Tambara und das Geheimnis von Kreta

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Tambara und das Geheimnis von Kreta
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Heike M. Major

TAMBARA

und das Geheimnis von KRETA

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2021

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

Copyright (2021) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei der Autorin

Titelbildidee: Heike M. Major

Fotos: Heike M. Major

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Fortschritt

So viele Jahre haben wir nun

Erfahrungen mit dem Fortschritt gesammelt.

Trotzdem konnten wir ihn nicht zähmen.

Er läuft uns davon wie ein bockiges Pferd,

denkt sich immer wieder neue Kapriolen aus,

um uns zu überraschen.

Wir laufen stets in einiger Entfernung hinterher,

um den Schaden seiner unzähligen Spielarten

zu begrenzen.

Jeder Pferdebesitzer untersucht ein Pferd,

bevor er es kauft, auf erkennbare Mängel,

mögliche Erkrankungen, wahrscheinlichen Nutzen.

Er weiß, alles hat seinen Preis.

Heike M. Major

1

Unsanft setzte die moderne Maschine auf der alten Landebahn auf. Nachdem Kreta für die Öffentlichkeit freigegeben worden war, durften nun auch die ersten Linienmaschinen wieder auf der Insel landen. Rebs Blick glitt über das Rollfeld und hinüber zu einem niedrigen weißen Gebäude, dessen lang gestreckte Fensterfront von einer Vielzahl senkrechter weißer Streben durchbrochen wurde. Dies musste das Flughafengebäude sein. Es sah genauso aus wie auf dem Bild, das der Medienkonzern ihm auf sein Technikarmband geschickt hatte. Reb hatte die Informationen in seinem Armband bisher nur einmal kurz durchgelesen. Er vertraute lieber auf den örtlichen Reisedienst, der ihn am Ausgang abholen und, wie es vor Jahrhunderten üblich gewesen war, mit dem firmeneigenen Bus zum Hotel bringen würde.

Kreta – ein fast im Urzustand erhaltenes Naturreservat – hatte bis vor Kurzem nur einem einzigen öffentlichen Zweck gedient: der Versorgung der großen Weltstädte mit Grundnahrungsmitteln. Die Insel belieferte fast den gesamten Erdball mit heimischen Oliven und wertvollen Ölen aus diesem natürlichen Gold. Reich waren die Kreter trotzdem nicht geworden. Als Angestellte des Sirman’s Group - Oil for your live - Konzerns ernteten, verarbeiteten und versandten sie die Produkte, das große Geld jedoch blieb bei den Firmeneignern in der Stadt. Die Einheimischen mussten sich mit einem bescheidenen Einkommen begnügen und – dies allerdings war ihnen gewiss – der uneingeschränkten Bewunderung der restlichen Weltbevölkerung, denn wer wollte heutzutage noch in der Natur arbeiten. Dazu bedurfte es schon einiger mutiger Freiwilliger. Die Menschen, die sich dieser aufopfernden Tätigkeit annahmen, waren auf der Insel geboren und aufgewachsen und mit den Eigenheiten dieses Landstrichs von Kindheit her vertraut. Die Aktionäre hingegen hatten ihre Domizile in der Stadt Tambara aufgeschlagen, in der Nähe der großen Konzerne.

Die Gegend um den Flughafen herum war extrem hässlich. Ein- bis zweistöckige schmutzig graue Häuser schoben sich ineinander und duckten sich entlang der staubigen Straße zu einem einzigen, schier endlos scheinenden Strang aus schäbigem, von der Verwitterung gezeichnetem Beton. Auf dem abgewetzten Pflaster der Bürgersteige sammelte sich der Sand der Umgebung. Abgestorbene Pflanzenteile hatte der Wind daruntergemischt, vereinzelt sah man auch Müll in den Ecken, Einkaufstüten aus noch nicht recycelbaren Kunststoffen, Plastikverpackungen von Fertiggerichten oder Blechdosen einer schon lange nicht mehr existierenden Getränkefirma.

