Sterbehilfe

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UTB 3006









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Katharina Woellert M. A., wiss. Mitarbeiterin, und Prof. Dr. Heinz-Peter Schmiedebach, Direktor, beide am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Hamburg




Lektorat/Redaktion im Auftrag des Ernst Reinhardt Verlags: Vera Rahner, Freiburg/Br.






Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek




Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

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> abrufbar.



eISBN 978-3-8463-3006-7




© 2008 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München




Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.




Reihenkonzept und Umschlagentwurf: Alexandra Brand

Umschlagumsetzung: Atelier Reichert, Stuttgart

ISBN 978-3-8463-3006-7 (UTB-Bestellnummer E-Book)




Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net:

www.reinhardt-verlag.de

 E-Mail: info@reinhardt-verlag.de




Inhaltsverzeichnis



Titel


Impressum


Danksagung


Einführung


1 - Sterben und Tod – grundsätzliche und historische Aspekte


2 - Begriffsverwendung


3 - Die Rechtslagee zur Sterbehilfe


4 - Würde und Selbstbestimmung


5 - Patientenautonomie in der Praxis und deren Umsetzungsprobleme


6 - Öffentlichkeit, Meinungsbildung und Entscheidungsfindung


7 - Therapien am Lebensende: Palliativmedizin und Hospiz


8 - Fazit


Anhang


Sachregister






Danksagung



Für die Hilfe bei der Überarbeitung des Manuskriptes danken wir Nicolas von Allwörden und Donia Oroumchi, für den juristischen Sachverstand Dr. Kai Woellert und Merve-Maria Woellert.





Einführung




Sterben und Tod sind Themen, denen die meisten Menschen mit Ambivalenz begegnen. Einerseits meidet man das Thema. Vielen fällt es schwer, die Endlichkeit des Lebens zu begreifen. Oft wird zudem befürchtet, dass das Sterben mit großer Qual verbunden sein könnte. Auch die Vorstellung, den Verlust einer nahe stehenden Person zu erleiden, bereitet den meisten Unbehagen. Sterben und Tod sind deswegen oftmals unansprechbare Themen. Andererseits wird in Deutschland derzeit in Medien und Politik intensiv über das Sterben debattiert, und zwar im Zusammenhang mit einer selbstbestimmten Gestaltung des Sterbeprozesses und der dabei erforderlichen Unterstützung durch Ärzte, Pflegende und Angehörige: Man diskutiert über die Gültigkeit eines im Vorhinein verfügten Behandlungswillens, über die Rechtmäßigkeit des Behandlungsabbruchs angesichts schwerer Erkrankung und darüber, ob die Tötung von sterbenskranken Menschen auf deren Willen hin nicht ein ethisches Erfordernis sei. Die Auseinandersetzung um Tod und Sterben wird also paradoxerweise gleichzeitig gemieden wie auch geführt.




Die Gründe für dieses eigenartige Phänomen sind vielgestaltig. Sie liegen teilweise in der seit gut zweihundert Jahren voranschreitenden Säkularisierung und dem Verbreiten naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, die den christlichen Glauben an das Jenseits brüchig gemacht haben. Damit kann die Vorstellung von einem Leben nach dem Tod, was im Zusammenhang von Tod und Sterben auch Trost und Angstfreiheit bedeuten kann, nicht mehr unhinterfragt aufrechterhalten werden. Doch dies allein erklärt nicht die spezifische Befindlichkeit unserer Tage.



Jüngeren Datums sind dagegen Neuerungen innerhalb der Medizin, wie die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte künstliche Beatmung, die Herz-Lungen-Maschine und andere für eine Intensivmedizin typische Errungenschaften (Schellong 1990). Diese technischen und medizinischen Veränderungen verwischten die Grenzen zwischen Tod und Leben und führten dazu, dass Menschen in Situationen am Leben erhalten werden können, die vorher unweigerlich zum Tode geführt hätten. Allerdings werden dabei mitunter Zustände erreicht, in denen bestimmte Eigenschaften, die wir unweigerlich mit dem Leben verbinden, nicht mehr oder nur in sehr rudimentärer Form gegeben sind. Die Medizintechnik verlängert einerseits also Leben, provoziert aber auf der anderen Seite Überlegungen, ob „ein solches Leben noch lebenswert sei“ – und schafft so eine neue Konfliktsituation.



