Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben – Eine fröhliche Kindheit

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Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben – Eine fröhliche Kindheit
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Inhalt

Impressum 2

Kapitel 1 3

Kapitel 2 23

Kapitel 3 48

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2022 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99107-948-4

ISBN e-book: 978-3-99107-949-1

Lektorat: Hannah Lackner

Umschlagfoto: Edelgard Moskaliuk

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Innenabbildungen:

Bilder 1, 2, 4, 6, 7, 11, 12 © Edelgard Moskaliuk

Bild 3 © Heidemarie Steigerwald

Bilder 5, 8, 10 © Herbert Glücks

Bild 9 © Heinrich Glücks

Kapitel 1

„Vergass dei Hamit net“, dieser Spruch stand eingraviert auf einem mit Blumen bemalten Holzteller. Eine liebe Frau aus der Gemeinde überreichte uns diesen Schmuckteller zum Abschied von Dierdorf. Meine Heimat vergessen? Nein, das würde nie geschehen. Dort in Dierdorf hatte ich eine überaus wichtige und schöne Zeit meines Lebens verbringen dürfen: Meine Kindheit. Davon soll in meinem Buch die Rede sein. Die Leserschaft möchte ich mitnehmen in den Alltag einer Familie mit sieben lebhaften Kindern. Dabei fällt der Lichtkegel auf das Mädchen Marie mit den langen Zöpfen und den wachen, blauen Augen, die voller Neugier ihre kleine Welt erobert.

Und nun sind wir schon mitten im Geschehen. Ein weißer VW-Käfer biegt in die Pfarrstraße ein. Eine Hand voll Kinder drückt sich die Nasen am Autofenster platt. „Vati, sind wir gleich da?“ „Ja, seht ihr am Ende der Straße das weiße große Haus? Das ist unser neues Zuhause.“ Auf dem weitläufigen Platz vor dem Haus hält Vater an. Aus dem Wagen springen eins, zwei, drei, vier, fünf Kinder. Sie mögen zwei bis dreizehn Jahre alt sein. Die Mutter trägt das sechste auf dem Arm, es ist während der langen Fahrt eingeschlafen. Das siebente Kind lässt noch auf sich warten. Aber da steht der Möbelwagen vor der Eingangstür, die Möbelpacker schleppen ächzend die letzten Tische und Stühle ins Haus. Bald sind sie fertig und der Lastkraftwagen fährt fort. Nun ist der Blick frei auf die Eingangstür. Drei Treppenstufen führen zu einer schweren Holztür mit zwei Flügeln. Aber was ist das? Einige Männer und Frauen stellen sich in zwei Reihen auf die Stufen, und nun ertönt ein lauter und schöner Gesang „Lobet den Herren, alle, die ihn ehren …“ Marie kennt dieses Lied gut und möchte am liebsten mitsingen. Nun vernimmt sie Vatis wohlklingende, alles übertönende Stimme. Da singt auch Marie freudig mit. „Das ist aber ein schöner Empfang“, hört sie Vati sagen. „Wenn der Kirchenchor uns ein so fröhliches Loblied singt.“ Da tritt ein Mann vor und richtet ein paar Worte an die Familie: „Liebe Pfarrersfamilie, wir freuen uns sehr, dass Sie heute in das Pfarrhaus einziehen. Wir wünschen Ihnen, lieber Herr Pfarrer, eine gesegnete und glückliche Zeit in unserer Gemeinde.“ So oder ähnlich werden die Begrüßungsworte geklungen haben. Dann überreicht eine Frau unserer Mutter ein Bauernbrot und ein Päckchen Salz. Das ist ein guter alter Brauch beim Einzug in ein Haus, insbesondere auf dem Land. Endlich ist es soweit, die Familie darf ihr neues Zuhause beziehen. „Langsam Kinder“, sagt Vater, dabei würde Marie gerne so schnell wie möglich das Kinderzimmer sehen. Aber zuerst werden die Räume im Erdgeschoss begutachtet: Das geräumige Esszimmer, die zweckmäßig eingerichtete Küche, ein gemütliches Wohnzimmer mit Kachelofen und Vatis Arbeitszimmer. Ich sehe im Geiste Vati an seinem großen Schreibtisch sitzen, er denkt angestrengt nach, während er an seiner dicken Zigarre zieht. Das ganze Zimmer ist mit Qualm erfüllt, der Duft der guten Havanna-Zigarre steigt mir noch heute in die Nase und erinnert mich an glückliche Tage. Aber die Hausführung ist ja noch nicht zu Ende. Geradeaus ist die Tür zum Garten, und schon wollen die Kinder losstürmen. Ja, den Garten möchten wir natürlich sofort anschauen. Dazu ist es aber zu spät, die Dunkelheit bricht schon herein. Morgen ist dafür auch noch Gelegenheit.