Der Bus fuhr über eine Brücke und ließ die Flughafenregion hinter sich, aber immer noch blieb der Eindruck städtisch: Tankstellen, Möbelgeschäfte, Souvenirläden, dichter Verkehr überall, aufheulende Autos, knatternde Motorräder, dazwischen quetschten sich Fußgänger über die Straße. Wie hatten die Menschen in all den Jahrhunderten nur so leben können, dachte Reb. Der Erdboden in Tambara, seiner Heimatstadt, war mit einer geschlossenen Decke aus Hightech-Kunststoff überzogen. Die synthetischen Bäume in den Straßen lieferten durch unterirdische Kanalsysteme nicht nur den nötigen Sauerstoff, sondern reinigten mit ihren Filteranlagen auch die Luft von Kohlendioxid, Staub- und Sandpartikeln und selbst die von den Touristen aus den wenigen noch existierenden Naturreservaten unfreiwillig eingeschleppten Samenkörner wurden mittels moderner Technik als Fremdkörper erkannt und umgehend vernichtet. Fahrzeuge fuhren fast laut- und schwerelos, und die bis zum Boden reichenden Fenster der Hochhäuser speicherten die Sonnenwärme und sorgten mit ihrer integrierten Heizung für ein wohltemperiertes Klima in den Innenräumen. Reb war froh, dass er die Abgase dieser mehr als veralteten Fahrzeuge durch die geschlossenen Scheiben nicht riechen konnte.

Der Bus bremste und bog nach rechts in eine schmalere Straße ein. Wenigstens ließ jetzt der Verkehr ein wenig nach. Links der Fahrbahn erstreckte sich eine meist einstöckige Ladenzeile mit an Baracken erinnernden Geschäftsräumen, vor deren Eingangstüren an einfachen Blechständern Kleider und Kopfbedeckungen für den Aufenthalt unter freiem Himmel angeboten wurden. Die Häuserreihe auf der rechten Seite war nicht ganz geschlossen. In den Lücken zwischen den Betonbauten machten sich Gräser und niedriges Buschwerk breit, ein paar Bäume hatten sich dazugesellt, ganze Flächen waren nicht asphaltiert. In einem der Zwischenräume erspähte Reb das Meer. So ähnlich musste es vor Hunderten von Jahren ausgesehen haben, als es noch überall echte Pflanzen gab und die Menschen, begünstigt durch den Fortschritt der Technik und die Möglichkeit zum schnellen Ortswechsel, anfingen, fremde Kulturen zu erkunden – und zu zerstören. Damals musste es angefangen haben, dass die Natur nach und nach von der Landkarte verschwand, überall die gleichen Hotels entstanden und sich auch die großen Weltstädte immer mehr ähnelten.

Mit einem unsanften Ruck kam der Bus zum Stehen. Rebs Blick fiel auf zwei Geranienbeete, die mit sandfarbenen Natursteinen eingefasst waren. Auf einer Steinplatte links neben dem Eingang stand der Name der Anlage: Hotel Pink Parrot. Die Schrift war plastisch hervorgehoben und sah aus, als wäre sie noch aus natürlichem Metall gegossen worden. Die Flügel des Eingangstores bestanden aus grob gezimmerten, von der Rinde befreiten Holzstämmen. Sie lehnten souverän an dem Maschendrahtzaun, der zu beiden Seiten das Gelände vom Bürgersteig trennte, und gaben den Blick auf den großzügigen Hof des Quartiers frei.

„Hotel Pink Parrot“, grölte der Busfahrer, sprang auf die Straße und öffnete die Gepäckklappe des Fahrzeugs.

Reb kletterte von der relativen Ruhe des Reisebusses auf die lärmende Straße und nahm seinen Koffer in Empfang. Kaum hatte er den Griff des Gepäckstückes ausgefahren und von Automatik- auf Handbetrieb umgestellt, hörte er die Fahrzeugtür klacken, und der Bus rollte davon.

Seinen rappelnden Koffer hinter sich herziehend, durchschritt Reb das Eingangstor und wunderte sich über die Stille, die ihn empfing. Kaum ein paar Meter von der Straße entfernt, schienen Lärm und Gestank der alten Vehikel fast völlig vergessen.

