Reise in der Troas

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Reise in der Troas
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Impressum

Heinrich Schliemann: Reise in der Troas im Mai 1881.

Als E-Book veröffentlicht im heptagon Verlag

© heptagon Verlag 2020

www.heptagon.de

ISBN: 978-3-96024-028-0

Das E-Book folgt der Buchausgabe: Reise in der Troas im Mai 1881. Leipzig 1881. Die Orthografie wurde behutsam an die neue Rechtschreibung angepasst; offensichtliche Fehler im Druck wurden stillschweigend korrigiert.

Table of Contents

1  Impressum

2  Vorwort

3  I. Von der Dardanellenstadt nach Hissarlik

4  II. Von Hissarlik nach Kestambul

5  III. Von Kestambul nach Baba

6  IV. Von Baba nach Assos

7  V. Von Assos nach Papasli

8  VI. Von Papasli nach Adramytteion

9  VII. Von Adramytteion über das Idagebirge

10  VIII. Ersteigung des Gargaros Frühlingsblühende (Februar, März). Herbstblühende (September, Oktober).

11  IX. Von Evjilar nach Buiuk-Bunarbaschi

12  X. Von Buiuk-Bunarbaschi nach Talian-Kioi

13  XI. Von Talian Kioi zurück nach der Dardanellenstadt

14  Karte der Troas

Vorwort

Der vorliegende Bericht meiner Reise in der Troas1 hätte eigentlich meinem letzten Werke »Ilios« beigefügt werden müssen, denn derselbe ergänzt gar viele uns bisher dunkel gebliebenen Punkte der homerischen Geographie und lässt mehrere Theorien zu Boden fallen, die seit Jahrtausenden bestanden haben und bestimmt bisher noch nie angefochten oder angezweifelt worden sind. Derselbe muss ferner das allgemeine Interesse für Hissarlik erhöhen, indem er zeigt, dass es zwischen dem Hellespont, dem Idagebirge, Adramytteion und Cap Lecton nirgends eine Anhäufung vorhistorischer Ruinen gibt, während diese in Hissarlik eine Tiefe von 14 m übersteigt. Die Höhenmessungen sind mit der größten Präzision gemacht und alle auf der Reise berührten Punkte mit der größten Genauigkeit auf der Karte eingetragen, welche ich der ganz besonderen Aufmerksamkeit des Lesers empfehle.

Berlin, im Juli 1881.

Heinrich Schliemann

 1 Dieser Bericht ist ein bedeutend erweiterter Separatabdruck meiner im 8. und 9. Heft von »Unsere Zeit« (Jahrgang 1881) publizierten Artikel.

I. Von der Dardanellenstadt nach Hissarlik

Oft habe ich die Troas besucht; fünf Jahre habe ich dort viele Monate lang ausgegraben, und doch besuche ich sie immer mit Wonne von neuem, denn der Zauber der trojanischen Landschaft ist überall überwältigend, und jeder Berg und jedes Tal, das Meer, der Hellespont und jeder Fluss atmen dort Homer und die Ilias. Diesmal aber war meine Reise in der Troas von ganz besonderem Interesse, denn es war meine Absicht, zu ermitteln: welche andere alte Baustellen, außer Hissarlik, zu archäologischen Forschungen geeignet sind.

