Schalkowskis Bewegungen zwischen Zoppot und Asgard

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Schalkowskis Bewegungen zwischen Zoppot und Asgard
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Inhaltsverzeichnis

Impressum 3

Widmung 4

Zitat 5

Prolog – In einer anderen Welt 6

1. Kapitel: Stationen 7

Zwischenspiel #1 13

2. Kapitel: Jugend im Osten 15

Zwischenspiel #2 17

3. Kapitel: Hilde – auf Umwegen 18

Zwischenspiel #3 25

4. Kapitel: Der sinnlose Krieg 26

Zwischenspiel #4 30

5. Kapitel: Und tausend Jahre sind wie ein Tag … 32

Zwischenspiel #5 36

6. Kapitel: Lehr- und Herrenjahre 37

Zwischenspiel #6 45

7. Kapitel: Im pädagogischen Himmel 46

Zwischenspiel #7 48

8. Kapitel: Die Jahre in Niendorf 50

Zwischenspiel #8 52

9. Kapitel: Im Mittelpunkt: die Menschen 54

Zwischenspiel #9 58

10. Kapitel: Der Übergang zum Paradies 60

Epilog 92

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2022 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99131-145-4

ISBN e-book: 978-3-99131-146-1

Lektorat: Leon Haußmann

Umschlagfoto: Nikolay Stoimenov, Frenta | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Widmung

Zur Erinnerung an meinen Vater

Zitat

Führet alle mit euch in Liebe und Pflicht!

Lasset keinen zurück auf dem Wege zum Licht!

Peter Rosegger

Prolog – In einer anderen Welt

„Schalkowski ist unser Mann.“

„Einverstanden, wenn unsere Macht noch ausreicht.“

„Die leichte Dämmerung da draußen ist noch kein Untergang. – Aber warum eigentlich Schalkowski?“

Das Quellwasser murmelt zeitlos und leise. Zwei weiße Schwäne leuchten auf dem dunklen Wasser des Sees.

1. Kapitel: Stationen

Benommen erwachte er nach unruhiger Nacht, richtete sich auf und rieb sich die Augen. Immer diese Träume! Die Frau neben ihm schlief traumlos und friedlich. Dunkelgraues hinter der weißen Gardine. Er schüttelte die Müdigkeit ab. Der Morgen kam nicht erfrischend in die Petersgrube; ermunternde Helle hätte seinem Ehrentag heute den nötigen Glanz verleihen können.

Einmal quer durch das Land zwischen den Meeren, von Nordwest nach Südost. Schwere wässerige Schneeflocken gingen in Regen über. Der Scheibenwischer gab den Takt vor, der regionale Radiosender lieferte Musik – störungsfrei, aber ignorant. Von innen beschlugen die Scheiben, Kurznachrichten folgten.

Die Reisenden ließen Bad Segeberg links liegen, Erinnerungen an längst vergangene Karl-May-Festspiele an sommerlichen Tagen wurden laut. Und bald waren sie am Ziel. Der Fahrer kannte sich aus, hier hatte er seine Frau kennengelernt. Vorbei an den Schwartauer Werken lenkte er den Wagen einige Straßen weiter in das Waldstück Riesebusch, wo sich der Parkplatz des Ausflugslokals an der Schwartau allmählich füllte. In freudiger Erwartung und im Laufschritt erreichten die drei Enkeltöchter, die Schwiegertochter und der einzige Sohn den ansprechenden Eingang und hielten bald ein feines Begrüßungsgetränk in Händen.

„Werte Gäste,

jeder von euch weiß, warum wir uns heute hier versammelt haben. Und als Junior, der mittlerweile auch in die Jahre kommt, ist es mir eine liebe Aufgabe, euch alle hier zu begrüßen und meinen Vater Günther Schalkowski an diesem besonderen Tage zu würdigen.