Für einen Moment hielt er inne und ließ seinen Blick über die Anlage schweifen. Der großzügig angelegte Hof wartete außer mit einer Reihe riesiger Palmen in der Mitte und einer winzigen, aus Holz gezimmerten Haltestellenüberdachung für die Inselbahn am Rande links neben dem Eingangstor nur mit ein paar parkenden Autos auf. Der ganze Platz war, so schien es, mit natürlicher Erde bedeckt – richtiger, echter Erde! An der linken Seite, hinter den Autos, erstreckte sich ein adrett gepflegter Minigolfplatz mit natürlichem Rasen, darauf standen wieder die anscheinend für dieses Hotel so typischen haushohen Palmen, mindestens zehn an der Zahl.

Geradeaus, am Rande des Hofes, begann die eigentliche Anlage. Viele winzige Bungalows verteilten sich in einem großzügigen, hübsch angelegten Garten. Schon von hier aus sah er die vielen blühenden Büsche – Bougainvilleen und Hibisken, wenn er richtig recherchiert hatte –, dazwischen immer wieder Palmen, anscheinend alle echt. Auf der rechten Seite in einem breiten Flachbau befand sich der Empfangsbereich. Plötzlich verlangte sein Körper nach einem tiefen Atemzug. Eine ungewöhnliche Frische durchströmte seine Lungen. Die Luft war sauber und klar. Es musste an den Pflanzen liegen. Reb schnappte sich seinen Koffer und marschierte zur Rezeption.

Die Frau hinter dem Tresen sah aus, als wäre sie einem Bildband über altgriechische Kulturgeschichte entsprungen. Lange schwarze Haare umrahmten ein ebenmäßiges Gesicht mit klarer Haut, großen dunklen Augen, einer klassisch geschnittenen Nase und einem wohlproportionierten Mund. Die Griechin trug ein schlichtes Hemdblusenkleid in Beige und schien ungeschminkt. Reb führte die eindeutigen Gesichtszüge auf die isolierte geographische Lage der Insel zurück, denn einzelne Kulturen, die eine eindeutige Zuordnung zu einer Landschaft oder Bevölkerungsgruppe zuließen, gab es in der modernen Kunststoffwelt schon lange nicht mehr. Städter waren Städter. Sie alle waren mit den gleichen Regeln aufgewachsen, den gleichen Werbeversprechen, Modediktaten und den schnell wechselnden, die Massen bewegenden Songs der Hitparaden. Sicherlich gab es auch heute noch Bürger unterschiedlicher Herkunft und Hautfarbe, doch das jahrhundertelange Leben in der Großstadt hatte nicht nur für eine Vermischung der Kulturen gesorgt, sondern auch den Blick für geschichtliche Ursprünge verloren gehen lassen. Selbst die architektonischen Unterschiede zwischen den Weltstädten waren – bis auf die offiziell geschützten Denkmäler und einige wenige, fast vollständig im Urzustand erhalten gebliebenen Stadtkerne – im Laufe der Jahrhunderte so gut wie verschwunden. Die untereinander stark konkurrierenden Wirtschaftskonzerne hatten mit ihren monumentalen Bauten und umliegenden Einkaufszentren die Architektur der modernen Welt geprägt und überall auf der Erde ähnliche Stadtbilder entstehen lassen.

 

„Kαλημέρα“, begrüßte ihn die Griechin, „herzlich willkommen in unserem Land.“

Die Zügigkeit und Präzision der Abfertigung stand den Gepflogenheiten in der Stadt in nichts nach. Rebs Technikarmband überspielte die notwendigen Daten auf den Hotelcomputer, und die griechische Dame überreichte ihm einen Schlüssel.