Ich verließ am 13. Mai d.J. zu Pferde die Stadt der Dardanellen, in Begleitung eines Dieners, des Eigentümers der Pferde und einer Escorte von zwei Gendarmen, die der Gouverneur der Provinz, da das Land nicht ganz sicher ist, freundlich zu meiner Verfügung gestellt hatte. Die Luftwärme war bei meiner Abreise 26½°C. Aus der Stadt reitend, passierten wir den kleinen Dardanellenfluss, der selbst im heißesten Sommer fließendes Wasser hat und über dessen Identität mit dem Homerischen Rhodios1 wohl kein Zweifel bestehen kann, denn er hatte diesen Namen noch zur Zeit Strabos (XIII, 595), der uns mitteilt: dass seiner Mündung gegenüber, auf dem thrazischen Chersones, das sogenannte χυνὀς σῆμα (Tumulus der Hündin) war, welches für das Grab der Hecuba angesehen wurde, die, der Sage zufolge, nach dem Tode in eine Hündin verwandelt worden ist. In der Tat sieht man, genau an der von Strabo bezeichneten Stelle, einen kleinen kegelförmigen Hügel; aber Frank Calvert, der ihn untersuchte, hat gefunden, dass er aus naturwüchsigem Fels besteht und nur die Gestalt eines Tumulus hat.

Indem wir das Ufer des Hellesponts entlang ritten, kamen wir an einem Tumulus zur Rechten und an einem andern zur Linken vorbei, die noch beide unerforscht sind; darauf passierten wir zur Rechten, auf einer Art Vorgebirge, die Baustelle der äolischen Stadt Dardanos, die oft von Strabo (XIII, 587, 590, 595, 600) erwähnt wird und nicht mit der Homerischen Stadt Dardanie2 zu verwechseln ist. Wie Strabo (XIII, 595) uns erzählt, kamen Cornelius Sylla und Mithridates VI. Eupator hier zusammen, um Frieden zu schließen. Die hier auf meine Veranlassung vom Militärgouverneur der Dardanellen gemachten Ausgrabungen haben ergeben, dass die Schuttaufhäufung nur eine Tiefe von 0,6 bis 0,9 m hat und fast ausschließlich aus Humus besteht, weshalb hier für den Altertumsforscher nichts zu suchen ist.

Darauf passierten wir, auf einer Höhe zur Linken, die Baustelle einer alten Stadt, mit einem noch unerforschten Tumulus, welche Calvert für die alte Stadt Ophryneion hält, wie sie auch auf Spratts Karte der Troas eingetragen ist. Die Baustelle wird aber nur durch einige hellenische Topfscherben und Steinhaufen bezeichnet; man findet dort weder irgendwelche Schuttanhäufung noch eine Spur von Mauern. Außerdem entspricht diese Baustelle durchaus nicht den Angaben Strabos (XIII, 595), der uns sagt: dass nahe bei Ophryneion der Sumpf oder Teich Pteleos ist, der hier jedenfalls nicht existiert. Ein solcher befindet sich aber in einer Entfernung von ungefähr einer halben Meile von hier, neben der jetzt Paläocastron genannten Baustelle, einer alten Stadt, die ich daher eher für Ophryneion halten möchte; dieselbe ist mit hellenischen Topfscherben übersäet, jedoch ist die Schuttaufhäufung dort kaum 0,90 m tief. Wir kamen darauf zum Dorf Ren Kioi (d.h. Farbedorf), welches, nach meinem Barometer, 188,2 m über dem Meere liegt; die Luftwärme war dort 23°C.

Auf dem Wege von dort nach Hissarlik passierten wir den Bach von Ren Kioi, der von keiner Quelle genährt wird und nur bei sehr heftigem Regen Wasser hat; zu jeder andern Zeit ist derselbe vollkommen trocken. Um seine unmögliche Theorie, »das alte Troja habe im Dumbrektale gelegen«, geltend zu machen, erhebt Brentano3 diesen Wasserlauf zum Homerischen Simoeis und gibt ihm auf seiner Karte eine durchaus falsche Lage. Der Lauf dieses Regenbaches ist sowohl auf Spratts als auf Virchows4 Karte vollkommen richtig angegeben. Ich schlug mein Nachtquartier in einem meiner Häuschen auf Hissarlik auf, wo ich mich mit Vergnügen überzeugte, dass meine Gräben, seitdem ich sie im Juni 1879 verließ, keine Veränderung erlitten hatten, da die von mir zum Ablauf des Regenwassers gegrabenen Kanäle vollkommen meiner Absicht entsprochen hatten.