Geburtsjahr 1916: Es herrscht Krieg, der Kampf um Verdun tobt. – Der Mediziner Ferdinand Sauerbruch erfindet aus gutem Grund bewegliche Prothesen. – Nach der Seeschlacht im Skagerrak liegen 178 000 t Eisen mit Mann und Maus versenkt am Meeresgrund. – Tiefpunkte eines Jahres, Höhepunkte gibt es nicht. Doch in Tiegenhof, südlich von Danzig, heute Nowy Dwór, herrscht Freude am 23. Februar, zu Recht, für die glücklichen Eltern damals und natürlich auch für uns heute, genau 80 Jahre später. Dazwischen ist viel passiert.“

Der Laudator erwähnte die wichtigsten Lebensstationen Schalkowskis und hieß die entsprechenden Wegbegleiter herzlich willkommen, in gebotener Kürze natürlich, wie er meinte. Das warme Buffet wurde in einer Ecke des Festsaales aufgebaut, es duftete schon anregend, doch der Worte waren noch nicht genug gefallen:

„Bei einem 80. Geburtstag muss man Rückschau halten; doch mein Rückblick ist kein Schnee von gestern, sondern zeigt Lichtspuren auf, die ein Leben beleuchten, das in Bewegung war und uns bewegt.

Lieber Papa, aus deinen schriftlichen Erinnerungen trage ich nun, dein Einverständnis voraussetzend, das Kapitel ‚Klassenfahrt in die Zukunft‘ vor, das eine Brücke schlägt zwischen dem Einst und Jetzt.“

„Hilde und ich betrachten das Land Schleswig-Holstein als unsere zweite Heimat, die wir zu schätzen gelernt haben und immer noch sehr mögen. Seit über fünfzig Jahren leben wir hier und wohnten an verschiedenen Orten. Wir gingen unserer beruflichen Tätigkeit nach, waren und sind verbunden mit freundlichen Kollegen und guten Freunden. Unser ältestes Kind Gert-Jürgen und Hildes Eltern liegen hier begraben; der zweite Sohn Heinz Günther ist hier geboren. Und Lübeck ist nun unser Altersruhesitz.

Es gibt Zusammenhänge, die zurückführen in die Vergangenheit in unser Geburtsland, als wir noch nicht ahnen konnten, dass die Zukunft im Norden liegen würde. Bereits im Jahre 1933 habe ich hier unbewusst Markierungspunkte setzen können, deren Aufsuchen und Auffinden mich immer wieder bewegen. Als Oberprimaner ging ich im Sommer 1933 zum Schulabschluss auf Klassenfahrt, die mich nach Lübeck, Schleswig-Holstein und Hamburg führte. Wir sollten die beiden großen Hansestädte sowie die Kriegsmarinestadt Kiel und die Holsteinische Schweiz kennen lernen. Noch heute klingen in meinem Gedächtnis die freudige Erregung und hohe Erwartung nach, die meine Mitschüler und mich damals ergriffen hatten; war es doch für alle die erste große Reise ins kaum erreichbare Altreich. Diese Klassenfahrt erfolgte zweckmäßigerweise auf dem Seeweg. Die Seereise begann an einem Nachmittag in Zoppot und endete am nächsten Morgen in Lübeck-Travemünde.

Das Deutsche Reich unterhielt damals den „Seedienst Ostpreußen“, um den Reisenden, die vom abgetrennten Ostpreußen und auch vom Freistaat Danzig ins Altreich fahren wollten, die auf dem Landweg manchmal unangenehmen Zollformalitäten zu ersparen. Dieser Seedienst verkehrte zwischen Pillau und Travemünde und bediente auf seiner Route die Ostseehäfen Zoppot, Swinemünde, Binz und Rostock-Warnemünde und zwar mit den Schiffen PREUSSEN, HANSESTADT DANZIG und TANNENBERG. Später kamen noch einige andere dazu. Es handelte sich um seetüchtige Schiffe mittlerer Größe, die jedoch kaum mit den heutigen modernen Fährschiffen zu vergleichen sind, da sie keine Kraftfahrzeuge mitnehmen konnten.

