Mit Märchen zum Glück

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Mit Märchen zum Glück
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Mit Märchen zum Glück

Helena Beuchert

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www.net-verlag.de Erste Auflage 2021 © net-Verlag, 09117 Chemnitz © Coverbild: Heike Georgi Covergestaltung: net-Verlag printed in the EU ISBN 978-3-95720-325-0

Inhaltsverzeichnis

Vom König mit der dünnen Haut

Wie die Pause ins Haus kam

Über alle Berge

Das Glück wohnt im Echsental

Die dicken Schwestern

Wie Kinder so werden

Wo die Elfen leben

Brot und Erdbeeren

Prinzessin ohne Krone

Magd ohne Namen

Weiße Täubchen

Ein Sohn sein

Die Feenwünsche

Wurzeln schlagen

Weggegeben

Warum es sich zu wünschen lohnt

Das Geheimnis der Truhe

Die verlorene Königstochter

Soldaten müssen gehorchen

Wanda findet nach Hause

Doch Linus kämpft

Ottilie kommt zurück

Alles in einem

Prinzessin Owieschön

Und Margarete tanzt

Sich einverleiben

Mehr ist mehr

Der schlaue Fridolin

Das Liebesversteck

Wo sind die Sorgen geblieben

Mutterarme

Über die Autorin

Buchempfehlungen

Vom König mit der dünnen Haut


Es ist noch gar nicht lange her, da lebte einmal ein junger König, der regierte sein Reich klug und gütig. Alle Bewohner hatten ein sattes Auskommen, und die bunten Märkte waren bis über die Grenzen berühmt. Doch der König war mit einer dünnen Haut in die Welt geboren worden. Jeder missgünstige Gedanke, jede zornige Verwünschung traf ihn und schlüpfte ihm unter die Haut. Jede abfällige Bemerkung zeichnete sein Gesicht. Besonders an den Festtagen, an denen der König von der Balustrade herunter zu seinem Volk sprach, setzten ihm die Spitzen der Neider zu. Auch wenn er mit der Kutsche die Wachparade abfuhr, trafen ihn die ausgespuckten Nadeln. Manche hatten sogar Widerhaken und krallten sich fest.

Nach jedem öffentlichen Auftritt suchten ihn seine Getreuen am ganzen Körper nach diesen gemeinen Spitzen ab.

Die treuesten Diener wussten von den Wunden, die seinen Körper zeichneten. Er selbst verbarg den Makel und ließ sich auf jeden Mantel einen hohen Kragen schneidern. Doch nach und nach verlor der König die Freude an der Begegnung mit Menschen und zog sich immer mehr zurück. Im Schloss wurde es still, so still, dass die Wachen miteinander flüsterten, wenn sie einen Befehl weitergaben.

Dann und wann hob der König einen Vorhang und schaute hinaus in den grünenden Garten. Aber selbst zum Herumspazieren in der Blütenpracht hatte er keine Lust mehr.

Viele Menschen vermissten den König und trauerten mit ihm. Wer über den großen Platz vor dem Palast ging, schaute zu den Fenstern hinauf, als könne er den König herbeizaubern. Doch dieser ließ sich nicht sehen. Das fröhliche Geschrei und laute Feilschen auf den Märkten wich ruhigen Geschäften, und alle gingen eilig wieder nach Hause.

Eine Imkerin, deren Familie schon seit Menschengedenken einen Honigstand am Rand des Marktes unterhielt, spürte die Veränderung im Volk. Oft dachte sie darüber nach, wie sie dem König helfen könne.

Sie hatte eine schöne Tochter. Die lachte so glockenhell und unbeschwert, dass es eine reine Freude war. Oft kamen Händler und Handwerksburschen nur an den Stand, um das Mädchen lange ansehen zu können, und kauften mehr Ware, als sie brauchten. Da packte die Mutter eines Morgens einen großen Henkelkorb voller Töpfchen feinsten Blütenhonigs und schickte die Tochter damit zum Palast: Sie solle dem Koch doch ein paar Kostproben darbieten.