Die letzte Lebensphase wird seither anders betrachtet. Aus ethischer Perspektive stellt sich eine neue Problemlage: Es scheint so, als erzeuge die Intensivmedizin in manchen Fällen am Lebensende, anstatt zu helfen, eher weiteres Leid, was eigentlich mit medizinethischen und anderen moralischen Grundsätzen nicht vereinbar ist. Heute muss oftmals entschieden werden, ob und wann eine medizinische Maßnahme nicht mehr durchgeführt wird. Aber daraus ergibt sich eine Reihe neuer Fragen:



• Wer soll dies entscheiden?



• Welche Kriterien sollen bei einer solchen Entscheidung angewandt werden?



• Wer kann beurteilen, was Lebensqualität im ganz konkreten Fall für die betreffende Person bedeutet?



• Wer von den möglicherweise in die Entscheidungsfindung einbezogenen Personen bringt welche eigenen, mitunter moralisch umstrittenen, Interessen in diese Findungsversuche mit ein?



• Welche sonstigen Gemeinschaftsinteressen, wie z. B. eine kostenintensive Behandlung am Lebensende eines 80-jährigen Patienten, werden hier aktuell?



• Ist eine solche Behandlung zu rechtfertigen, wenn dadurch Ressourcen, die sonst jemanden mit größeren Heilungschancen zur Verfügung stünden, gebunden werden?



Diese und andere Fragen werden derzeitig in der Debatte über Rechtmäßigkeit und Stellenwert von Sterbehilfe und Patientenverfügungen thematisiert. Die Notwendigkeit dieser Debatte wird häufig auf die heutige, pluralistische Wertegesellschaft zurückgeführt (Neitzke / Frewer 2005), in der der Orientierungsrahmen für das sittlich Gute sehr weit gefasst ist. Für Entscheidungen über richtiges oder falsches Handeln angesichts Sterben und Tod gibt es scheinbar keine allgemein verbindlichen und eindeutigen Kriterien mehr. Gleichzeitig gewann aber in den letzten dreißig Jahren die Wertschätzung der individuellen Autonomie zunehmend an Bedeutung, während die paternalistische ärztliche Fürsorge ihre Berechtigung weitestgehend einbüßte. Parallel zum Bedeutungsverlust der traditionellen – und vor allem christlich geprägten – Werte wurde das Kriterium der Selbstbestimmheit somit zu einem wesentlichen Orientierungspunkt und zu einer wichtigen Entscheidungshilfe.



Aber auch das Bewusstsein für ethisch komplexe und konfliktträchtige Situationen in der medizinischen und pflegerischen Versorgung nahm sowohl auf Seiten der Patienten wie auch auf Seiten von Ärzten und Pflegenden zu. Die Veränderungen im Gesundheitswesen, die Umstrukturierungen in den Krankenhäusern verbunden mit neuen Aufgaben und Arbeitsintensivierungen und damit die Konfrontation mit bislang vernachlässigten Fragen werden von vielen Beschäftigten als Belastungen empfunden, mit erheblichen körperlichen und seelischen Folgen – bis hin zum Burnout. Ähnliches gilt für Angehörige sowie für ehrenamtliche Sterbe- und Trauerbegleiter. Vor diesem Hintergrund lassen sich zwei neue Entwicklungen im Bereich der medizinischen Berufe erklären: das wachsende Bedürfnis nach professioneller Entscheidungshilfe in medizinisch-klinischen Konfliktsituationen und die vor allem von Ärzten empfundene Rechtsunsicherheit in den angesprochenen Situationen, die u. a. Ursache für die Forderungen nach einer gesetzlichen Regelung der Sterbhilfe ist.

