Der Geburtstagskuchen, Heimweh, das verflixte Kleid

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Der Geburtstagskuchen, Heimweh, das verflixte Kleid
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HELEN BRAASCH

DER GEBURTSTAGSKUCHEN, HEIMWEH, DAS VERFLIXTE KLEID

... und andere Kindheitserinnerungen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2017

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Die verhexte Drei und Lieschen

Eigensinn

Militärmusik

Misserfolge zu Schulbeginn

Die Bombe

Die Kapitulation

Der Geburtstagskuchen

Meine Puppe Inge

Heimweh

Klassenkeile

Die Ohrfeige in der Kirche

Seltsame Erlebnisse

Das verflixte Kleid

So ein Mathe-Spaß

Furcht und Angst

DIE VERHEXTE DREI UND LIESCHEN

Es ist eigentümlich, dass es oft scheinbar unwesentliche Dinge sind, die von frühester Kindheit an im Gedächtnis haften. Wenn die Kinderseele intensiv betroffen war, wenn existentielle Dinge an den Grundmauern des eigenen Seins rüttelten, blieben manche Erlebnisse über Jahrzehnte wach. Meine frühesten Erinnerungen betreffen die Aussprache der Kombination d-r in dem Wort ‚drei‘ und den Verlust meines Teddys.

Meine Eltern bemühten sich während meines dritten Lebensjahres lange Zeit vergeblich, mir die korrekte Aussprache des Zahlwortes ‚drei‘ beizubringen. Mit Geduld und nicht ohne Tücke sprachen sie mir das Wort vor. Dabei veränderten sie den Namen meines Spielkameraden André in die gewünschte Richtung und glaubten, mich so überlisten zu können. Ich hatte keine Schwierigkeiten, den Namen André richtig auszusprechen. Und die List klappte: ich sagte auch richtig ‚Andrei‘. Sobald ich aber das An- wegließ und nach dem Geheiß meiner Eltern nun ‚drei‘ sagen sollte, wurde daraus wieder ein ‚krei‘. Und ich gab mir wirklich Mühe. Am liebsten hätte ich bei jedem vergeblichen Versuch geheult. Ich rannte dann wütend in der Küche herum und stieß mich mitunter an die Ecken des Küchentisches, woraufhin mein besorgter Vater die Ecken absägte und rundete.

Es mögen wohl die ersten Anzeichen meines Ehrgeizes gewesen sein, dass ich es nun ganz allein probierte, ja regelrecht trainierte. „Eins, zwei, krei; André, Andrei, krei.“ Es wollte und wollte nicht besser gelingen. Und immer wieder wurde ich getadelt, wenn ich die verhexte Drei falsch aussprach. Der Tadel saß tief. Ich übte wohl wochenlang. Eines Tages, ich sehe mich noch ganz genau mit baumelnden Beinen auf dem Küchenstuhl zwischen Tisch und Gaskocher sitzen, war ich wieder am Üben. Und plötzlich kamen die Worte richtig über meine Lippen: „André, Andrei, drei.“ Es hatte geklappt, hurra! Ich rannte zu meiner Mutter und berichtete ihr jubelnd davon, und diese rief umgehend den Vater. Der schaute mich glücklich an und hob mich hoch. Es war so etwas wie ein Familienereignis! Ich war sehr stolz und wurde ordentlich gelobt. Noch heute spüre ich einen Hauch dieses Gefühls, wenn ich daran denke. Ein bisschen Angst hatte ich, ob das mit der Drei nun auch immer klappen könnte. Die verhexte Drei kam jedoch nicht zurück.

Nicht weniger einschneidend war der Verlust meines Teddys, genannt Lieschen. Ich bin mir nicht sicher, ob Mutter und Großmutter, die diese Episode wiederholt erzählten, nicht meine Erinnerung daran mitprägten. Das scheint umso wahrscheinlicher, weil ich mich nicht mehr genau an das Aussehen des ursprünglichen, verloren gegangenen Teddys erinnern kann. Ich hatte die Angewohnheit, alles Mögliche aus meinem Sportwagen hinauszuwerfen. Nun sagt man ja, die Kinder erproben damit ihr Raumempfinden. Bei mir ging es aber offensichtlich zu weit. Es machte einfach Spaß, die Dinge in hohem Bogen wegzuwerfen, und Mama holte sie dann wieder, wenn auch unter Protest. Nur, dass es mit dem Wiederholen nicht immer klappte. Auf diese Weise hatte ich schon den Verlust meines Nuckels zu beklagen, der zu meinem Leidwesen und trotz meines Geschreis nicht durch einen anderen ersetzt wurde. Was blieb mir anderes übrig, als mich damit abzufinden?