Dieser ließ sich verzaubern und bat sie in die Küche, wie es sonst nicht seine Art war.

Und alsbald schallte glucksendes Lachen durchs Haus – so unbeschwert fröhlich und frei, wie es lange nicht mehr im Schloss zu hören gewesen war.

Der König vernahm es, ging dem Lachen entgegen und kam in die Küche. Da stand die junge Imkerin und scherzte mit dem Koch. Voll Grazie ließ sie gerade alle Küchenjungen der Reihe nach von dem köstlichen Bienensaft probieren.

Unbefangen bot sie auch dem König einen Löffel voll an. Und er ließ sich verführen, genoss den Honig und lächelte dem Mädchen zu. Dann wies er den Koch an, die ganze Ware zu kaufen, und bat die junge Frau, doch morgen neue Töpfe zu bringen.

Alle im Schloss erstaunten sich über ihren König.

Den ganzen Tag über und die halbe Nacht lief er von Fenster zu Fenster, schaute gedankenverloren hinaus und summte vor sich hin.

Auch musste ihm der Koch immer wieder neue Honigschälchen bringen, die er genüsslich mit dem Finger ausschleckte.

Schon lange bevor die Imkerin wiederkam, saß er in der Küche, sprach mit dem Koch über dies und das und schaute unverwandt zur Tür.

Dann war sie endlich da mit ihrem glockenhellen Lachen und ihrer köstlichen Fracht. Der König wusste selbst nicht, wie ihm geschah. Er fasste sie an der Hand und führte sie hinauf in seine Gemächer. Strahlend zeigte er ihr alle Kammern und die prachtvollen Säle. Gemeinsam zogen sie die Vorhänge in jedem Zimmer zurück und winkten den Menschen zu, die über den Platz gingen.

Am Mittag musste sie an seiner Seite an der Tafel sitzen, und dann wanderten sie gemeinsam im Schlossgarten auf und ab. Die Diener hörten ihn dabei aus der Ferne reden, als würde er der jungen Frau sein ganzes Leben zu Füßen legen.

Als die Imkerin sich am Abend verabschiedete, war dem König ein glückliches Lächeln ins Gesicht gegraben. Sie dagegen war still und nachdenklich geworden.

»Ob er ihr von seinem Makel erzählt hat?«, raunten sich die Diener zu. »Hoffentlich kommt sie wieder, damit er lachen kann!«

»Vielleicht weiß sie einen Rat und kann ihm helfen?«

Alle im Schloss waren voll banger Unruhe in dieser Nacht. Nur der König hatte einen wunderbaren Traum und zog die schöne Imkerin gleich in sein Zimmer, als sie am Morgen wiederkam.

Und dann hörten die Diener, die vor der Tür lauschten, die beiden flüstern, kichern und lauthals lachen, bis sie irgendwann Hand in Hand zur Tür herauskamen.

»Schafft alle Honigtöpfe aus der Küche herbei!«, befahl der König mit fester Stimme. »Bevor ich zur Wachparade ziehe oder eine Rede halte, möchte ich, dass ihr umhergeht und allen ein Schälchen Honig serviert! Geizt nicht mit der köstlichen Gabe! Frauen, Männer und Kinder – alle, die in meine Nähe kommen, sollen süße Lippen bekommen. Wenn einer sein Maul aufreißt, dann stopft es ihm mit Honig!«

Und so wurde es gemacht. Zwar konnte keiner aus dem Volk den seltsamen Befehl verstehen, aber der Honig schmeckte ausgezeichnet.

Wer dabei war, eine gemeine Spitze auf den König loszuspucken, dem blieben die Nadeln im Honig hängen und piksten ihn selbst. Die Neider verschluckten sich an der seltsamen Mischung von galliger Missgunst und pappsüßem Honig und husteten, was das Zeug hielt. Den ewigen Nörglern rutschten die stachligen Kommentare mit dem Honig in den eigenen Hals zurück. Immer weniger Nadelstiche trafen den König, obwohl er den Menschen so nah war, wie er es liebte.