Ich war erstaunt, alle Wände meiner Häuschen, bis zum Dach, mit einer schwarzen Masse, die sich zu bewegen schien, bedeckt zu sehen. Da es aber bei meiner Ankunft dunkel war, so erkannte ich nicht sogleich, was es war. Erst am folgenden Morgen sah ich, dass es Heuschrecken waren, welche in diesem Jahre in der Troas zahlreicher als je zuvor sind und auf den Kornfeldern und Wiesen eine entsetzliche Zerstörung angerichtet haben. Jedoch habe ich niemals ein vollständig von ihnen zerstörtes Kornfeld gesehen; denn nie fressen sie mehr als zwei Drittel oder drei Viertel aller grünen Halme weg und begnügen sich damit, von denen, die sie stehen lassen, nur die Blätter, nicht die Ähren zu verzehren. Gras scheinen sie jedenfalls dem Korn vorzuziehen; denn oft passierte ich auf meiner Reise große Landstrecken, auf denen sie buchstäblich nicht einen Grashalm stehen gelassen hatten.

Die Temperatur war in Hissarlik am 14. Mai, um 8 Uhr morgens, 17½°C.

 1 Ilias, XII, 20.

 2 Ilias, XX, 216.

 3 »Ilion im Dumbrektale« (Stuttgart 1881).

 4 »Beiträge zur Landeskunde der Troas« (Berlin 1880).

II. Von Hissarlik nach Kestambul

Wir nahmen den Weg über Kalifatli und Ujek Kioi, welches letztere, nach meinem Barometer, 86,6 m über dem Meere liegt; die Luftwärme war dort 18°C. Das Wasser im Scamander hatte bei unserm Durchritt noch eine Tiefe von 0,6 m. Wie in fast allen andern türkischen Dörfern der Troas gibt es in Ujek Kioi viele Storchnester, die man hier nie in den nur von Griechen bewohnten Dörfern sieht, wie z.B. Kalifatli, Yeni Kioi, Yeni Shehr u.s.w.; denn da die Türken eine Art von Cultus für den Storch haben, so nennen ihn die Griechen »den heiligen Vogel der Türken« und erlauben ihm nicht, sein Nest auf ihren Häusern zu bauen. Unter den lobenswerten Eigenschaften der Türken muss ich ferner die große Sorge erwähnen, die sie darauf verwenden, den durstigen Wanderer und sein Pferd mit einem Überfluss guten, trinkbaren Wassers zu versehen. In der Tat, kein Dorf ist so klein oder arm, dass es nicht wenigstens eine Quelle hätte, die immer in einem Mauerwerk von monumentaler Form eingefasst ist und in einen viereckigen Behälter von Trachyt läuft, aus welchem das Wasser rechts und links in mehrere Tröge aus gleichem Stein fließt, die alle in einer Reihe stehen und zum Tränken des Viehes dienen. Alle Wege sind mit solchen oder auf ähnliche Weise eingerichteten Quellen versehen, an deren jeder, zur Bequemlichkeit das Dürstenden, ein Krug oder eine Kelle aus Holz oder Zink mittels eine Kette befestigt ist. Oberhalb vieler dieser Quellen, und stets oberhalb der Quellen in den reichern Dörfern, sehen wir lange Inschriften, die nebst Sprüchen aus dem Koran den Namen des Wohltäters, auf dessen Kosten die Quelle errichtet ist, sowie die Jahreszahl dieses Ereignisses enthält. Ist eine solche Quelle auf oder in der Nähe von der Baustelle einer alten Stadt, so sehen wir stets mehrere skulptierte Marmorblöcke in ihrem Mauerwerk.