Unter meinen Spielsachen liebte ich am meisten meinen Teddy Lieschen. Der Name Lieschen war für mich nicht nur allgemein der Inbegriff für einen Teddy, sondern Lieschen war auch der Gegenstand meiner ganzen kindlichen Liebe zu einem Spielzeug. Ich hatte nur diesen einen Teddy und nicht zehn oder mehr Plüschtiere, wie das heute manchmal bei Kindern der Fall ist. Lieschen begleitete mich überall hin, was auf zahlreichen Kinderfotos dokumentiert ist. Lieschen schlief auch mit mir und teilte Freude und Leid. Aber eines Tages war Lieschen verschwunden. Auf dem Weg zu unserem Garten, den wir so häufig gingen, hatte ich das kleine Kuscheltier aus dem Sportwagen gespielt, und keiner hatte es bemerkt. Auf mein Drängen hin machte sich meine Mutter mit mir im Kinderwagen auf, den Teddy zu suchen. Wir suchten auf den staubigen Wegen zwischen den Gärten, wir suchten noch weiter zwischen den Häusern bis zur Haltestelle der Straßenbahn. Aber der Weg zurück war umsonst. Lieschen blieb verschwunden.

In den Jammer um den Verlust meines Lieblings mischte sich die Reue. Ich weinte lange und bitterlich. Immer wieder plagte mich die Vorstellung, was mit Lieschen geschehen sein konnte. Ein Auto könnte es überfahren haben, andere Kinder könnten es gefunden und mitgenommen haben. Möglicherweise waren sie nicht lieb zu ihm. Viele Eindrücke aus dem Kindesalter hinterlassen Spuren. Die Trauer um den verlorenen Teddy war ungeheuer nachhaltig für mich und hatte sicher eine Auswirkung auf mein späteres Verhalten bei der Betreuung meiner Puppen und vielleicht sogar meiner Kinder. Ich bekam auch nicht gleich wieder einen Ersatzteddy. Keiner sagte: „Ist nicht so schlimm. Wir kaufen dir einen neuen Teddy.“ Ich musste es aushalten, so bitter es für mich war. Trotzdem, immer fehlte mir etwas. Sommer und Herbst gingen dahin; ich hatte keinen Teddy mehr. Der treue Begleiter, der wortlos alle Freude und alle Unbill mit mir geteilt hatte, war und blieb verschwunden. Es wurde Weihnachten, und meine Eltern riefen mich zur Bescherung. In alter Familientradition wurde dieser Moment vom Scheppern einer echten Kuhglocke eingeläutet. Die Stubentür öffnete sich, und die Lichter am Weihnachtsbaum spiegelten sich in meinen Augen wider. Der Leser kann sich wohl kaum vorstellen, welch ungeheure Freude ich empfand, als ich auf dem Weihnachtstisch ein Lieschen entdeckte. Und das Unglaubliche war, die Erwachsenen konnten mir weismachen, es sei ‚mein Lieschen‘.

Ich habe den kleinen Bären über viele Jahre geliebt und mit größter Sorgfalt behütet. Noch als junges Mädchen weinte ich meinen Kummer in seinen Pelz. Mit der Zeit wurde er ganz unansehnlich und hatte kaum noch Fell, aber noch heute bewahre ich ihn auf. Es bedeutet für mich eine ganz besondere Art der Anerkennung für eine Person, die ich würdig befinde, ihr meinen Teddy, den größten Schatz meiner Kindheit, zu zeigen. Niemand darf sich über ihn lustig machen. Nicht das Äußere macht den Wert eines Gegenstandes aus, sondern die Erinnerung, die man mit ihm verbindet, die Zeit, die man mit ihm verbracht hat und die Liebe, die ihn umgab.