 

Und noch ehe die Herbstnebel ins Land zogen, heirateten die schöne Imkerin und der König. Sie waren ein inniges Paar und wurden sehr glücklich.

Für all die Bosheiten, die den König weiterhin verletzten, ersann die junge Königin ein Rezept: Sie rührte einen Löffel Honig sämig, ließ dann den König drei Mal kräftig hineinspucken und strich ihm diese Salbe auf seine Wunden. So heilten sie im Handumdrehen.

Und wenn die beiden nicht gestorben sind, dann regieren sie heute noch mit großer Weisheit und vielen Honigtöpfen.


Wie die Pause ins Haus kam


Es ist noch gar nicht lange her, da lebte einmal ein Mädchen, das war durchscheinend blass und kümmerte klaglos vor sich hin. Und wären die Winter nicht ins Land gekommen – wer weiß.

Schon als es zur Welt kam, rutschte es leicht, fast nebenbei, aus dem Muttermund. Die Hebamme, die gerade am Fenster stand und eine Tasse Kaffee trank, bemerkte es nur, weil es zu wimmern begann. »Da haben wir ja unsere kleine Pause«, sagte sie peinlich berührt.

Die Eltern, die sich noch nicht Mühe gemacht hatten, einen Namen zu finden, griffen die Bemerkung auf. »Wir haben eine kleine Pauseline bekommen«, erzählten sie überall.

Und das war wirklich so. Immer, wenn das Mädchen weinte, konnte die Mutter eine Pause von der schweren Feldarbeit machen und es stillen. Sie stillte es lange, sehr lange, denn die Kleine wollte nicht recht gedeihen.

Sorgenvoll blickte die Großmutter in die Wiege.

Im Winter, wenn sich alle zurück ins warme Haus zogen, blühte die kleine Pause auf. Die Männer bosselten an den Gerätschaften in der Scheune und gönnten sich so manchen Plausch. Die Frauen stopften Socken, nähten neue Kragen an die Arbeitshemden und sangen dabei Kirchenlieder.

Pauseline trug ihre Puppe von einem Stuhl zum anderen und bettete sie in weiche Sofakissen. Sie saugte all das fröhliche Geplauder, das monotone Klopfen und Kleppern, in sich auf wie Honigmilch. Manchmal nickte sie mit allen zusammen in ein Mittagsschläfchen ein und wachte erquickt wieder auf.

Der Vater spielte am Feierabend mit seinem Mädchen Hoppe-hoppe-Reiter auf den Knien. Nur der Großvater äugte unruhig zum Nachbar-Hof hinüber, der verlassen dalag.

Im Frühjahr kaufte ihn der Vater. Jetzt waren sie Großbauern und angesehen im Dorf. Doch nicht nur ihr Ansehen, auch ihre Arbeit verdoppelte sich. Waren sie bisher schon alle ausgelastet, so überrollte sie jetzt eine Flut von Pflichten.

Schon im März rüsteten sich alle zur Feldarbeit. Der alte Bauer gab Befehle, denen keiner widersprach. Die kleine Pause wurde hin- und hergeschubst – keiner wollte sie mehr haben.

»Von nichts kommt nichts«, schnauzte der Großvater und trieb die Familie von morgens bis abends zum Schaffen an. Selbst am Sonntag mied er den flehenden Blick von Pauseline und hielt alle an, in Haus und Scheune – versteckt vor den Leuten – weiterzuwerkeln.

Da lief sie fort, lief, so schnell ihre dünnen Beine sie trugen, lief den ganzen Tag und schlief erschöpft am Wegrand ein. Eine Spinne krabbelte über sie hinweg und begann, in ihrer Armbeuge ein Nest zu weben. Vögel hopsten pickend um sie herum. Pauseline rührte sich nicht.

Ein Wanderbursche, der pfeifend des Weges kam, beugte sich am Morgen über sie, fühlte, dass sie atmete, und streichelte ihr zart übers Gesicht.

Erstaunt schlug sie die Augen auf und lächelte.