Eine breite knarrende Holztreppe führt in das obere Geschoss des Hauses. Wie oft sind wir Kinder diese Treppe wagemutig hinuntergesprungen oder am Geländer bis nach unten gerutscht! Im ersten Stockwerk des Hauses sind die Schlafräume: Ein Kinderzimmer für die drei Kleinsten in der Familie, ein „Eckzimmer“, das Maries ältere Schwester beziehen darf, ein Elternschlafzimmer und zwei Räume für die Buben. An Platz mangelt es also wirklich nicht, aber zum Toben und Herumtollen kann die Wohnung nicht groß genug sein. Mutti bringt die Kinder zu Bett. Das Abendessen gibt es für die drei Mädchen im Zimmer. Marie ist glücklich und zufrieden, aber auch sehr müde. Das war ein aufregender Tag!

Am nächsten Morgen hört man vom nahen Kirchturm ein Glockengeläut. Marie wacht auf, sie läuft ans Fenster und schaut hinaus. Ihr wird schnell bewusst: „Ach, ich bin ja in einem neuen Zuhause.“ Sie kann die ganze Pfarrstraße einsehen und den schmalen Weg zur Kirche, der sich unweit vom Pfarrhaus befindet. Inzwischen sind auch ihre Geschwister wach geworden. Jetzt aber schnell aufgestanden, es gibt noch viel Neues zu entdecken. Mutti ruft schon zum Frühstück. Die gemeinsamen Mahlzeiten nimmt die Familie im Esszimmer ein. Vati schneidet das knusprige Bauernbrot in dicke Scheiben, dazu gibt es Butter und selbstgemachte Marmelade, frische Bauernmilch mit oder ohne Kakao. Das schmeckt allen gut.


Marie ist schon ganz zappelig, sie möchte am liebsten gleich aufspringen und den Garten anschauen, aber das geht nicht, frühzeitig vom Tisch aufstehen. Die Eltern legen großen Wert auf das gemeinsame Tun in der Familie. Nach dem Morgengebet und einem Lied sagt Vati: „Kinder, zieht euch warm an, noch ist es recht kalt, und dann hinaus in den Garten mit euch.“ Marie steht schon fertig da, sie ist ganz gespannt auf ihre neue Umgebung. Und was es da alles zu entdecken gibt: Eine geräumige Terrasse für gemütliche Sommertage, eine große Wiese mit Obstbäumen, ein Feld für den Gemüseanbau, verschiedene Blumenbeete, ein Rosengarten, Büsche und Bäume und drum herum eine hohe Steinmauer. Da sind mehr als genug Möglichkeiten für die Kinderschar, zu spielen und sich auszutoben. Das ist ja ein wahres Paradies! Ja, das war es wirklich für uns Kinder. Täglich dachten wir uns neue Spiele aus. Wir spielten Verstecken und Nachlaufen, machten Ballspiele, bauten uns abenteuerliche Buden in den Kletterbäumen und dachten uns Rollenspiele aus. Als Vati noch eine große Schaukel bauen ließ, war die Freude groß. Marie schaukelte um ihr Leben gern, da konnte sie in die Höhe fliegen, fast bis in die Wolken, stellte sie sich vor. Das Mädchen Marie war im Spiel sehr einfallsreich und steckte mit ihrer großen Fantasie ihre jüngeren Geschwister mit an. Die Kleinen bekamen manchmal richtige Angst, wenn Marie es zu heftig trieb: „Achtung, die Indianer kommen, schnell rudert so rasch ihr könnt, sie sind hinter euch her“, so trieb sie die kleinen Geschwister an. Wer würde sich da nicht ängstigen und um sein Leben kämpfen? Zum Glück hatten die Rollenspiele doch ein friedvolles Ende. „Heute spielen wir Schule“, so verkündete Marie eines Tages. Schon wurden provisorische Schultische und Bänke aufgestellt. Die gestrenge Lehrerin Marie bringt den Kindern das Lesen, Schreiben und Rechnen bei und vor allem das ordentliche und richtige Verhalten in der Schule. Woher sie das wohl hat? Ihr Bruder kommt dazu und will auch mitspielen. „Aber nur, wenn du dich hier ordentlich benimmst“, meint Marie. Als hätte sie es geahnt, wird es dem Bruder bald langweilig, er versucht, das ernste Schulgeschehen zu stören. Da hat er aber nicht mit der resoluten Marie gerechnet. Die Lehrerin lässt nicht mit sich spaßen. „Hier werden jetzt keine Faxen gemacht, hier wird gelernt!“ Sie schlägt zur Unterstreichung ihrer Worte mit dem Zeigestock auf den Tisch. Der Bruder zieht es doch lieber vor, das Weite zu suchen und etwas Lustigeres zu spielen.