 



Ebenfalls neu ist, dass Medizin- und Pflegeethik zunehmend Gegenstand von Studium und Ausbildung im Bereich der medizinischen Berufe werden. Der gewachsene Stellenwert der Ethik kommt dadurch zum Ausdruck, doch befindet sich diese Entwicklung meistenteils erst am Anfang.



Mit der Vermittlung von ethischen Inhalten möchte man die Kompetenz im Umgang mit den aufgeworfenen Fragen erhöhen. Was aber ist Ethik, was kann sie leisten? Der Begriff Ethik stammt von dem griechischen Wort „ethos“ ab, welches Gewohnheit, Sitte oder Brauch bedeutet. Darin ähnelt es dem von dem lateinischen Ausdruck „mos“ abgeleiteten Wort Moral. Beide – Ethos und Moral – beziehen sich also auf die in einer Gesellschaft als richtig anerkannten Regeln, Normen und Werte. Beide Begriffe werden deshalb auch oft synonym gebraucht. Ethik aber ist mehr. Sie setzt sich kritisch mit der Herleitung und Legitimation sittlicher Leitsätze auseinander, sie versucht, Lösungen aufzuzeigen, wenn zwei als gut anerkannte Prinzipien in einen Widerspruch geraten. Es handelt sich dabei um eine ureigene philosophische oder auch wissenschaftliche Herangehensweise. Im Gegensatz dazu weicht das Adjektiv ethisch von dieser Unterscheidung im allgemeinen Sprachgebrauch ab und bezeichnet das, was gemeinhin als gut und sittlich gilt. Sittlichkeit wiederum ist ein anderer Ausdruck für das moralisch Richtige.



Die grundsätzliche Frage, wie Sittlichkeit zu begründen ist, lässt sich auf zweierlei Weise beantworten. Man kann von Werten ausgehen, die, ähnlich den Naturgesetzen, der Welt innewohnen und für alle Menschen und Lebewesen absolute Gültigkeit haben; im religiösen Sinne kann man diese als gottgegeben auffassen. Oder man begreift sie als Ergebnis einer mehr oder weniger bewussten Übereinkunft innerhalb einer Gesellschaft. Wir gehen davon aus, dass die Vorstellungen vom sittlich richtigen Handeln z. B. im Zusammenhang mit Sterben und Tod Ergebnis einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung um Werte sind.



Darüber hinaus ist zu fragen, woran sich das Urteil über moralisch richtig der falsch orientiert. So kann man z. B. die Folgen einer Handlung (teleologischer Ansatz) oder die ihr zu Grunde liegenden Moralprinzipien (deontologischer Ansatz) als Anhaltspunkte für die Beurteilung einer Tat bemühen. Das kann im konkreten Fall einen großen Unterschied ausmachen. Bei Anerkennung von Würde und Selbstbestimmung als hohe moralische Güter ließe sich im teleologischen Sinne abwägen, ob die Tötung eines schwerst kranken Menschen auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin das Ziel erreicht, seine Würde und Selbstbestimmung zu wahren; wenn ja, wäre die Tötung dieses Menschen entsprechend zu rechtfertigen. – Aus deontologischer Perspektive kann sich dieser Fall ganz anders darstellen. Ein weithin anerkannter Grundsatz, der ganz besonders für die Personen, die in der Versorgung von Kranken beschäftigten sind, Gültigkeit hat, lautet: „Du sollst nicht töten. “ Im deontologischen Sinne ist damit eine Tötung nicht zu rechtfertigen. Es ist also möglich, dass zwei anerkannte sittliche Prinzipien in einen Widerspruch geraten und die Beurteilung einer Handlung, je nach Auswahl des Prinzips, sehr unterschiedlich ausfällt.