Er gab ihr zu essen und zu trinken, setzte sich neben sie und fragte nach dem Woher und Wohin.

Da färbten sich ihre Wangen rot und füllten sich wieder mit Leben. Hand in Hand gingen sie weiter. Wenn Pauseline müde wurde, trug sie der Bursche ein Stückchen auf seinen Schultern und trällerte ein Wanderlied dabei.

So kamen sie an ein Stadttor. »Hier müssen wir Abschied voneinander nehmen«, sagte er, »drinnen wartet bei einem Meister viel Arbeit auf mich.«

»Aber ich könnte mich doch in eine Ecke der Werkstatt setzen und warten, bis du eine Pause machen kannst, oder Feierabend hast«, bettelte die Kleine.

Doch der Bursche blieb fest: »Es wird nicht gerne gesehen, wenn ich gleich mit einem Pausenwunsch ins Haus falle. Ich muss mir meinen Feierabend erst verdienen.«

Traurig kauerte Pauseline sich in eine Nische der Stadtmauer. »Was ist das nur«, flüsterte sie vor sich hin. »Keiner will mich haben.« Und sie zog sich ganz in sich zurück.

Zum Glück bemerkten die Wächter das blasse Wesen, wenn sie ihre Runden drehten, und bekamen Mitleid mit ihm. Sie versorgten es mit dem Nötigsten und setzten sich ein wenig zu ihm hin. So überlebte Pauseline mehr schlecht als recht.

Inzwischen aber war in der Familie, in die sie hineingeboren wurde, eine große Not ausgebrochen. Die Mutter war ob der unendlichen Arbeit krank geworden. In den Fieberträumen arbeiteten ihre Hände weiter, lasen Kartoffeln auf und rupften Unkraut. Die alte Großmutter pflegte sie und seufzte laut: »Wohin soll das alles führen?«

Haus und Garten verwahrlosten.

Die Männer aber bestellten rastlos die Felder, gönnten sich keinen Feierabend und den Äckern keine Brachzeit. Sie säten im Frühjahr als Erste. Doch die jungen Getreidehalme erfroren im launischen Aprilwetter. Eine zweite Aussaat musste folgen.

Mit dem Pferdewagen fuhren sie nur im Galopp und überholten die anderen Bauern, die ihnen verwundert hinterhersahen. Doch im Spätsommer schlugen die Pferde unvermutet aus, schüttelten prustend die Köpfe und zogen nicht an.

Der Vater fluchte, knallte mit der Peitsche und rannte ziellos hin und her. Dann spannten sie die Kühe vor den Wagen, um das geerntete Obst heimzufahren.

Doch ob der ungewohnten Anstrengung blieb bei den Kühen die Milch aus, und die Euter verhärteten sich. Eine Lähmung überfiel den ganzen Hof. Die Hühner hörten auf zu gackern, und die Gänse steckten auch tags ihre Schnäbel in die Flügel. Die Felder lagen ausgelaugt im Herbstnebel.

Jetzt hielten alle inne und besannen sich auf die kleine Pause, doch sie war nirgends zu finden.

»Pauseline, wo bist du?«, riefen sie in die dunklen Winkel der Scheune. »Komm, komm, die Suppe ist fertig!«, lockten sie durchs Haus.

Doch das Mädchen hörte sie nicht.

Hastig schlangen sie ihr Essen hinunter und gingen zum Dreschen auf den Vorplatz. Der Ertrag war mager – trotz der doppelten Felder. »Mir fehlt unsere Pauseline so sehr«, seufzte die Mutter und setzte sich im Krankenbett auf, als könne sie ihr Kind durchs Fenster herbeisehnen.

Auch der Vater war betrübt darüber, dass sein Mädchen fortgegangen war. Er wurde immer trauriger und ließ den Kopf hängen.

Nur die alte Großmutter wusste, was zu tun war. Sie schlang sich zwei bunte Schultertücher um, packte zwei Laibe Brot ein und ging fort. Auf dem Weg hielt sie an jeder Bank Rast, blinzelte in die Sonne und fragte alle, die vorbeikamen, nach ihrer kleinen Enkelin. »Wer unterwegs ist, kennt die Welt! Und wer die Welt kennt, ist auch Pauseline begegnet. Also!« Das beschwörende Gemurmel der Großmutter bekam Recht.