Die gespielte Schulszene erinnert an das nächste einschneidende Ereignis in Maries Leben: Der Eintritt in die Schule. Damals war es noch üblich, die Schulanfänger vor Ostern einzuschulen, es war genau der erste April. Marie, wie könnte es anders sein, freute sich auf das Lernen in der Schule. Bisher hatte Mutti die Bilderbücher vorgelesen und Geschichten erzählt. Nun war Marie begierig darauf, endlich das Lesen zu lernen. Sie wollte doch die schönen Bücher und Geschichten selber lesen können. Der ereignisreiche Tag rückte immer näher. Natürlich war das Mädchen ziemlich aufgeregt. Wie würde nur alles werden? Ob die Lehrerin lieb und nett ist oder gar streng und ungerecht? Für den Tag der Einschulung hatte Mutti besonders schöne Anziehsachen für Marie besorgt: Ein Trachtenröckchen, dazu eine weiße Bluse und eine Trachtenjacke mit Blumen bestickt. Ich sehe die kleine Marie mit ihren frisch geflochtenen Zöpfen, einem Ranzen auf dem Rücken, eine bunte Schultüte im Arm, nun doch etwas still und ängstlich an der Hand von Mutter. Vor der Schultüre drängten sich schon andere ABC-Schützen mit ihren Müttern. Jetzt ging es ins Klassenzimmer, dort wartete die Lehrerin auf ihre Neulinge.

 

Der erste Eindruck, den man von einem Menschen gewinnt, ist oft der alles Entscheidende. Was ging wohl in Marie vor, bei der ersten Begegnung mit ihrer Lehrerin? „Sie sieht ganz schön streng aus, naja, sie ist auch schon älter und hübsch ist sie auch nicht“, so oder ähnlich wird Maries Urteil ausgefallen sein. Und jetzt hörte sie die Lehrerin sprechen, sie hieß Frau Stumm. „Die beiden Buben setzen sich auf diese Bank.“ Aha, nun wurden den Kindern die Plätze zugewiesen. „Die Geschwisterkinder, Marie und Christian, kommen hierhin auf die erste Bank.“ Ach so, ich habe ganz vergessen zu erwähnen, mein Bruder wurde mit mir eingeschult, er durfte noch ein Jahr länger unbeschwert Kind sein. Nach der Platzzuweisung fing nun endlich die Schule an. Die Eltern mussten natürlich zuvor das Klassenzimmer verlassen. Sie taten es mit zum Teil besorgten Gesichtern. „So Kinder, jetzt seid ihr in der Schule“, hörte Marie die Lehrerin sagen. „Ich hoffe, ihr habt euch auf die Schule gefreut. Wer gut folgt, der kann bald lesen, rechnen und schreiben. Wir fangen mit dem Lesen und Schreiben an. Ich schreibe euch einen Buchstaben an die Tafel. Das ist das kleine i, ein Strich mit einem Punkt darauf. Holt eure Tafel heraus und schreibt das i darauf, die ganze Tafel voll.“ Oh, das ist anstrengend! Schon bald fühlte sich der Arm schwer an. Aber irgendwann ist die Tafel vollgeschrieben mit dem kleinen i. „Und nun nehmt ihr euren Zeichenblock und malt ein schönes Bild vom Osterhasen, es ist ja bald Ostern.“ Diese Aufgabe erschien Marie recht schwer. Sie malte zwar sehr gerne, aber einen Osterhasen mit seinen langen Sprungbeinen und den Hasenohren hatte sie noch nie gemalt. Sie fühlte sich der Aufgabe nicht gewachsen. Hilfesuchend schaute sie ihren Bruder an. Auch er schüttelte den Kopf. Und ich weiß nicht, wer zuerst anfing: Aber da kullerten auf einmal Tränen aus Maries Augen auf ihr Zeichenblatt, und jetzt fing der sonst so pfiffige Bruder auch an zu weinen. Die Lehrerin bemerkte die weinenden Geschwisterkinder. „Was fehlt euch denn?“, fragt sie die beiden. „Wir können keinen Hasen malen“, stieß es unter Schluchzen aus Marie hervor. „Ach“, sagte Frau Stumm „das haben wir gleich. Schaut her! Der Bauch ist ein Kreis, der Kopf ist ein Kreis, die Hasenohren darauf, ein kleiner Kreis als Schwanz, zwei Pünktchen die Augen. Ein Strich die Nase, fertig ist der Osterhase.“ Marie und ihr Bruder schauten verblüfft. So einfach geht das, wir dachten, es solle ein springender Hase auf dem Feld sein, ein der Wirklichkeit entsprechendes Tier. Solch einen einfachen Hasen hätten wir auch geschafft. Diese Gedanken äußerten sie wohlweislich nicht vor der Lehrerin, die doch so hilfreich war. Im Nu war die Schulstunde vorbei und es hieß: „Kinder, jetzt dürft ihr wieder nach Hause gehen. Morgen lernen wir weiter. Hoffentlich hat es euch heute in der Schule gefallen.“ Naja, dachte Marie, in meiner Spielschule geht es lustiger zu. Meine kleinen Schüler dürfen Geschichten erzählen, Bilderbücher anschauen und fröhliche Lieder singen. Die sechsjährige Marie war der damaligen Unterrichtsmethodik und Didaktik wohl schon voraus, indem sie in ihrem Spiel einen ganzheitlichen Unterricht praktizierte.