Verwundert blickte Reb auf das Metall in seiner Hand. Es bestand aus einer dünnen, kreisrunden, circa eineinhalb Zentimeter großen Platte mit einem Loch in der Mitte, die in einen ebenso flachen, halbseitig gezackten Stiel mündete. Das dünne Teil war relativ schwer und silberfarben. Wenn man es hin und her bewegte, spiegelte sich das Licht auf der glatten Oberfläche und verlieh dem Material einen zart schimmernden Glanz. In einem Zeitalter, in dem man Türen nur noch mittels Technikarmband öffnete und sämtliche Naturstoffe durch Imitationen aus Kunststoff ersetzt worden waren, fühlte sich so ein Gegenstand, der aus echtem Metall bestand und noch dazu eine wirkliche Funktion erfüllte, ein wenig unheimlich an.

Der Schlüssel hatte einen Anhänger in Form eines Ovals. Vielleicht war es auch eher ein Rechteck mit abgerundeten Ecken, jedenfalls schien auch diese Platte von circa drei mal vier Zentimeter, die noch schwerer war als der Schlüssel selber, aus natürlichem Material zu bestehen. Ein Kakadu war darin eingraviert, darunter der Name der Anlage: Pink Parrot.

Reb fuhr mit den Fingern über die Oberfläche des Anhängers. Das Material wies eine Reihe von Kratzern auf, Gebrauchsspuren, die von den vielen Händen zeugten, die diesen Schlüssel schon einmal in der Hand gehalten hatten.

„Passen Sie gut darauf auf“, mahnte die Griechin. „Sonst bekommen Sie Ihr Zimmer nicht auf.“

Reb steckte den Schlüssel in die Hosentasche.

An der Eingangstür erwartete ihn ein älterer Mann in leicht gebeugter Haltung, der sich als Gepäckträger entpuppte. Er hatte eine Schiebekarre dabei, ein schmales Brett auf zwei Rädern, gerade groß genug, um einem hochkant gestellten Koffer darauf Platz zu bieten, dahinter eine senkrecht angebrachte, hüfthohe Platte mit einem Griff. Reb betrachtete ein wenig misstrauisch dieses altertümlich anmutende Gefährt. In seiner Heimatstadt Tambara gab es für alles eine technische und meist auch geräuscharme Lösung. Gepäck beförderte man auf selbstständig fahrenden Koffern, die, gesteuert durch das Technikarmband am Handgelenk, brav wie ein Hündchen hinter ihrem Besitzer her rollten. Hier schleppte nicht nur ein Mensch eine schwere Last, er tat es auch noch für jemand anderen. Der Mann hievte Rebs Koffer auf sein Vehikel, und wie auf Befehl schmiegte sich das Gepäckstück an die große Platte, als er jetzt den Griff fasste, die Karre schräg stellte und das Gerät vor sich herschob.

„Sollte etwas nicht funktionieren, sprechen Sie uns an“, empfahl ihm die Griechin und lächelte.

Reb bedankte sich und folgte ein wenig misstrauisch dem Gepäckträger, der sich in seiner schräg gestellten Welt recht gut auszukennen schien.

Reb überlegte. All die Erfahrungen, die er während seines gut dreißigjährigen Lebens in seiner Heimatstadt Tambara gesammelt hatte, würden ihm hier nicht viel nützen. Tambara war eine typische Großstadt, eine Stadt der Superlative, eine Stadt, die ihren Einwohnern ein sorgenfreies Leben bescherte, einen sicheren Arbeitsplatz, eine optimale medizinische Versorgung, viel Zerstreuung und beinahe unendlich viele Einkaufsmöglichkeiten. Nur eines gab es dort nicht: die Natur. Natürliche Landschaften mit Erde, Steinen, frei fließendem Wasser oder gar Tieren und Pflanzen kannte der moderne Mensch nicht mehr. All dies existierte nur noch in den Reservaten, die fernab der Wohngebiete die Lebensmittelversorgung der Großstädter gewährleisteten, oder in den wenigen Museumsparks, die der Wahrung der Geschichte dienten, aber aus Furcht vor dem Unbekannten stets nur mit spezieller Schutzkleidung betreten wurden. Unendlich lange musste man fliegen, um echte Natur zu erleben, über unzählige, nie enden wollende, nahtlos ineinander übergehende Städte. So hatte sich das frühere Europa zu einer einzigen großen Metropole entwickelt, und nur zu den Meeren hin lockerte sich das städtische Bild ein wenig auf.