EIGENSINN

Die Geduld meiner Eltern wurde manchmal auf eine harte Probe gestellt. Ich erinnere mich an so manches Vorkommnis. Als ich noch nicht zur Schule ging und meine Mutter einmal den ganzen Tag im hofseitig gelegenen Waschhaus zubrachte, war ich sehr unzufrieden. Meine Mutter kochte die Bettwäsche und die Handtücher in einem großen kohlebeheizten Wasserkessel, rubbelte sie dann über einem Waschbrett sauber, spülte sie in großen hölzernen Wannen und drehte sie letztendlich durch eine kleine Mangel, um sie anschließend auf dem Hof aufzuhängen. Danach wurde die Buntwäsche bearbeitet. Diese ganze Prozedur mit der angesammelten Schmutzwäsche dauerte meistens drei Tage lang. Ich fühlte mich in dieser Zeit oft sehr vernachlässigt, obwohl mein Vater daheim war. Aber Vati war eben nicht Mutti.

 

An einem solchen Tage sah ich morgens vom Fenster aus schon die Kinder auf dem Hof spielen, aber niemand kämmte meine langen blonden Haare, damit ich hinuntergehen konnte. Meist steckte mir meine Mutter eine sogenannte Rolle aus meinen Haaren auf den Kopf. Das war für mich zu schwierig, und auch mein Vater war darin nicht geübt. In meiner Ungeduld kam mir eine Idee. Ich setzte kurzerhand eine Baskenmütze auf, um mein Ungekämmtsein zu verbergen. Aber oh weh, ich konnte die Haare nicht bändigen. Überall drängelten sie aus der Mütze heraus. Hier musste Abhilfe her. Ich nahm kurzerhand heimlich eine Schere und schnitt alle Haare ab, die aus der Mütze herausschauten. Als das vollbracht war, kam ich mir hoffähig vor und zögerte nicht, die Treppen hinunterzurennen.

Im Hof angekommen, ging ich zuerst zu meiner Mutter. Das Waschhaus hatte stets eine große Anziehungskraft für uns Kinder. In einer Ecke des Hofes war es gelegen, und ein paar Stufen führten zu ihm hinab. Wenn es nicht belegt war, konnte man unten an der Treppe auch ganz versteckt spielen. Als wir größer waren, kletterten wir auf das Dach des Waschhauses und sprangen von dort in den Nachbarhof. Es war ein Tag im Sommer und recht warm, und meine Mutter wunderte sich sehr, dass ich eine Mütze aufhatte. Sie forderte mich auf, diese abzunehmen. Ich weigerte mich. Sie aber zog mir die Mütze kurzerhand vom Kopf und sah mit Schrecken die Bescherung. Ich muss mit dem verwüsteten Haar fürchterlich ausgesehen haben. In ihrem Entsetzen nahm mich die Mutter bei der Hand, zog mich die Treppen zu unserer Wohnung hinauf und forderte wütend meinen Vater auf, mit mir sofort zum Friseur zu gehen. Der wagte im Gegensatz zu seiner sonstigen Haltung keinen Widerspruch. Auf dem Weg dahin an der Hand meines gewöhnlich nicht allzu strengen Vaters und auf dem Friseurstuhl stand ich schreckliche Ängste aus. Ich fürchtete mich vor dem Friseur, der mit seiner Schere herumfuchtelte. Als er fertig war, hatte ich eine Kurzhaarfrisur. Auf unserem Hof angekommen, lachten mich meine Spielgefährten aus. Es war mir schrecklich peinlich. Am liebsten wäre ich in die Wohnung gegangen statt auf dem Hof zu spielen. Dennoch blieb ich, und bald hatten sich die Kinder an meine neue Frisur gewöhnt, während ich selbst noch lange darüber unglücklich war.

Mit der Wäsche einer Hausbewohnerin hatte ich an einem anderen Tag dieses Sommers noch ein weiteres unangenehmes Erlebnis. Die Frau hatte ihre frisch gewaschene Bettwäsche, die Handtücher und vieles mehr bereits sorgfältig aufgehängt. Da an jenem Tage niemand zum Spielen auf dem Hof war und ich mich langweilte, spielte ich mit ihrer Wäsche. Ich rannte unter den aufgehängten Stücken herum und stieß sie an. Wie schön sie baumelten! Mein Schreck war jedoch riesengroß, als ich bemerkte, dass plötzlich mehrere Wäschestücke herabgefallen waren und nun im Schmutz lagen. Was tun? Die Angst vor der betroffenen Frau saß mir im Nacken. Ich rannte so schnell ich konnte die Treppen zu unserer Wohnung hinauf und sagte zu meiner Mutter, ich sei schrecklich müde und wolle sofort Mittagsschlaf halten. Sie hielt dagegen, wir hätten ja noch nicht einmal Mittag gegessen. Ich aber bestand darauf, vorher zu schlafen, weil ich angeblich unglaublich müde sei. Als ich bereits ein Weilchen im Bett gelegen hatte, klingelte es an unserer Tür. Die Mitbewohnerin wollte mich sprechen. Da meine Mutter aber sagte, ich halte gerade Mittagsschlaf, informierte sie meine Mutter, dass ich ihre gewaschene Wäsche in den Schmutz befördert hatte. Ich hörte alles mit. Wie gut, dass ich in meinem sicheren Bett lag! Da blieb ich noch ein Weilchen. Der späteren Schelte durch meine Eltern bin ich dadurch natürlich nicht entgangen. An diesem Tag durfte ich nicht mehr draußen spielen.