Nun ist Marie eine Schülerin geworden, mit manchen Verpflichtungen und Aufgaben. Sie lernt fleißig, macht ihre Hausaufgaben gewissenhaft und hört im Unterricht voller Aufmerksamkeit zu. Es würde mich nicht wundern, wenn sie schon nach kurzer Zeit eine gute Lesefertigkeit erworben hat. So kann sie doch endlich die schönen Bücher über Tiere und Pflanzen lesen, die zu Hause im Bücherschrank stehen. Daheim sitzt Marie jetzt oft in einer ruhigen Ecke, wenn es die überhaupt in diesem Haus mit den lebhaften Kindern gibt, und ist in ein Buch vertieft. Wenn Mutti dazukommt, sagt sie: „So, Marie, jetzt liest du noch zwei Seiten und dann gehst du hinaus an die frische Luft zum Spielen.“ Mutti ist es immer wichtig, dass die Kinder sich viel im Freien bewegen und frische Luft tanken. Und das tun wir Kinder auch. Inzwischen hat sich das Spielumfeld vergrößert, nachdem die Geschwister den Garten erobert haben, geht es hinaus auf den großen Pfarrhof. Dort treffen sie auf einige Nachbarskinder, mit ihnen werden Spiele ausgedacht wie „Büchsenpeter“ oder „Alle frei“. Zuerst haben wir allerdings einige Schwierigkeiten in der Verständigung. Den Westerwälder Dialekt zu verstehen, geschweige denn zu sprechen, ist nicht so einfach. Aber Kinder lernen eine Sprache oft leichter als die Erwachsenen. Marie übernimmt recht schnell den typischen „Singsang“ im Westerwälder Dialekt, und schon bald heißt es nach jedem Satz „gell“. Aber nun lassen wir das Mädchen jeden Tag fröhlich zur Schule gehen und fleißig lernen. Nur hin und wieder werfen wir einen Blick ins Klassenzimmer, um zu sehen, wie es Marie geht.

Schauen wir doch der Kinderschar auf dem Pfarrhof noch eine Weile zu. Beim Spiel mit den Nachbarskindern geht es manchmal recht laut zu. Da hört man ein durchdringendes Rufen „Alle frei!“ oder „Alle ins Versteck!“ Manchmal geht dann das Fenster von Vatis Arbeitszimmer auf und eine laute Stimme ruft: „Kinder, könnt ihr etwas leiser spielen?“ Ach, richtig, es ist Samstag und der Herr Pfarrer, unser Vater, macht die Predigt. Da heißt es, leise zu sein und Rücksicht zu nehmen. Die Kinder brechen ihr Spiel lieber ab, es ist sowieso Zeit, ins Haus zu gehen, es wird ja schon dämmerig.