 

Eine andere ausgezeichnete Eigenschaft der Türken ist ihre Ehrfurcht für die Toten; denn dort gilt nicht unsere barbarische europäische und amerikanische Gewohnheit, den Toten, falls die Grabstelle nicht bezahlt ist, nur ein Jahr Ruhe zu gönnen; vielmehr werden die Gräber in der Türkei als geheiligter Boden betrachtet und nie angerührt. So geschieht es denn, dass es hier eine kolossale Menge von Grabfeldern gibt, auf denen die Gräber der Reichern stets mit zwei aufrecht stehenden weißen Marmorplatten geschmückt sind, wovon die kleinere an den Füßen, die größere, deren oberes Ende in Form eines Turbans skulptiert ist, am Kopfe aufgestellt wird. Diese letztere Platte hat gewöhnlich einen gemalten blauen oder grünen Rand und stets eine lange Inschrift mit frommen Sprüchen und dem Namen des Verstorbenen nebst der Jahreszahl des Grabes, das sie schmückt; diese Inschriften sind oft vergoldet. Die Gräber der Armen sind mit zwei solcher Platten aus gewöhnlichem, unpoliertem Stein, ohne Inschrift, bezeichnet. Überall, wo ein türkischer Kirchhof in der Nähe der Baustelle einer alten Stadt ist, sehen wir stets die Gräber der Armen mit Säulentrommeln oder skulptierten Blöcken geschmückt, und so sind z.B. in der Ebene von Troja alle türkischen Kirchhöfe mit Marmorsäulen und Skulpturen von Novum Ilium überladen. Neben jedem türkischen Grabfelde sehen wir stets einen aus zwei aufrecht stehenden, mit einer großen polierten Steinplatte überdeckten Blöcken bestehenden Tisch. Mit seltenen Ausnahmen ist die große Platte einem Monument entnommen und besteht aus weißem skulptiertem Marmor, und ist dies auch oft mit den aufrecht stehenden Blöcken der Fall. Auf diesen Steintisch wird stets der Sarg mit der Leiche gestellt und Gebete werden darüber gesprochen, ehe derselbe in die Gruft gesenkt wird.