Als wir Oberprimaner, vier Jungen und acht Mädchen, vom Zoppoter Seesteg aus auf die PREUSSEN gelangt waren, schlug uns das Herz höher. Es begann eine aufregende, aber eindrucksvolle Seereise, auf welcher uns auch die Seekrankheit nicht verschonte, als sich nachts der frische Wind in einen heftigen Sturm verwandelte. Wir umfuhren zunächst die vertraute Halbinsel Hela und gelangten aufs offene Meer, so dass wir die pommersche und später die mecklenburgische Küste nicht ausmachen konnten. Wir hatten keine Kabinen oder Kojen; wir saßen oder machten uns lang auf den Bänken des Schiffsdecks und fanden dies schön. Wegen des Sturms und der Seekrankheit verlief die Nacht schlaflos. Am Morgen, als die Küste in Sicht kam mit dem Brodtener Steilufer und die Hafeneinfahrt von Travemünde erkennbar wurde und wir bald danach am Ostpreußenkai anlegten, bewegten uns neue Gedanken, obwohl der Boden unter unseren Füßen noch schwankte: Es erfüllte uns die große Neugier auf die Stadt Lübeck, die Königin der Hanse.

 

Nach kurzer Fahrt vom Travemünder Hafenbahnhof bis zum Hauptbahnhof mit der Lübeck-Büchener Eisenbahn hatten wir dann endlich unser Ziel erreicht und betraten den Boden der alten Hansestadt. Beladen mit unserem Reisegepäck erreichten wir, mitten auf der Straße gehend, den nahe gelegenen PLATZ DER DANZIGER FREIHEIT, den heutigen LINDENPLATZ. In jenen Jahren konnte man gefahrlos auf diesen heute verkehrsreichen Lübecker Platz gelangen, und die Straßenbahn stellte keine große Behinderung dar.

Als nach dem ersten Weltkrieg die Stadt Danzig vom Mutterland abgetrennt wurde, gaben die Lübecker diesem innerstädtischen Verkehrsknotenpunkt vor der Puppenbrücke den Namen PLATZ DER DANZIGER FREIHEIT und bekundeten als geschichtsbewusste Hanseaten ihre Verbundenheit mit der Schwesterstadt. Der Platz behielt diesen Namen bis zum Kriegsende 1945 und musste auf Anordnung der britischen Militärregierung umbenannt werden.

Zu unserer Überraschung entdeckten wir in der Mitte des Platzes ein großes, buntes Mosaik: das Wappen der Hansestadt Danzig. An dieser Stelle nun bot sich unseren Augen die mittelalterlich anmutende Stadtsilhouette Lübecks dar, die in ihrer erhabenen Schönheit einem Vergleich mit anderen alten deutschen Städten leicht standhalten kann: Vor uns das berühmte Holstentor mit dem Wahlspruch CONCORDIA DOMI FORIS PAX (Eintracht drinnen, Friede draußen). Auch Danzig hatte einen lateinischen Wahlspruch: NEC TEMERE NEC TIMIDE (Weder voreilig noch furchtsam). Rechts neben dem Holstentor nahmen wir die Salzspeicher wahr, die im Mittelalter das Lüneburger Salz bargen, jenes Handelsgut, das den Wohlstand der Bürger und Seefahrer Lübecks begründete, weil es das einzige wirksame Konservierungsmittel für die als Fastenspeise so wichtigen Heringe darstellte, die südlich von Schonen in der Ostsee gefangen wurden. Hinter den Treppengiebeln dieser Speicher ragte der Petrikirchturm in die Höhe, und weiter rechts tauchten die Türme der Ägidienkirche und des Domes auf. Wahrlich eine Augenweide! Und links vom Holstentor erkannten wir die hochragenden Türme von St. Marien und ganz außen den Kirchturm von St. Jakobi. Sieben Türme der fünf großen backsteingotischen Stadtkirchen boten sich so dem Auge dar. St. Marien ist die größte dieser Kirchen. Die reichen Bürger haben sie absichtlich größer bauen lassen als den von Heinrich dem Löwen gegründeten Dom, der als Bischofskirche doch eigentlich hätte die Nummer eins sein sollen. Die Marienkirche ist die Mutterkirche der nord- und osteuropäischen Gotteshäuser der Backsteingotik. Das ist sie auch für St. Marien in Danzig; jedoch ist diese wie eine feste Burg Gottes noch gewaltiger als die gleichnamige Lübecker Kirche. Die Danziger Marienkirche war damals die größte evangelisch-lutherische Kirche der Welt, und heute ist sie, nachdem sie wieder katholisch wurde, das fünftgrößte Gotteshaus überhaupt.