Eines Tages erzählten ihr fahrende Leute von einem zarten Mädchen, das an der Stadtmauer kauerte und von den Wächtern ernährt wurde. Jetzt war die Alte nicht mehr zu halten. Sie borgte sich ein Pferd und kutschierte in aller Eile zur nahen Stadt.

War das eine Freude! Die Großmutter umhüllte Pauseline mit ihrem Schultertuch, drückte ihr Brot in die Hand und trug sie in die Kutsche. »Wir haben dich so vermisst, du Liebes! Nie mehr übersehen wir dich, nie mehr!«, stammelte sie ununterbrochen.

Und so kam es. Vater und Mutter nahmen es zärtlich in ihre Mitte und gönnten sich erquickende Pausen im Tagesablauf.

Selbst der Großvater ließ sich vom Abendläuten nach Hause locken, setzte sich mit seiner Enkelin auf die Feierabendbank und wünschte den Leuten einen guten Abend.

Pauseline aber blühte zusehends auf und lockte viele junge Männer herbei, die einen Umweg in Kauf nahmen – nur um ein wenig mit ihr zu plaudern.


Über alle Berge


Es ist noch gar nicht lange her, da versprachen sich eine Frau und ein Mann aus freien Stücken ewige Treue. Sie wollten gute und schwere Zeiten miteinander durchschreiten bis zum Tod. Ob sie ahnen konnten, was sie erwartete?

Bisher lebten sie streng behütet in den engen Grenzen ihrer Dörfer. Jetzt stellte sie das Leben mitten in eine Berglandschaft. Diese Gegend war ihnen fremd. Sie fühlten sich frei und bedrängt zugleich.

»Was wohl dahinter liegt?«, fragte der Mann schon nach kurzer Zeit und deutete auf den Berg vor ihnen.

»Wir werden es nur erfahren, wenn wir ihn besteigen«, antwortete die Frau lächelnd, und gemeinsam rüsteten sie sich zum Aufstieg.

Doch es war mühsamer, als sie gedacht hatten, vor allem für die Frau. Der Mann mit seinen langen Beinen schritt stetig voran, während sie hinterherjapste.

»Erzähl mir was von dir«, bat sie, »dann wird mir der Weg leichter.«

Doch er schüttelte verwundert den Kopf. »Du musst nur auf deine Füße achten. Schritt für Schritt, Tritt für Tritt. Gar nichts denken wollen. Auf einmal sind wir oben.«

Diese Antwort machte die Frau traurig. »Wir können uns den Weg doch verschönern. Überhaupt könnten wir uns das Leben leichter machen«, flehte sie leise vor sich hin. Sie wusste nicht, ob er es hörte. Aber sie wusste, er wollte es nicht hören. Ihm genügte es vorwärtszukommen.

Lange vor ihr erklomm er den Gipfel, ruhte sich aus und schaute in stiller Freude in die Ferne.

Die Frau kam völlig erschöpft an und konnte die Aussicht kaum genießen. Bald strebten sie wieder hinunter ins Tal, auf ihr gemeinsames Haus zu.

Schon am gleichen Abend sah sie den Mann am Fenster stehen und den Berg daneben bestaunen.

»Willst du auch ihn bezwingen?", fragte sie verwirrt.

Er nickte: »Ich gehe allein. Ich will sehen, wie weit der Blick von oben reicht.«

Und die Frau musste ihn ziehen lassen, wiewohl ihr nicht danach war.

Als er zurückkam, leuchteten in seinen Augen all die schneebedeckten Gipfel, die er rundum gesehen hatte. Sie lockten ihn mit einem mächtigen Zauber, und sein Bezwinger-Hunger war noch größer geworden.