Bald ist Ostern, ein Fest, auf das sich alle freuen. In der Woche vor dem Osterfest hat Vati viele Gottesdienste zu halten. Da gibt es Tage, die heißen „Gründonnerstag“, „Karfreitag“, und „Karsamstag“, erfährt Marie. Vati erklärt uns auch, was ein „Abendmahl“ ist. Nur eigenartig ist es, dass dieses „Abendmahl“ morgens gefeiert wird. Für das besagte Mahl bedarf es einiger Vorbereitungen, an denen wir Kinder wesentlich mitbeteiligt sind. Vati hat beim Bäcker ein frisches Weißbrot in Kastenform bestellt. Dieses muss in kleine Würfel geschnitten werden. Ich sehe uns Geschwister um den Tisch herumsitzen. Vater nimmt ein scharfes Brotmesser und schneidet zunächst die dunklere Rinde des Brotes ab. Auf diesen Moment haben wir gewartet. Reihum fällt für jeden ein Stück knusprige Brotrinde ab. Auch Marie bekommt ihren Teil. Wie gut eine Brotkruste schmecken kann! Vati hat inzwischen das übrige Weißbrot zurechtgeschnitten, jetzt schichtet er die Brotwürfel fein säuberlich auf einen Silberteller. So, geschafft, die Gemeinde kann zum Tisch des Herrn kommen und das Abendmahl miteinander feiern. Im Gottesdienst legt Vati jedem Gottesdienstbesucher ein Stück Brot in die offene Hand mit den Worten: „Jesus Christus spricht, dies ist mein Leib, der für euch gegeben ist, solches tut zu meinem Gedächtnis.“ Auch wenn Marie diese Worte noch nicht versteht, sie fallen doch tief in ihr Herz. Nach einer ruhigen und besinnlichen Karwoche, ist endlich das Osterfest gekommen, und mit ihm erinnert man sich an die guten alten Bräuche wie Ostereierfärben, Palmzweige schmücken, Osterkörbchen basteln, einen Hefezopf backen, Osternester im Garten vorbereiten in der Hoffnung, dass der Osterhase sie entdeckt und etwas Gutes hineinlegt. Marie weiß nicht so recht, ob sie an den Osterhasen glauben soll. Aber sie malt viele schöne Frühlingsbilder mit Osterhasen darauf. Inzwischen kann sie lustige Hasen ganz gut malen, auch wenn es nur schablonenhafte Tiere sind.

Es ist Ostermorgen, die Sonne scheint warm und hell. Im Haus der Pfarrersfamilie hört man schon zeitiger als sonst Wasser rauschen, Treppen knarren und Türen zuschlagen. Auch Marie ist früher wach als sonst. Auf Zehenspitzen schleicht sie ins Badezimmer. Von dort kann sie in den Garten schauen. Ob der Osterhase schon da war? Da sieht sie Vati an der Mauer, er hat etwas Buntes in der Hand, es könnte ein Osterei sein, und er steckt es in eine Mauerritze. Auf der Terrasse bückt er sich und versteckt ein weiteres Ei zwischen den Osterglocken. Also, dann ist Vati der Osterhase, von dem die Erwachsenen immer so heimlich reden! Jetzt weiß Marie Bescheid. Inzwischen sind alle Familienmitglieder erwacht. Die Kinder können es gar nicht erwarten, Osternester und Ostereier zu suchen. Nun ist es endlich soweit, alle Kinder strömen aus und suchen in den entlegensten Ecken nach den bunten Ostereiern. Jedes Kind findet ein Osterkörbchen. „Da hat es aber der Osterhase gut mit euch gemeint“, sagt Mutti. Marie entgegnet nichts und lässt sich auch nichts anmerken, sie ist nur etwas nachdenklicher als sonst. Nach der Ostereiersuche gibt es ein gutes, reichhaltiges Osterfrühstück. Die ganze Familie stimmt in ein fröhliches Lied ein: „Ostern ist heut, wir sind erfreut, weil der Herr Jesus Christ heut auferstanden ist“.