Diese Gedanken drängten sich mir als Teil der Faszination auf, die dieser PLATZ DER DANZIGER FREIHEIT und das Stadtpanorama auf mich ausgeübt hatten. Hier ist damals unbewusst von mir ein Markierungszeichen gesetzt worden, das mir Orientierung im späteren Leben gab. Als einen weiteren Markierungspunkt darf ich die Straße FEGEFEUER bezeichnen, wo sich die Jugendherberge befand, unser Lübecker Quartier. Die hanseatischen Namensgeber haben sich im Mittelalter etwas dabei gedacht, als sie für diese Straße den Namen FEGEFEUER wählten. Wenn man nämlich geradeaus weiter geht, endet der Weg an der Nordseite des Domes, und man stößt auf das Seitenportal, dessen mit steinernen Skulpturen und Säulen ausgeschmückter Vorbau PARADIES genannt wird. Wer also ins Paradies gelangen will, muss erst einmal durchs Fegefeuer. Heute gehe ich diesen Weg mehrmals im Jahr und empfinde dann stets dieses besondere Gefühl einer Rückkehr in die Jugendzeit.

In Hamburg beeindruckten uns das Chilehaus, der Blick vom Turm des Michels auf Hafen und Stadt und besonders die Hafenrundfahrt. Damals lagen zwei große Pötte der Hamburg Süd am Kai, die KAP POLONIA und die KAP ARKONA. Das erstgenannte Schiff durften wir besichtigen. Ich habe die elegante Einrichtung des Salons später in der Schleihalle in Schleswig wiedergesehen. Die KAP ARKONA und ein weiteres Schiff wurden kurz vor Kriegsende im Frühjahr 1945 in der Lübecker Bucht vor Neustadt durch britische Kampfflugzeuge versenkt. Wenn die Briten gewusst hätten, wen sie dabei in den Tod schickten, hätten sie vermutlich diesen Vernichtungsschlag nicht durchgeführt. An Bord der KAP ARKONA befanden sich nämlich 4 600 ehemalige Insassen aus den Konzentrationslagern Neuengamme bei Hamburg und Stutthof an der Danziger Bucht. Hunderte von Leichen wurden in Neustadt, Haffkrug, Scharbeutz, Timmendorf und Niendorf an den Ostseestrand gespült und mussten beigesetzt werden. Auf dem Niendorfer Friedhof fanden viele ihre letzte Ruhestätte. Auch meine Schwiegermutter Anna liegt hier begraben, sie stammte übrigens aus Stutthof. Für Hilde und mich sind Grabstellen angekauft. – In Niendorf wohnten wir von 1956 bis 1971.

Wieder andere, nicht minder tiefe Eindrücke, hinterließ der Besuch der Marinestadt Kiel. An der Tirpitz-Mole erkundeten wir den Kreuzer KÖNIGSBERG. Die Holtenauer Hochbrücke und die Schleuse des Kaiser-Wilhelm-Kanals, der heute Nord-Ostsee-Kanal heißt, bildeten interessante Besichtigungsobjekte. Kiels Bedeutung als Universitätsstadt vervollständigte das Bild der damaligen Provinzialhauptstadt von Schleswig-Holstein. Unser Sohn Heinz Günther hat später hier sein Studium absolviert. Wenn wir ihn und seine Familie im Kreis Rendsburg-Eckernförde besuchen, gehört jedes Mal ein Spaziergang am Nord-Ostsee-Kanal dazu. Dann kommen wieder diese Erinnerungen an 1933 auf, und ebenso muss ich daran zurückdenken, dass ich im April und Mai 1945 im Rendsburger Reservelazarett, dem heutigen Martinshaus, am Kanalufer lag.

Für die Rückfahrt von Kiel nach Lübeck hatte sich der Leiter unserer Klassenfahrt, Geographielehrer Dr. Kollwitz, ausgedacht, dass wir in Preetz die Zugfahrt unterbrechen und die Holsteinische Schweiz bis Eutin auf Wanderwegen durchqueren. Von Eutin bis Lübeck sollten wir wiederum die Bahn benutzen. Als Kleinod erlebten wir den Ukleisee, den Hilde und ich bis zum heutigen Tage ins Herz geschlossen haben und mindestens einmal jährlich umwandern. Unterhalb des reizvollen ehemaligen Jagdschlösschens des letzten deutschen Kaisers, das heute als Leseraum für Kurgäste genutzt wird, machen wir dann am Seeufer Halt und betreten einen kleinen hölzernen Steg, auf dem wir kurz verweilen. Denn genau hier hatte ich im Sommer 1933 gestanden und mit meinen Schulkameraden auf den romantischen See und den umliegenden Hochwald geschaut.