Die Frau blieb weiter zu Hause, denn Kinder stellten sich ein und umspielten sie. Es war eine unendliche Freude, sie wachsen zu sehen und ihr Lernen zu begleiten. Doch der Mann wurde ihr fremd. Erschöpft kehrte er von seinen Bergen zurück und wollte nur umsorgt werden.

Ob er überhaupt etwas zu erzählen weiß?, dachte sie manchmal. Welche Spuren haben die langen Wege in ihm gezeichnet? Speichert er Bilder in seinem Inneren von diesen majestätischen Rundblicken? Schöpft er daraus seine Kraft?

Manchmal klang von einem Berg herunter ein fröhliches »Haaallo«, und ein vielfaches Echo antwortete. Doch ihren Namen rief er nie. Sie hätte ihn gern aus seinem Mund gehört und ihn im Herzen widerhallen lassen. Weit weg war er, so weit.

Wenn der Bach im Tal nicht gewesen wäre, sie wäre verdurstet. Doch an ihm wanderte sie entlang hin zur Quelle. Dort lauschte sie dem munteren Plätschern, bis sie angefüllt war mit neuer Energie. An den Bachrändern pflanzte sie Weidenbüsche. Um das Haus legte sie einen großen Garten an. Tag für Tag bereitete sie Mahlzeiten zu und freute sich daran, wie ihre gemeinsamen Kinder sich energievoll dem Leben entgegenstreckten.

Auch Freunde stellten sich ein und blieben gerne. An die Quelle stellte sie eine Ruhebank. Dort erwartete sie seine Rückkehr. Sobald sie ihn winkend beim Abstieg sah, eilte sie nach Hause, um ihn mit einem kräftigenden Mahl zu empfangen.

 

In der Welt war der Mann sehr angesehen. Die Menschen nannten ihn Bergbezwinger und bewunderten seine Ausdauer und sein Können. Er genoss seinen Ruf, aber er heftete ihn nicht ans Revers.

Eines Tages fasste sich die Frau ein Herz und fragte ihn geradeheraus: »Kannst du mir sagen, warum dich ein Aufstieg lockt, auch wenn er noch so kraftraubend ist? Warum willst du jeden Berg erklimmen, der sich vor dir auftürmt?«

»Es liegt in der Natur der Sache«, antwortete er ruhig, »erst wenn ich oben war, weiß ich, ob es sich gelohnt hat.«

Und sie verstand. Ihr Lebensauftrag blieb das Hegen und Pflegen, auch wenn sie es nicht gewählt hatte. Er eroberte sich die Welt und machte sich bekannt. Dabei wurden beide alt. Alt, müde und grau.

Eines Tages brachte der Mann in seinem Hut ein Edelweiß nach Hause und pflanzte es in die Gartenmauer. Sie sah ihm in die Augen und sah, sie glänzten frei. Keine Bergspitze blinkte mehr in ihnen. Er war in sich zur Ruhe gekommen.

Jetzt saßen sie oft gemeinsam an der Quelle im Tal, und ihre Herzen schwangen ineinander. Mal zitterten sie traurig ob all der nicht gelebten Möglichkeiten, mal hüpften sie freudig ob all des wundervollen Lebensglücks.

Ihre Kinder hatten ihren Platz in der Welt gefunden. Die Freunde waren ihnen geblieben. Sie spürten sich eins mit der Natur und verweilten dankbar in ihr.

Die Ruhe der Berge hatte sich in dem Mann eingegraben, ja, er war selbst wie ein Berg geworden – voll innerer Kraft. Bei der Frau hatte sich das quirlige Murmeln ausgeprägt. So viel gab es zu erzählen. Jetzt konnte sie es mit ihm teilen.

Die Tage flossen dahin. Alles war gut.

Jahre später suchten Leute nach ihnen. An ihrem Platz fanden sie einen grün bewachsenen Hausberg, einen, wie es ihn in dieser Gegend oft gab. Nur hier ward noch nie einer verzeichnet gewesen.

Und was noch verwunderlicher war: Um den Berg herum schlängelte sich ein Bach, der so melodisch gurgelte, als erzähle er eine Geschichte.


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