Von Ujek Kioi auf einem schmalen Pfade südlich über die mit Wacholder, Eichengebüsch und Fichten überwachsenen Höhen weiter reitend, erreichten wir in 55 Minuten das Dorf Boskizi (46,8 m Meereshöhe), bei welchem ein Eichenwald anfängt. In diesem armen, kleinen Dorfe sieht man viele Blöcke von alten Bauten, wovon einige so groß sind, dass sie schwerlich aus irgendwelcher weiten Ferne hierher gebracht sein könnten. So sehen wir z.B. in der Treppe der Moschee sehr große Granitblöcke, deren einer eine Türschwelle mit den Löchern der Türangeln ist. In der Vorhalle desselben Gebäudes sieht man vier Säulen, deren zwei aus Granit einem alten Monument entlehnt sind; die eine der beiden andern, aus Holz bestehenden Säulen steht auf einem ionischen, die zweite auf einem korinthischen Säulenkapitäl aus weißem Marmor. Eine zweite Treppe enthält ebenfalls eine Türschwelle aus weißem Marmor und andere alten Monumenten entlehnte Blöcke; auch sehen wir eine Säule aus weißem Marmor und eine andere aus Granit in der Umfassungsmauer; ferner liegen Säulentrommeln aus Granit auf den Terrassen zweier türkischer Häuser. Alle diese monumentalen Blöcke scheinen von der Baustelle einer alten Stadt hierher gebracht zu sein, die man etwa 1.000 Schritte südlich von Boskizi rechts am Wege sieht. Jedoch kann ich dieselbe mit keiner der von den alten Klassikern erwähnten Städte der Troas identifizieren. Noch sieht man vom Wege aus eine einzeln dastehende Granitsäule auf jener Baustelle, die mit vielen alten Topfscherben bedeckt ist; jedoch ist hier die Schuttanhäufung nur äußerst geringfügig und scheint nicht mehr als einige Zoll tief zu sein. Nur 32,5 m über dem Meere ist das Dorf Gheukli Kioi, welches wir in 50 Minuten von Boskizi erreichten. Hier sieht man ebenfalls mehrere Granitsäulen und einige skulptierte Marmorblöcke, die von Alexandreia Troas hierher gebracht zu sein scheinen, da weder in Gheukli Kioi noch in dessen unmittelbarer Nähe die Baustelle einer alten Stadt ist. Der Weg führt über teilweise kultiviertes, aber größtenteils mit Valoneaeichen bedecktes Land bis zu den Ligia Hamam genannten heißen Quellen, die in einer malerisch schönen Bergschlucht, südöstlich von Alexandreia Troas und in einer Entfernung von etwa dreiviertel Meilen davon gelegen sind. Es gibt hier ein Frauen- und ein Männerbad: Ersteres ist kuppelförmig, ähnlich einer Moschee, und in seinem Mauerwerk sieht man viele, alten Bauten entlehnte Blöcke; in der Mitte desselben ist ein 3,90 m langes und breites viereckiges, gemauertes Becken, in welches eine heiße Quelle läuft, die auf der Stelle, wo sie aus dem Fels emporsprudelt, 53½°C hat; die Temperatur des Wassers im Becken ist aber nur 34°C. In der Umfangsmauer dieses Bades sieht man eine kopflose, drapierte, weibliche Statue aus weißem Marmor eingemauert. Etwa 39 m südwestlich von dieser Quelle ist eine andere, die beim Hervorsprudeln aus dem Felsen so heiß ist, dass ich sie mit meinem Thermometer gar nicht messen konnte, da das Quecksilber in ein paar Sekunden auf mehr als 60°C emporstieg. Diese Quelle läuft ins Männerbad, ein elendes Gebäude mit drei äußerst schmutzigen, fensterlosen Stuben zur Beherbergung der Kranken, die sich, wie in einer Lattenkammer, auf dem unebenen, gepflasterten Fußboden hinstrecken müssen, da es sogar an steinernen Bänken fehlt. Es gibt hier eine sehr große Menge kleinerer Quellen, die aus den Felsritzen auf der Nordseite der Schlucht hervorquellen; das Wasser aller heißen Quellen vereinigt sich auf dem Grunde der Schlucht und bildet einen kleinen Bach, den die Pferde, da sie das heiße Wasser bange macht, nicht überschreiten wollen. Das Wasser der Quellen ist hier ohne Ausnahme salzig und eisenhaltig und für rheumatische Leiden und Hautkrankheiten besonders heilsam. Ja, wäre hier die nötige Einrichtung und Pflege, und wäre hier ein tüchtiger Arzt, der den Kranken vorschriebe, wie das Wasser zu gebrauchen ist, so würde dieser Kurort vielleicht einer der berühmtesten der Welt sein, während er jetzt durchaus vernachlässigt ist; ja dies ist in solchem Grade der Fall, dass ich kein lebendes Wesen hier fand, außer einem Raben und einem Kuckuck, deren Geschrei die in dieser Schlucht herrschende Totenstille unterbrach.