Das ist ein Grund zur Freude! Neues Leben ist erwacht, auch in der Natur. Im Garten sind die ersten Frühlingsboten zu sehen, gelbe Winterlinge und Schneeglöckchen, aber hier im Westerwald dauert der Winter länger an, so erklärt es uns Vati. „Heute Nachmittag machen wir einen schönen Ausflug in den Wald, dann zeige ich euch eine Stelle, wo ganz viele Märzenbecher wachsen und blühen.“ Nach der Mittagspause heißt es: „Alle ins Auto einsteigen! Es geht los!“ Marie freut sich sehr, denn den Wald liebt sie über alles. Dort riecht es so gut nach frischem Moos, nach Tannen und Pilzen. Die Fahrt dauert nicht lange. Alle steigen aus, und schon wandert die Familie auf einem schmalen Waldweg tiefer in den Wald hinein. Auf einmal ruft Mutti: „Schaut doch mal, Kinder, rechts und links am Weg sehe ich etwas blitzen, ich glaube, der Osterhase hat hier auch bunte Eier versteckt.“ Und tatsächlich, Marie findet als Erste kleine Schokoladeneier im Gestrüpp und einen Hasen aus Schokolade. Jetzt kommt das Mädchen sehr ins Grübeln. Es gibt also doch einen Osterhasen, er lebt wirklich hier im Wald! Nun ist die Welt für Marie wieder in Ordnung und sie springt vor lauter Freude um Mutti herum. Wenig später zeigt Vati den Kindern die blühenden Märzenbecher. Ein ganzer Hang ist damit bewachsen. Wie schön doch die Natur ist!

Fast jeden Sonntag unternimmt die Familie einen Ausflug in die nähere Umgebung. Den Eltern ist es wichtig, uns Kindern die Schönheiten der Natur zu zeigen, wir sollen diese mit allen Sinnen erfahren und erleben.

Inzwischen hat der Frühling auch im letzten Winkel des Westerwaldes Einzug gehalten. Im Garten entfaltet sich eine Vielzahl von Blumen: Tulpen, Narzissen, eine ganze Wiese voll Gänseblümchen, später dann Rosen in verschiedenen Farben, ein Strauch Heckenrosen, hoch gewachsener Rittersporn, Goldlack, Margeriten. In seiner freien Zeit arbeitet Vati gerne im Garten, er gräbt die schwere Erde im Gemüsegarten um, beschneidet die Rosenstöcke, entfernt Unkraut, sät und pflanzt. Darin ist er uns Kindern ein großes Vorbild. Ernten tut unser Vater besonders gern. Wenn er mit einer ganzen Schüssel voll frischer Erdbeeren in der Küche erscheint, ist unsere Mutter hoch erfreut und spart nicht mit anerkennendem Lob. Am Nachmittag gibt es einen frischen Erdbeerkuchen und alle sind glücklich.

Eines Tages schlägt uns Vati vor: „Wie wäre es Kinder, wenn jeder von euch ein kleines Beet im Garten selber abstecken und bepflanzen würde? Schaut, hier unterhalb der Terrasse ist ein geeigneter Platz frei.“ „Ja, das ist eine gute Idee, das machen wir, Vati!“, ruft auch Marie begeistert. Und so wird jedem Kind ein Beet abgeteilt. Für dieses Stück Erde ist es nun ganz alleine verantwortlich. Welch pädagogisch wertvolle Erziehungsmaßnahme von Seiten unserer Eltern!

Marie hat schon eine Vorstellung, wie ihr kleines Beet aussehen soll. Sie will ihre Lieblingsblumen säen, Rittersporn und Margeriten. Außerdem braucht sie im Hintergrund einen Stock Kletterrosen. Ja, einen kleinen Teich soll ihr Garten auch haben. Da hat sie schon eine geniale Idee. Sie sucht im Keller nach einer leeren, kleinen Fleischkonservendose, gräbt diese in ein Erdloch, sodass nur noch der Rand der Dose zu sehen ist. Dann füllt sie ihren „Teich“ mit Wasser und lässt ein paar Blätter als Seerosen darauf schwimmen. Das sieht fast echt aus, denkt Marie. Aber jetzt fehlt noch ein Gartenzwerg, am besten eine kleine Figur, die am Rande ihres Teiches sitzt und angelt. Im Haushaltswarengeschäft hat sie ähnliche Zwerge gesehen. Sie bittet Mutti um etwas Geld und marschiert los. Tatsächlich findet sie eine kleine Tonfigur, sitzend und mit einer Angel in der Hand, die ihren Vorstellungen entspricht. Marie findet ihr Beet rundherum schön. Wenn doch nur bald die Blumen blühen würden! Täglich gießt die kleine Gärtnerin ihr Beet, das sie noch mit Steinen eingefasst hat. Und wirklich, im Sommer blühen blaue, weiße und rote Blumen auf ihrem Stückchen Erde, und der putzige Zwerg angelt unermüdlich dazu.