Einmal noch sind wir dann in Lübeck durchs FEGEFEUER gegangen, um in der Jugendherberge zu übernachten. Anderntags ging es vom Ostpreußenkai in Travemünde auf Seereise, diesmal mit der HANSESTADT DANZIG, und die Klassenfahrt in die Zukunft fand ihr äußerliches Ende. Noch längst nicht beendet aber ist das Nachdenken über Zusammenhänge oder mögliche Fügungen und alles, was sich in mir tief eingeprägt hat.“

Zwischenspiel #1

„Ihr bemerkt, dass Gunthár immer noch Schulmeister ist.“

„Ja klar, das wird deutlich und noch mehr: Gunthár ahnt, dass sein Schicksal nicht nur von Zufälligkeiten abhing, sondern Bestimmungen unterlag, deren Urheberinnen für ihn natürlich nicht fassbar sind.“

„Ich stimme dir zu, es ist doch wunderbar, wenn der Mensch an Fügungen glaubt, meine aber, dass es auch echte Zufälle im Menschenleben gibt, auf die wir keinen Einfluss haben.“

„Die gibt es in der Tat, aber nur, weil wir sie zulassen. Kleinigkeiten gehen uns nichts an. Was meinst du, Skuld?“

„Selbstbestimmung ist ein hohes Gut, doch ich erkenne darin immer mehr einen müden Ausdruck vielfältiger Bedürfnisbefriedigung oder auch nur ein leeres Wort. – Zurück zu Gunthár: Ihm ging es nicht vordergründig darum, sein Leben selbst zu bestimmen, er ließ die Dinge meist auf sich zukommen, fügte sich oft, griff auch mal ein, geringfügig, eben ganz menschlich und lebte glücklich, weil es uns gibt. Wir weben und wissen genau, was gut für ihn ist. Und ich stehe nun vor der schweren Aufgabe, festzulegen, was die Zukunft noch bringen soll. Gunthár ist immerhin 80 Jahre alt und hat ein erfülltes Leben hinter sich.“

Sie unterhalten sich weiter, und Urd beschwört die Vergangenheit herauf; ihr Brunnen plätschert munter dazu wie schon in uralter Zeit. Doch die Weltesche oben beugt sich im Sturm. Im Wurzelbereich herrscht Ruhe. Nidhögg nagt still am Wurzelgeflecht, Ratarösk läuft wieselflink den mächtigen Stamm hinauf, stoppt abrupt, schaut kurz zurück und bewegt sich zackig weiter, mal linksrum, mal nach rechts, Schimpf und Zank im Gepäck.

2. Kapitel: Jugend im Osten

Tief gelegenes, fruchtbares Land im Weichsel-Nogat-Delta umgibt Nowy Dwór Gdanski. Ein feuchter Nordostwind streicht über die Ebene und lässt Menschen frösteln.

1916 hieß diese Kleinstadt Tiegenhof und gehörte zum westpreußischen Kreis Marienburg. Nach Ende des ersten Weltkriegs wurde Tiegenhof Kreisstadt des neu gebildeten Landkreises Großes Werder, der dann mit zwei weiteren Landkreisen das Hinterland der Freien Stadt Danzig ausmachte. Dieses Gebiet wurde nach dem Frieden von Versailles zu einem selbstständigen Staat unter der Oberhoheit des Genfer Völkerbundes, vom deutschen Mutterland gänzlich abgetrennt. Vergeblich protestierten die Bewohner Tiegenhofs, sie waren nicht gefragt worden. Auch Vater Schalkowskis Protest verhallte. Er war nicht so massiv ausgefallen, seine Frau und der gelernte Kaufmann betrieben gerade Nestbau und Brutpflege: Die Kinder hießen Elfriede, Kurt, Irmgard und Günther, das älteste. Johanna, starb im Alter von zwei Jahren.