Reb hatte mit seiner Schwester und den Freunden Mortues und Botoja unter Anleitung des reichen und mächtigen Sir W.I.T. maßgeblich dazu beigetragen, dass sich nun Initiativen zur Renaturierung bildeten. Kreta war so ein Projekt, groß genug, um das Leben der Städter in und mit der Natur zu erproben, gleichzeitig aber auch weit genug vom Festland entfernt, falls vielleicht doch irgendetwas schiefgehen sollte. Denn die Angst vor dieser fremden natürlichen Welt, die sich völlig autark und unabhängig vom Willen des Menschen ihren ureigenen Gesetzen entsprechend entwickelte, war in der Seele des modernen Menschen tief verwurzelt. Da die Olivenbäume für ihr Wachstum genau die Bedingungen brauchten, die sie auf Kreta vorfanden, hatte sich die Natur auf dieser Insel in all den Jahrhunderten ihren eigenen Regeln entsprechend entfalten dürfen. Die Ernten brachten den Firmeneignern viel Geld ein, und so gab es keinen Grund, die Landschaft zu optimieren. Nun aber wollte die Regierung wissen, ob sich der typische Großstadtmensch unbeschadet in solch einer natürlichen Umgebung aufhalten konnte, und einige mutige Bürger probehalber dort ansiedeln. Es war das erste wirkliche Abenteuer seit der Entwicklung von gentechnisch optimiertem Obst, geklonten humanen Bio-Einheiten, synthetischem Blut und Labororganen. Dies bedeutete freilich auch, dass Kreta nach all den Jahrhunderten der Abgeschiedenheit und des Friedens nun mit Veränderungen rechnen musste. Die ersten Großstädter, die sich auf dieses Abenteuer einließen – meist Wissenschaftler, Regierungsbeauftragte, Künstler oder Journalisten wie er –, wohnten zunächst in den alten, mittlerweile aber restaurierten und technisch gut ausgestatteten Hotels.

Reb konnte sich nicht helfen, aber er hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Um die Kombination von verwöhntem Stadtmenschen und ungezügelter Natur zu ermöglichen, würde man der Insel bestimmt einen moderneren Anstrich verleihen müssen. Hoffentlich waren Architekten mit Sinn für Geschichte und Kultur am Werk.

Schwer und eigenwillig lag der metallene Schlüssel in seiner Hosentasche. Das massive Material beulte den Stoff ein wenig aus. Reb griff in die Tasche und umfasste das Metall mit der Hand, damit es aufhörte, gegen seine Oberschenkel zu schlagen. Er, Reb, würde sich diese neue alte Welt schon zu eigen machen.

Im Hintergrund erklang Musik.

„Ταξίδι για το άγνωστο“, sang eine weibliche Stimme.

Er fragte den Träger, was die Worte zu bedeuten hatten.

„Reise ins Unbekannte“, übersetzte der Gepäckträger.

War es Einbildung, oder überzog für den Bruchteil einer Sekunde ein seltsames Lächeln das wettergegerbte Gesicht des Griechen?

2

Rebs Zimmer lag in einem zweistöckigen Gebäude, dessen Fassade bis zum Dach mit blühenden Bougainvilleen berankt war. Der Träger schleppte den Koffer über eine Marmortreppe in die erste Etage und zog ihn über einen kargen, mit groben Steinplatten ausgelegten Flur bis zu einer Tür, die aussah, als wäre sie noch aus natürlichem Holz gefertigt worden. Reb händigte seinem Begleiter den Schlüssel aus, der Mann öffnete die Tür und trug das Gepäck in den Eingangsbereich des kleinen Zimmers. Den Anhänger des Schlüssels steckte er in ein Kästchen an der Wand neben der Tür, woraufhin im ganzen Raum die Leuchten angingen. Der Angestellte zeigte ihm noch, wie er die Klimaanlage mithilfe einer schmalen Box bedienen und die Terrassentür mit der Hand öffnen, wieder schließen und verriegeln konnte. Reb überlegte, ob der Mann wohl ein Trinkgeld erwartete. Doch Reb hatte nur sein Technikarmband, mit dem er in der Großstadt alle Rechnungen bargeldlos beglich, und ein Computerband konnte er am Arm des Hotelangestellten nicht entdecken. Der Gepäckträger jedenfalls schien auch so zufrieden. Er verabschiedete sich und entließ den Gast in dessen Reich.