Das vorliegende Buch bietet eine erste Orientierungshilfe zum großen Themenkomplex der ethischen und rechtlichen Aspekte der Sterbebegleitung und Sterbehilfe. Die mittlerweile kaum mehr überschaubare Fülle an Literatur zu diesem Thema richtet sich teils an Laien und teils an medizinische bzw. ethische Fachleute. Sie behandelt sowohl einzelne Aspekte als auch den gesamten Komplex Sterbehilfe. Im Unterschied zu diesen Publikationen informiert die vorliegende Schrift überblicksartig über Fakten und skizziert die verschiedenen in der aktuellen Diskussion geäußerten Positionen.



In der Darstellung gehen wir folgendermaßen vor: Einleitend werden wir den Stellenwert von Sterben und Tod in der heutigen Gesellschaft thematisieren (Kapitel 1). Im Anschluss geht es um die Definitionen und Erörterung der wichtigsten Begriffe zum Thema sowie um Vorschläge zu einer alternativen Terminologie (Kapitel 2). Es folgt ein Überblick über die Rechtslage zur Sterbehilfe – in Deutschland sowie im europäischen Ausland (Kapitel 3). Sodann thematisieren wir die Bedeutung von Würde und Selbstbestimmung, derjenigen Werte also, denen im Kontext von Sterbesituationen eine herausragende Bedeutung zukommt (Kapitel 4). Im Anschluss stellen wir verschiedene Instrumente vor, die die Patientenautonomie in der ärztlichen und pflegerischen Praxis sichern sollen (Kapitel 5). Das nächste Kapitel erörtert den Zusammenhang zwischen öffentlicher Debatte und individueller Betroffenheit im Bereich Sterbehilfe. Hier werden wir zudem Instrumente vorstellen, die dabei helfen sollen, mögliche Konflikte im Entscheidungsprozess zu regeln (Kapitel 6). Abschließend gehen wir auf Palliativmedizin und Hospize ein, die zu einem Sterben in Würde beitragen sollen (Kapitel 7).



Wir richten uns an einen breiten Leserkreis: an Studierende unterschiedlicher Fachrichtungen, an Auszubildende der verschiedenen Pflegeberufe, an Ärzte und Pflegende, an die Ehrenamtlichen in der Palliativversorgung und Sterbebegleitung sowie an allgemein am Thema Interessierte. Vor allem aber soll diese Einführung Betroffene und deren Angehörige erreichen.



Mit dem Ziel einer besseren Verständlichkeit verwenden wir im Folgenden nur die männliche Form als verallgemeinernden Oberbegriff.





Literatur



Pöltner 2002





1



Sterben und Tod – grundsätzliche und historische Aspekte




Will man die ethische und rechtliche Beurteilung von Sterbehilfe erörtern, sind zunächst einige grundsätzliche Überlegungen notwendig. Was verstehen wir unter Tod und Sterben? Der Tod ist der Zustand eines Organismus nach Beendigung des Lebens. Aber wann genau ist das Leben beendet, und wie lässt sich das feststellen? Für den Eintritt des Todes gibt es kein eindeutiges Kriterium. Allerdings können auch Laien nach einer gewissen Zeitspanne zweifelsfrei erkennen, dass ein Mensch tot ist. Gegenwärtig existieren in verschiedenen gesellschaftlichen und professionellen Bereichen verschiedene Definitionen zum Tod.



In der Medizin wird der Tod allgemein als irreversibler Funktionsverlust des Atmungs-, Kreislauf- und Zentralnervensystems beschrieben : Der klinische Tod bedeutet den völligen Kreislaufstillstand, verbunden mit einem Ausfall der Großhirnrindenaktivität, die bei rechtzeitiger Reanimation aber reversibel ist. Ohne Wiederbelebungsversuche kommt es sodann zum Hirntod, welcher den irreversiblen Ausfall sämtlicher Hirnfunktionen bezeichnet. Schließlich spricht man vom biologischen Tod, womit das Aufhören aller Organ- und Zellfunktionen gekennzeichnet ist. Je nach Grad des Funktionsausfalls und der Organbezogenheit gibt es also allein in der Medizin schon verschiedene Begriffe des Todes..