 

„Komm, lieber Mai und mache die Bäume wieder grün …“ So höre ich Mutti in der Küche singen. Unsere Eltern haben viel und oft mit uns gesungen, bei jeder Gelegenheit, und so lernten wir viele wertvolle Lieder kennen. Für diesen „Schatz“ an Liedern bin ich unendlich dankbar. Lieder können in manchen Situationen sehr hilfreich und wegweisend sein.

Ach ja, wir wollten doch ab und zu ins Klassenzimmer schauen, um zu sehen, wie es dem Mädchen Marie geht. Aus der kleinen Marie ist ein größeres Mädchen geworden, das zielstrebig und verantwortungsvoll seinen Weg geht. Wenn ich richtig sehe, steht nicht Frau Stumm im Klassenzimmer, die Erstklassenlehrerin vor den Schülern, sondern ein Lehrer. Er scheint noch jung zu sein und hat einen fröhlichen Gesichtsausdruck. Richtig, der neue Lehrer ist ein Referendar, der sich auf das Lehramt vorbereitet. Marie ist ganz glücklich, diesen Lehrer zu haben, er ist stets freundlich und lustig und kann die Schulkinder leicht zum Lernen motivieren. Das Mädchen verehrt diesen Lehrer geradezu und errötet, wenn sie ihn im Dorf antrifft. Leider konnte dieser Junglehrer nicht lange an der Schule bleiben.

„Darf ich auch einmal deine Hefte anschauen, Marie?“,so wird sie eines Tages von Muttis Freundin gefragt. „Ja, natürlich. Hier ist mein Rechenheft.“ „Oh, ihr rechnet ja schon mit ‚Geteilt durch‘!“. „Ja, und hier ist mein Schönschreibheft.“ „Deine Schrift ist wirklich schön. Da ist noch ein Heft mit rotem Umschlag.“ „Das ist das Heft für Aufsätze.“ „Du hast ja schon einen Aufsatz geschrieben, Marie. Was ich einmal werden möchte.“ Das ist nicht schwer zu erraten. Da steht mit großen Buchstaben: „Ich werde Lehrerin.“ Marie wusste schon als Sechsjährige, was sie in ihrem Leben einmal tun würde: Kindern das Lesen, Schreiben und Rechnen beibringen. Und so steht es in ihrem Aufsatz: „Die Schulkinder sollen auch viele Lieder lernen, sie müssen den Westerwald mit seinen Tieren, Pflanzen und Bergen kennenlernen. Ich will den Schülern Geschichten erzählen, auch die von Jesus und seinen Wundern.“ Der Aufsatz schließt mit der Aussage: „Ich weiß noch nicht, ob ich in die Volksschule gehe oder in die Höhere Schule.“ Der Lehrer hat bei der Korrektur das „in“ rot unterstrichen. Er erklärt es Marie so: „Als Schüler gehst du in die Schule, als Lehrer unterrichtest du an einer Schule.“ Das begreift das Mädchen jetzt noch nicht, irgendwann wird sie auch dies verstehen. „Danke, Marie, dass ich deine Hefte anschauen durften. Nun folge dem Unterricht wieder aufmerksam.“ Das braucht man Marie nicht zweimal zu sagen. Sie hört sehr konzentriert zu, wenn der Lehrer spricht, leider beteiligt sich die Schülerin kaum am Unterricht. In ihrem Zeugnis steht regelmäßig unter Mitarbeit: „Sie ist zu still. Den Lehrern gelingt es nicht, das Mädchen aus der Reserve zu locken und ihr Selbstbewusstsein zu stärken.“ Wenn die Lehrer wüssten, wie lebhaft, laut und selbstbewusst Marie daheim auftritt im geschützten Kreis ihrer Familie. Sie würden das Kind nicht wiedererkennen. Marie jedoch wird ihren Weg zielstrebig finden.

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