Reb schaute sich in dem kleinen Zimmer um. Verglichen mit den Räumen in der Stadt Tambara war es geradezu winzig. Doch es hatte genug Platz für einen bis zur Decke reichenden Wandschrank, zwei zusammengestellte Betten mit je einem Nachtschränkchen zu beiden Seiten und einen schmalen Schreibtisch mit einem Spiegel darüber und einem gepolsterten Stuhl davor. Neben dem Schreibtisch stand ein länglicher Hocker, der wohl als Kofferablage gedacht war. Draußen auf dem Balkon luden ein Tisch und zwei Stühle zum Verweilen ein. Rebs Blick fiel auf die Gardinen vor dem Fenster. Mit einem Ruck zog er den Stoff beiseite und wäre fast vor die Scheibe geprallt, so sauber war sie geputzt. Er streckte seine Hand aus und fuhr mit den Fingern über das Glas. Echtes Glas, kein Kunststoff! Es fühlte sich ein wenig kühl an, schwer und extrem glatt. Er klopfte darauf und ärgerte sich fast im selben Moment über die Flecken, die seine Knöchel auf der Scheibe hinterließen. Im Türrahmen befand sich ungefähr in Hüfthöhe in einer Vertiefung ein schmaler, länglicher Hebel. Wie hatte der Gepäckträger das gemacht? Reb fasste mit dem Zeigefinger unter das Metall und hob es leicht an. Mit einem lauten „Klack“ sprang der Hebel hoch und gab die Tür frei.

Reb schob die Scheibe zur Seite und stieg auf den Balkon hinaus. Die flachen, in den Boden eingelassenen Natursteine machten den Belag ein wenig uneben. Er musste aufpassen, dass er mit seinen Schuhen nicht an den überstehenden Kanten hängen blieb. Die Brüstung bestand aus einer Mauer aus weiß gekalktem Stein. Sie war am oberen Rand gerundet und fühlte sich warm an. Reb legte seine Hand auf die Rundung, nahm einen tiefen Atemzug und spürte ein ungewohntes Gefühl der Befreiung in sich aufsteigen. Lag es an der Luft? Sie roch weder nach Essensdämpfen noch Desinfektionsmitteln oder Schweiß. Auch die den Plakatwänden und Supermarktregalen entströmenden Gute-Laune-Parfums fehlten hier völlig. Hier war es die Luft, die duftete. Genau, sie roch nicht, sie duftete – soweit er das beurteilen konnte nach Bäumen und Blumen. Vielleicht schmeckte sie auch ein wenig nach Staub durch die Erde, die bei dem trockenen Wetter von den Menschen losgetreten wurde. Trotzdem war es eine Freude, sie einzuatmen. Vor dem Nachbarzimmer stand eine Palme, deren wuchtige Blätter fast bis zu seinem Balkon herüberreichten. Reb beugte sich ein wenig vor und griff nach dem Grün, konnte es aber nicht wirklich fassen.

Ein ohrenbetäubender Lärm ließ ihn zusammenzucken, ein brummendes, knatterndes Dröhnen, das kurzzeitig anschwoll, auf der Straße hinter dem Hotel vorbeizischte und ebenso schnell wieder verhallte. Seinen Recherchen nach musste es sich um eines dieser alten Motorräder handeln. Wie er gelesen hatte, sollten früher unzählige dieser Fahrzeuge als Transportmittel gedient haben. Einige davon schienen die Jahrhunderte überdauert zu haben. Ein wenig Benzingeruch mischte sich zwischen den Blütenduft, aber egal, Reb war stolz und froh, an der Wiedereinführung der Natur teilhaben zu dürfen, wenn auch nicht als Arbeiter, so doch wenigstens als Journalist. Und wer weiß, vielleicht würde er hier und da auch ein wenig mit anfassen. Er hätte nichts dagegen.