In alltäglichen Zusammenhängen wird der Todesbegriff noch mit ganz anderen Inhalten gefüllt; es kommt zu einer zeitlichen Entkoppelung von physischem und sozialem Tod (Roelcke 2001). Letzterer bezeichnet beispielsweise die Stellung, die ein Mensch als beruflicher oder gesellschaftlicher Funktionsträger, als Familienvater oder als Partner angesichts seines bevorstehenden Todes von seiner Umwelt zugeschrieben bekommt. In übertragener Bedeutung gilt als sozialer Tod auch, wenn ein Mensch aufgrund von Alter, Krankheit oder unrühmlichen Verhaltens seine soziale Stellung einbüßt. In dieser Entkopplung spiegeln sich soziokulturelle Verarbeitungsprozesse wider, im Zuge derer die Lücke, die ein physische Tod oder eine veränderte gesellschaftliche Position bedeuten, gefüllt wird.



Auch Sterben ist nicht so eindeutig zu erfassen, wie es auf den ersten Blick erscheint. Sterben ist ein Prozess, dessen Anfang und Ende medizinisch nicht eindeutig zu bestimmen sind. Deswegen ist es nicht in einem klar umgrenzten Zeitraum zu verorten. Niemand kann mit absoluter Sicherheit sagen, wann bei einer lebensbedrohenden Krankheit der Tod eintritt. Und auch die scheinbar so konkrete Definition des Hirntodes stimmt nicht mit der allgemeinen Wahrnehmung des Sterbens überein (Holthaus 2000). Das Prozesshafte des Sterbens wird besonders an den umgangssprachlichen Bezeichnungen dafür deutlich: Wir sprechen vom „Heimkehren zu Gott“ und davon, dass jemand „von uns geht“ (Fuchs 1969). Sterben bedeutet also Bewegung und Veränderung.




Kernaussage



Tod und Sterben lassen eine allgemein akzeptierte definitorische Eindeutigkeit vermissen. Die Interpretation beider Begriffe geschieht immer aus dem jeweiligen Kontext heraus. Das medizinische Verständnis kann sich somit deutlich vom soziokulturellen unterscheiden.




Weder der Beginn des Sterbens noch der genaue Eintritt des Todes lassen sich also eindeutig bestimmen. Diese Unbestimmtheit steht z. B. im Gegensatz zur gängigen Rechtslage, die vorsieht, dass Sterbehilfe nur dann zur Anwendung gelangen dürfe, wenn der Sterbeprozess unmittelbar bevorsteht oder bereits eingesetzt hat, als ob also bestimmt werden könnte, wann genau das Sterben beginnt (siehe Kapitel 2).



Durch die Fortschritte der Medizin in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird diese Diskrepanz noch verschärft. Mittels Reanimation und Intensivmedizin kann der Zeitpunkt des Eintritts des Todes sehr viel länger herausgezögert werden. So stellt sich heute oftmals die Frage, ob es nicht richtig sei, je nach Einzelfall den Tod zuzulassen, indem auf bestimmte medizinische Maßnahmen verzichtet wird.



Das Sterben wird heute in hohem Maße medizinisch überwacht. Orte des Sterbens sind in Deutschland gegenwärtig mit etwa 90 % vor allem Krankenhäuser sowie Alten- und Pflegeheime; die häufigsten Todesursachen sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebsleiden (Nationaler Ethikrat 2006). Sterben findet also in erster Linie in Institutionen statt, die ihren eigenen Strukturen und Interessen entsprechend mit dem Sterben umgehen, und nicht mehr zu Hause im Kreis von Angehörigen und Freunden. Das hat zur Folge, dass viele Menschen mit Hinblick auf ihr Lebensende besonders die Fremdbestimmtheit und damit verbunden soziale Isolation fürchten.