Und noch ein anderes Beispiel meines Eigensinns. Dazu muss ich die Umstände etwas erläutern. In unseren Küchen befanden sich Kohleherde, in unseren Wohnzimmern Berliner Kachelöfen. Die Kohleherde wurden täglich zum Kochen mit Holz und Kohle befeuert. Unter den Herdplatten neben dem Feuer hatten sie auch eine Backröhre, und der Kuchen gelang darin nicht schlechter als in den heutigen Gas- und Elektroherden. Die Berliner Kachelöfen wurden nur in der kalten Jahreszeit beheizt. Sie strömten dann über den gesamten Tag eine wohlige Wärme aus. Besonders im Winter schleppten wir täglich mehrere Eimer der in den Kellern gebunkerten Briketts die Treppen hinauf. Beim Feuern entstand natürlich auch Asche, und diese musste wieder hinab befördert werden. Auf dem Hof befand sich eine im Boden eingelassene Aschengrube, in die alle Bewohner ihre Asche schütteten. Die Grube war durch eine große Metallplatte abgedeckt, die man ohne Weiteres betreten konnte. Diese Platte hatte zwei Öffnungen mit Deckeln, die beim Einfüllen der Asche aus den Haushalten aufgeklappt wurden. In mehr oder weniger regelmäßigen Abständen kam ein großes Auto, und spezielle Arbeiter leerten die Aschengrube. Nun begab es sich manchmal, dass diese nicht pünktlich geleert wurde. Wohin sollte man mit der Asche? Also immer oben drauf, und mit der Zeit wuchs ein Aschenberg auf der Aschengrube in unserem Hof. Wenn dann der Wind kam, wurde die Asche über den Hof gewirbelt. Wäscheaufhängen war zu diesem Zeitpunkt unmöglich. Aber es ergab sich noch ein anderer Effekt. Häufig war die ausgeschüttete Asche heiß, ja sogar glühend, und hier setzte mein nächstes Abenteuer an.

In der glühenden Asche ließ sich prima mit Puppentöpfen kochen. Wir Kinder füllten etwas Asche und Wasser in die Töpfchen, stellten sie in die heiße Asche und rührten kräftig, bis die ‚Mahlzeit‘ kochte. Da wir normalerweise noch nicht kochen konnten und durften, war das faszinierend. Die Puppen erhielten so ein warmes Essen. Es war natürlich nicht ganz ungefährlich, denn auf der Suche nach der heißesten Stelle im Aschenberg standen wir selbst in der Asche. Nicht nur, dass wir danach von oben bis unten grau aussahen, wir konnten im schlimmsten Fall auch in die Aschengrube hineinrutschen oder anbrennen. Glücklicherweise geschah das nie, aber es war der Ansatzpunkt unserer Eltern, das Aschenkochen zu verbieten. Verbote fördern bekanntlich die Begierde. Ich kann mich noch genau erinnern, dass ich regelrecht süchtig danach war, in der Asche zu spielen. Und so schlich ich mich mit meinen Töpfchen eines Tages aus der Wohnung, um entgegen allen Verboten in der Asche zu kochen. Eine Weile ging es gut, und ich freute mich daran. Meine Eltern konnten vom Fenster aus die Aschengrube nicht sehen. Vielleicht hatten andere Hausbewohner gepetzt. Plötzlich erschien meine Mutter, schimpfte schrecklich und beorderte mich in die Wohnung. Alle Tränen nützten nichts. Das Resultat meiner Aschensucht: Ich erhielt drei Tage Stubenarrest. Es war schrecklich für mich, und ich habe danach nie wieder in der Asche gekocht.

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