Reb ging in den Raum zurück und inspizierte den Schrank. Dieser wartete mit etlichen Fächern, Schubladen und einer erfreulichen Anzahl an Kleiderbügeln auf und hatte sogar noch genug Platz, um seinen Koffer hinter der verschlossenen Tür zu verstauen. Über den Schubladen auf der rechten Seite erweckte ein kleiner Kühlschrank seine Aufmerksamkeit. Als er die Tür des Gerätes öffnete, schlug ihm eine angenehme Kühle entgegen.

„Nicht schlecht“, hörte er sich halblaut sagen und studierte die Getränke, die der kleine Schrank beherbergte: zwei Flaschen Wasser, eine Dose Orangensaft, eine mit Limonade, kein Wein.

 

Er wollte gerade nach der Dose mit dem Orangensaft greifen, als sein Blick auf die geschlossene Zimmertür fiel. Ob er wohl mit dem Mechanismus zurechtkommen würde? An dem auf dieser Seite cremefarben überstrichenen Holz prangte ein goldfarbener Knauf. Der musste den Öffnungsmechanismus beherbergen. Reb schloss den Kühlschrank, ging hinüber zur Tür, drehte an dem Knauf und zog ihn vorsichtig auf sich zu. Ein lautes „Klack“ ließ ihn zusammenzucken, die Tür gab nach und dahinter erschien die weiße Flurwand.

An der Schmalseite der Tür entdeckte er zwei Rollen, die in das Holz eingelassen waren und durch den Druck beim Schließen wohl in die kleine Kammer zurückgedrängt wurden, um dann, sobald die Tür ihre endgültige Position erreicht hatte, hervorzuschnellen und in ein Loch an der gegenüberliegenden Wand zu springen. Zum Öffnen musste man die Rollen aus dem Loch herausziehen, indem man den Knauf drehte. Wie einfach und doch wirksam. Allerdings, so überlegte Reb, würde auf diese Weise auch jeder Fremde in sein Zimmer gelangen. Es musste also noch ein weiteres Geheimnis geben. In der Mitte des Knaufs befand sich ein fingerdicker Knopf. Reb schloss die Tür, drückte auf den Knopf, dieser rastete ein, doch ließ sich die Tür auch jetzt problemlos öffnen. Vielleicht war sie ja wenigstens von außen verschlossen. Er zog den Schlüssel samt Anhänger aus dem Stromkasten, trat auf den Gang hinaus und drückte den Knopf, der beim Öffnen wieder herausgesprungen war, erneut in den Knauf. Er wollte gerade die Tür schließen, als der Wind, der durch die offen stehende Balkontür durch sein Zimmer auf den Flur hinausströmte, sie mit einem ohrenbetäubenden Donnern zuknallte.

„Wumm!“

„Mein Gott“, entrüstete sich Reb und blickte sich erschrocken um.

Gott sei Dank schien niemand von dem Krach Notiz genommen zu haben. Jedenfalls war die Tür nun tatsächlich verschlossen und ließ sich auch durch das Drehen, Drücken und Schieben des Knaufs von außen nicht mehr öffnen. Reb steckte den Schlüssel in das Schloss, drehte ihn um eine Vierteldrehung nach links, so wie der Gepäckträger es ihm gezeigt hatte, schob gleichzeitig das Holz von sich weg und stand wieder im Raum. Das Poltern, das die Tür von sich gab, als er sie nun vorsichtig mit der Hand ins Schloss zurückschob, war auch nicht viel leiser als das Getöse, das der Wind vorher verursacht hatte. Reb tröstete sich damit, dass er das Geräusch nur beim Verlassen und Betreten des Zimmers würde ertragen müssen. Es war an der Zeit, seinen Koffer auszupacken.

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