Jedenfalls aber sah es hier im Altertum ganz anders aus: Denn die beiden Abhänge der Bergschlucht, und besonders die nördliche, sind mit den Ruinen von Bauten bedeckt, die als stumme Zeugen daliegen, dass hier einst eine bedeutende Stadt stand. Unter diesen Trümmern ziehen die riesigen Überbleibsel von römischen Bädern besonders unsere Aufmerksamkeit auf sich. Rings um alle Bäder sehen wir erst kürzlich gezogene Gräben, die keinen andern Zweck gehabt haben können als den, die Marmorplatten, womit diese Bauten bekleidet waren, zu entwenden. Das Mauerwerk aller dieser Bäder besteht aus kleinen, mit Kalk oder Zement vereinigten Steinen, zwischen denen wir von Zeit zu Zeit große behauene Granitblöcke sehen: Aber die innere Halle, das eigentliche Bad, ist stets aus großen behauenen Blöcken erbaut, und besteht nur ihre domartige Wölbung aus Mauerwerk mit Kalk oder Zement. In den Wänden sieht man sehr viele Nischen, die zu Weihgeschenken gedient haben müssen. Einige der Bäder, und wahrscheinlich alle, hatten auf Säulen gestützte Vorhallen: Denn wir sehen dort eine Menge von Granitsäulen sowie eine kannelierte Marmorsäule, die mehr oder weniger in Schutt begraben sind. Auch sieht man dort die Ruinen von Bädern und Häusern, die augenscheinlich aus dem Mittelalter stammen. Wir können es daher für gewiss ansehen, dass die Stadt erst spät im Mittelalter verlassen worden ist. Die Schuttanhäufung ist, da die Stadt auf den Bergabhängen lag, nur geringfügig, mag aber hier und dort 2 m betragen. Die Meereshöhe von Ligia Hamam ist 23,2 m; die Luftwärme war 21½°C.

Um 5 Uhr 28 Minuten abends kamen wir im Dorfe Kestambul an, das auf 185,4 m Meereshöhe liegt; die Luftwärme war 18°C. Dieses Dorf wird nur von Türken bewohnt, infolge dessen gibt es hier viele Storchnester und oft sogar zwei auf einem Dache. In den Wänden der Häuser sieht man viele skulptierte Marmorblöcke sowie Säulentrommeln eingemauert. Den größten Reiz hat in Kestambul eine von herrlichen Platanen überschattete Quelle; die Fassung derselben hat die Form eines kleinen viereckigen Turmes, an dessen drei Seiten doppelte Hähne sind, sowie eine mittels einer Kette befestigte Kette von Weißblech. An jeder Seite ist eine, ein Blumenornament darstellende Skulptur, und darüber eine 0,43 m lange, 0,70 m breite Marmortafel mit Sprüchen aus dem Alkoran, dem Namen des Wohltäters, der die Quelle errichtete, und das Datum ihrer Errichtung, 1193 der Hegira. Da wir jetzt das Jahr 1298 der Hegira haben, so ist die Quelle 105 Jahre alt.

In einer andern Quelle dieses Dorfes ist ein großer alter Sarkophag aus Basalt aufgemauert, in dessen oberstem Rande wir die Inschrift lesen:

POSTVMIAVENERIA

unterhalb welcher wir eine Rosette und einen Blumenkranz sowie zwei Figuren von Menschen und einen Vogel mit einem Baum auf dem Kopfe sehen. Diese Skulpturen sowie die Inschrift sind augenscheinlich aus dem Mittelalter. Rechts ist ein anderer Marmorblock mit geometrischen Mustern, der wahrscheinlich älter ist. Die hohe Lage dieses Dorfes, die vielen alten Trümmer, die hier in den Hausmauern eingemauert sind, die vielen alten Topfscherben, die wir in den Gärten und den Feldern umher sehen, aber ganz besonders die ungeheuere Masse gewaltiger Granitblöcke, wovon die meisten eine monumentale Form haben: Alle diese verschiedenen Umstände veranlassen mich zu glauben, dass Kestambul die Baustelle der alten Stadt Colonae ist. Die Lage stimmt jedenfalls mit den Angaben Strabos (XIII, 589, 604): dass dieselbe in unmittelbarer Nähe Achaeiums war, welches neben Alexandreia lag, sowie dass ihre Entfernung von Ilion 140 Stadien betrug. Colonae muss seinen Namen von den zahllosen Massen ungeheuerer Granitblöcke erhalten haben, womit alle Felder der Umgegend bedeckt sind, und welche die Form riesiger Grabsteine haben. Kestambul hat 110 türkische Häuser.

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