Die recht verworrenen politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten bildeten den Hintergrund der Kinder- und Schulzeit Schalkowskis. Die evangelische Grundschule und das Realgymnasium sorgten für umfassende Allgemeinbildung und prägten das Werden und Wachsen des Jungen. Besonders seinem Deutschlehrer in der Oberstufe, Studienrat Hans Schrader, gelang es, Schalkowski für Literatur zu begeistern. Er schätzte die poetischen Realisten Wilhelm Raabe, Conrad Ferdinand Meyer und Gottfried Keller; Theodor Storm wurde sein Lieblingsdichter. Seinem Musiklehrer Hugo Ernst verdankte er den Zugang zu klassischer Musik, die Balladenvertonungen von Karl Loewe gefielen ihm über alle Maßen. Ernst brachte ihm auch das Bratschespielen bei, so dass er im Schul- und auch später im Hochschulorchester einigermaßen mitwirken konnte.

Rückblickend bezeichnete Schalkowski seine Kindheit und Schulzeit als eine glückliche Epoche seines Lebens. Vieles fiel ihm zu, harte Arbeiten vermied er. Ein Stubenhocker war er nicht. Aus alten Lumpen und stabilem Bindfaden entstand ein Fußball, der „Ochsenmarkt“ wurde zum Bolzplatz. Dass der Ball nicht aufsprang und rund lief und seine Bahn kaum zu berechnen war, störte die Jungen wenig. Im Sommer tummelten sich die Freunde am Ufer des Flüsschens Tiege zwischen Raiffeisen und Ölmühle, im Winter liefen sie Schlittschuh oder rodelten vom Tiegedamm, wenn das Wetter die passenden Voraussetzungen lieferte, was in der Realität längst nicht immer der Fall war, in der Erinnerung dagegen viel häufiger.

Gleich nach dem Mittagessen liefen die vier Geschwister am Heiligabend zur Großmutter mütterlicherseits, Marie, in die Heinrich-Stobbe-Straße. Nach dem Kaffeetrinken fand hier die erste Bescherung statt. Wenn dann die Dunkelheit aufzog, kehrten die Kinder mit ihrer Oma im Schlepptau und allerlei Geschenken bepackt zur elterlichen Wohnung zurück, wo dann mit Tannenbaum, Weihnachtsliedern, Gedichten, bunten Tellern und weiteren Geschenken das Fest seinen traditionellen Verlauf nahm. Am ersten Feiertag sprach der Pastor im Weihnachtsgottesdienst den Segen Gottes.

In den Sommerferien durfte Günther seine Großeltern väterlicherseits in Danzig besuchen und genoss wenigstens einmal im Jahr den Duft der geschichtsträchtigen Großstadt, die doch so anders war als seine kleine piefige Heimatstadt, an der in Wirklichkeit sein Herz hing.

Nach seiner Konfirmation am Palmsonntag 1930 trat Schalkowski dem Evangelischen Jungmännerverein bei. Auch war er in der Bündischen Jugend aktiv und damit automatisch Mitglied der Deutschen Freischar. Seine Liebe zur Natur und die Freude an ausgiebigen Wanderungen fanden in diesen Gruppen ihre Erfüllung. Neben den Novellisten stand nun auch der „Zupfgeigenhansl“ im Regal; zahlreiche Lesezeichen zeugten von regem Gebrauch.

 

Der Knabe sah sehenden, aber nicht durchdringenden Auges das Aufkommen der nationalsozialistischen Bewegung, bemerkte ihr rapides Anwachsen; seine Jugendgruppen gingen in der Hitlerjugend auf.

So wurden Schalkowski und seine Freunde Mitglieder der HJ.

Zwischenspiel #2

„Zufall, Schicksal, Fügung oder Bestimmung, vielleicht Gottes Wille, so bezeichnet der Mensch das Aufeinandertreffen zukünftiger Lebenspartner, so dass Anziehungskräfte zu greifen vermögen. Gunthár jedenfalls wird den Zufall ausschließen.“

„Er ist bereits auf der Suche.“

„Die Liebe zu lernen, wird seine Aufgabe nun sein, Verantwortung zu tragen und sich Sorgen zu machen, immer wieder.“

„So sei es.“

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