Diese Gegebenheiten haben auch zu einer Veränderung der überlieferten Sterbe- und Trauerkultur beigetragen. Für privates Miteinander, den eigenen Lebensrhythmus, für Abschiedszeremonien und Aufbahrungskultur bleibt in der institutionellen Umgebung häufig nur wenig Raum (Oduncu 2007). Begräbnisrituale, Sterbeanzeigen, Bestattungsformen, „Leichenschmaus“, Kondolenzbekundungen u. Ä. folgen zwar nach wie vor traditionellen Vorbildern, an denen man sich gleichwohl in unserer westlichen Kultur nicht mehr verbindlich orientieren muss; Wertepluralismus und Säkularisierung bieten einerseits eine Fülle neuer Handlungsoptionen, lösen andererseits aber den zuvor sehr viel enger gefassten Orientierungsrahmen, bestimmt von traditionellen kulturellen und sittlichen Mustern, auf.



Zu den Vorstellungen von Sterben und Tod hat uns die Geschichte viele Zeugnisse überliefert. Die Idee des „guten Todes“ („eu“ = gut, „thanatos“ = Tod – Euthanasie) bezeichnete in der griechischen und römischen Antike einen würdevollen, schmerzfreien und ehrenhaften Tod nach einem vollendeten Leben. Anders als in der Antike war im christlichen Mittelalter der „gute Tod“ vor allem von dem Wunsch nach einem auf das Jenseits vorbereitenden Sterben bestimmt: Das Leben war so zu gestalten, dass es nach Eintritt des Todes der Aufnahme in das christliche Himmelreich diente. Diese „Lebenskunst“ (Ars Vivendi) wurde durch Anweisungen darüber ergänzt, wie das Sterben richtig zu durchleiden und zu begleiten sei (Ars Moriendi). Der Tod war damit immerwährend präsenter Bestandteil des Lebens; Schmerz und Leid galten als gottgewollte Prüfungen (Benzenhöfer 1999; Frewer 2002; Oduncu 2007).




Kernaussage



Der Begriff Euthanasie bedeutet ursprünglich „guter Tod“.




Heutzutage gibt es v. a. vielfach Wünsche und Vorstellungen zur Gestaltung des Sterbens, allen voran den Wunsch nach einem schmerzfreien und würdevollen Tod, der nicht durch das intensivmedizinische Instrumentarium bestimmt ist. Auch Palliativmedizin, die Schmerz und Leid zu lindern sucht, Hospize und integrierte Sterbebegleitung sind gewissermaßen moderne Formen einer Sterbekultur. Beistand im Sterben leisten auch die so genannten Sterbeammen. Wo die Trauerbegleitung zuvor Angehörigen und Seelsorgern vorbehalten war, schafft die Gemengelage von Individualismus, Autonomiebedürfnis, Wertevielfalt und Verlust traditioneller Normen Raum für neue professionelle und ehrenamtliche Betreuungsangebote im Sterbe-, Abschieds- und Trauerprozess.

 




Kernaussage



Der lateinische Ausdruck „ars moriendi“ bedeutet „die Kunst zu sterben“. Er stammt aus dem christlichen Mittelalter und beschrieb jenes Verhalten, welches zu einem gelingenden, „guten Tod“ beitragen sollte. Heute finden sich andere Beispiele für eine bewusste, fürsorgliche und an den individuellen Bedürfnissen des Betroffenen ausgerichtete Sterbekultur.




Seit jeher war der Arzt über seinen Heilauftrag hinaus mit dem sterbenden Patienten und mit dem tödlichen Ausgang einer Krankheit konfrontiert. Eine sehr einschneidende Veränderung im Umgang mit Sterbenden trat mit dem