstandes durch die Methoden. Was damit gemeint ist, haben wir in unseren Beispielen schon angedeutet. Wenn ich z. B. zu einer Aussage darüber kommen will, welche Bedeutung das Vertrauen in der Erziehung hat, werde ich mir etwa durch empirisch-analytische Methoden den Weg verbauen (Bollnow 1969b, 26f). Das Phänomen des zwischenmenschlichen Vertrauens entzieht sich des quantitativen Zugriffs; es schlüpft durch das Gitterwerk einer Statistik; durch experimentelles Vorgehen wird es von vornherein verhindert. Gehe ich also mit bestimmten Methoden, in diesem Fall mit empirischen, ohne auf die Art des Gegenstandes zu achten, an diesen heran, so kann sich dieser entziehen; in unserem Beispiel müsste ich zu dem Ergebnis kommen, dass es pädagogisches Vertrauen überhaupt nicht gibt. „Es gibt … im Lernprozess … Mechanismen. Die Methode der experimentellen pädagogischen Psychologie versuchte sie zu erfassen. Sie entschied, wie man am leichtesten, gründlichsten, z. B. memoriert; aber ob man so lernen soll und was und in welchem Maße, darüber konnte sie keine Aussagen machen“ (Flitner 1989, 370). Der Gegenstand also muss die Methode bestimmen, nicht umgekehrt; die wissenschaftliche – und pädagogische – Fragestellung muss der Ausgang sein, nicht die Methode.9

Einen weiteren Aspekt ergibt die Unterscheidung zwischen geisteswissenschaftlichen und empirisch-analytischen Methoden. Letztere haben einen mehr instrumentellen Charakter; man kann sie erlernen wie eine andere Technik und entsprechend einsetzen; so kann man z. B. ein Experiment durchführen oder nicht. Dies ist im Hinblick auf geisteswissenschaftliche Methoden streng genommen nicht möglich; denn hermeneutisches Verstehen oder phänomenologische Befunde sind immer schon mit im Spiel, wenn ich an einen pädagogischen Sachverhalt überhaupt herangehe und auch, wenn ich über die angemessenste Forschungsmethode reflektiere.

Während empirische Methoden mehr den Charakter des technischen Zugreifens besitzen, wollen die geisteswissenschaftlichen Methoden 20mehr den Gegenstand selbst sprechen lassen. Der Gegenstand „spricht“ aber schon, bevor ich überhaupt an eine empirische Untersuchung denke, indem beispielsweise ein erzieherischer Missstand sichtbar geworden ist. Insofern können geisteswissenschaftliche Methoden und empirische nicht auf einer Ebene gesehen werden. Die Reflexion über ‚geisteswissenschaftliche‘ Methoden hat einen anderen Stellenwert als die über empirische; der Begriff ‚Methode‘ meint damit auch etwas Unterschiedliches; es geht dort weniger um das Erlernen und spätere Anwenden als um das Kennenlernen eines Erkenntnisvorganges, der auch ohne „Methodenstrategie“ ständig und längst geschieht (Gadamer 1975, XXVII, 483). Die bessere Kenntnis wird uns aber helfen, auch im geisteswissenschaftlichen Bereich methodisch bewusster vorzugehen.

Damit sind wir wieder zum Anfang unserer Überlegungen über den Sinn der Methodenreflexion zurückgekommen.