Lagerfeuer

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Inhalt

Heike Littger Lagerfeuer Mitten durch die Prärie

Die Autorin

Impressum

Heike Littger

Lagerfeuer

Mitten durch die Prärie

Lass dir helfen. Geh zum Psychologen. Da kommst du nicht alleine raus. Stefan Lange erzählt von den Ratschlägen seiner Freunde, die er in den Wind geschlagen hat. Er hat gewählt, nicht neu zu wählen. Um auf dem Weg zu bleiben, den er Jahre zuvor eingeschlagen hat. Unbewusst. »Niemand kommt auf die Welt und läuft absichtlich in die Sackgasse.« Am Ende warteten 40 Tabletten Rohypnol auf ihn. Und ein Erdbeerquark mit Fruchtstückchen. Die haben die Bitterkeit der zerbröselten Schlaftabletten übertüncht.

Lange spricht von Suizid. Nicht von Selbstmord. Auch nicht von Freitod. »Mord« lässt einen an Verbrechen denken. Aus niederen Beweggründen. Einfach so. Bei »Freitod« schwingt etwas Heldenhaftes, Heroisches, Rationales mit. Beide Begriffe werden der höchsten existenziellen Not, in die Menschen abrutschen können, nicht gerecht.

Vor fünf Jahren hat sich Lange für den Osnabrücker Verein Stigma vor eine Kamera gesetzt und über sein Leben gesprochen. Auf YouTube ist das Video mit dem Titel »Komm lieber Tod« abrufbar, unterteilt in 59 Episoden, jede zwischen vier und 17 Minuten lang. Sie alle an einem Stück anhören zu wollen, ist herausfordernd – das liegt nicht nur an der Dauer von mehr als sieben Stunden.

Da ist der gewalttätige Vater, der seinen Sohn durch Prügel, Erniedrigung und Missachtung zum Musterkerl dressieren will. Ein Oberstleutnant, dominant, distanziert und davon überzeugt, dass der Mensch am effektivsten lernt durch Schmerz. Nicht einmal in der hintersten Ecke unterm Kinderbett ist Lange vor seinem Zugriff sicher.

Da ist das Gefühl, nicht gewollt zu sein, »ein Fickfehler«, wie Lange sagt. Im Gegensatz zu seinem knapp ein Jahr älteren Bruder, der aus seiner Sicht immer alles bekommt, was er will. Konkurrenz und Wettbewerb statt Geschwisterliebe.

Da ist der Besuch bei den Großeltern, entspannte Kindertage zwischendurch mit Gebeten abends im Bett. Lange bittet Gott, ihn morgen früh nicht wieder zu wecken. Nicht weil er unbedingt sterben will, sondern sich wünscht, der Gewalt zu entkommen. Sehnsucht nach Ruhe. Stille. Frieden.

Da ist die Mutter, die nichts sieht, nichts hört, nichts sagt. Hauptsache, die Nachbarn denken, alles läuft rund. Freunde und Freundinnen werden nach dem Beruf der Väter beurteilt, »Abstammung und Titel vor dem Menschen«. Lange versucht, für wenigstens ein bisschen Anerkennung die Erwartungen zu erfüllen: Gymnasium, Studium, Praktikum in Japan …

Da ist der wiederkehrende Albtraum, in dem Lange seinen Vater »mit einem Baseballschläger zu Brei« schlägt. Dieser unbändige Wunsch, sich rächen zu wollen. Der Vater ist da schon etliche Jahre tot.

Da ist der plötzliche Tod des Bruders, Herzinfarkt mit 35. Beim Ausräumen des WG-Zimmers merkt Lange, dass er seinen Bruder nie kennengelernt hat, Chance verpasst, und er anscheinend auch mit einem tiefen Grundschmerz durchs Leben gelaufen ist.

Da ist das Treffen mit Susanne, die von gestern auf heute Schluss macht. Als Lange die »Welle an Verzweiflung« spürt, die auf ihn zurollt, weiß er sofort, dass er diesmal nicht überleben wird. Zu mächtig, zu gewaltsam. Mühsam hat er sich eine Welt aufgebaut, in der es erstmalig so etwas wie Nähe, Vertrauen, Zuversicht, ja Liebe gibt. Unter seinen Füßen spült es sie hinfort.

Da ist das befreiende Gefühl, als sich Lange entscheidet, diesen ewigen Schmerz endlich zu beenden. Bewusst geht er ein letztes Mal ins Kino, ein letztes Mal in die Eisdiele. Doch selbst das Vanilleeis mit Schokosoße ist nicht so gut wie das Gefühl, handeln zu können, selbst wenn es einen das eigene Leben kostet. Aus Ohnmacht wird Macht.

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