Überleben unter Frauen

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Überleben unter Frauen
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Harry Gaus

Überleben unter Frauen

Essay

AUGUST VON GOETHE LITERATURVERLAG

FRANKFURT A.M. • LONDON • NEW YORK

Die neue Literatur, die – in Erinnerung an die Zusammenarbeit Heinrich Heines und Annette von Droste-Hülshoffs mit der Herausgeberin Elise von Hohenhausen – ein Wagnis ist, steht im Mittelpunkt der Verlagsarbeit.

Das Lektorat nimmt daher Manuskripte an, um deren Einsendung das gebildete Publikum gebeten wird.

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Lektorat: Alexandra Eryiĝit-Klos

ISBN 978-3-8372-2462-7

Vorwort

Vor langer Zeit hatte sich das Schicksal endgültig gegen mich entschieden, als es mir zur Klassifizierung und Stigmatisierung ein kleines Y-Chromosom auf meinen Weg gab. Seitdem herrscht Unruhe in mir, die sich zu Aufruhr und innerem Sturm entfacht, sobald sich ein Lebewesen mit dem ersehnten, verehrten oder gar geliebten Doppel an „X-chen“ sehen, hören oder riechen lässt. Die Hoffnung, das innere Klima würde mit dem Alter milder, hat sich bislang nicht bestätigt; wahrscheinlich wird das heftige Tosen verschwinden, sobald der ewige Schlaf beginnt. Doch dieser Teil des Lebens ist ungerecht: Während einige ihr Leben lang schwelgen, was regelmäßig zu Übersättigung führt, dürsten andere ein Leben lang – wonach? Die Belohnung von Doppel-X-Trägerinnen zu erhoffen, ist rational unbegreiflich, und es gibt in unserer vielfältigen Sprache nicht einmal ein akzeptables Wort dafür.

Wissenschaftler fragen neuerdings, ob sich die Evolution nicht irrte, als sie den Menschen und die meisten anderen Spezies in zwei Gruppen teilte, diese durch die Sexualität aneinanderkettete und damit deren Fortbestand zu einem unüberschaubar komplexen Vorgang aufblies, und ob dem Aufwand, der Anstrengung, dem Leiden und dem Verbrauch an Ressourcen ein angemessener Vorteil gegenüberstünde. Man ist sich unschlüssig, ob eine Demokratisierung der Fortpflanzung durch Ableger, Keimlinge oder Ähnliches einen Fortschritt brächte.

Auf jeden Fall würde vieles verloren gehen: das süße Hoffen, Sehnen, die schönsten Lieder, das Opium der Liebe.

Doch ist das Vorgenannte mehr als ein aufgeschäumtes Nichts, mehr als eine permanente Illusion, mehr als eine Irreführung der sexualisierten Geschöpfe, zu bezahlen zuvor und danach mit Seelenschmerz, ein billiger Zauber, der uns durch das Leben stolpern lässt; wohin?

Hier Teilgeständnisse eines Durchschnittsmannes, allzeit bereit, sich solcherart beschenken zu lassen; über Ereignisse von einem zufälligen Streifen zweier Lebenswege, glücklichen Augenblicken und krachenden Kollisionen; wie stets mit Koloraturen der Erinnerung und kleinen, verzeihlichen Lügen behaftet.

Auch mit Grübeln darüber, dass die Natur Sexualität und Liebe nicht erfand, um uns glücklich zu machen, sondern sie als Belohnung und Strafe einsetzt, damit wir unsere Spezies auch unter Enttäuschung, Kränkung und Schmerz fortpflanzen; müssen wir die Liebe gar fürchten? Christoph Willibald Gluck lässt seinen Orpheus singen: „Wär’, oh wär’ ich nie geboren“; kann verlorene Liebe, gleich aus welchem Grund, wirklich so zerstörend sein?

Das Wort „Glück der Liebe“ entspringt einer selektiven Wahrnehmung, die uns dabei hilft, Kollateralschäden zu überstehen, und die uns erlaubt, schuldlos egoistisch zu sein und derer, die unsere Träume füllen, nicht überdrüssig zu werden.

Das Sinnieren darüber kann niemals ein Ende finden.

Lisa und Dodscha

Als das lange erste Schuljahr vorüber war, kam noch ein Mädchen in meine Klasse; neben meiner Schwester, der stets fröhlichen Dodscha, der zarten Eugenie mit dem süßen kleinen Sprachfehler, der Magdalena mit der großen Gelenkigkeit, der schönen blonden Karin, der stolzen Rosemarie war noch eine Lisa hinzugekommen.

Sie war ein Kind gehobenen Standes, hatte eine schöne samtene Stimme, tief und geheimnisvoll, und war als besonders klug beleumdet. Sie bekam ihren Platz weit vorn, in der ersten Reihe der altmodischen Klapppulte am Fenster. Sie bekam diesen begehrten Platz wohl auch deshalb, weil ihr Vater der Zahnarzt des Dorfes war, also der Herr über den Schmerz.

Sie konnte viel erzählen, wovon andere Kinder wenig verstanden, schon deshalb war ich von ihrer Klugheit beeindruckt. Sie erzählte von ihrem Auto in einer Zeit, in der dieses Wunder selten gesehen wurde, von einem Sommerurlaub auf Norderney, wo sie schwimmen lernte, von Reisen an den Wochenenden, worüber sie eindrucksvoll berichten konnte.

Lisa entwickelte sich zum Star der Klasse, von den Jungen bewundert und, wie manche von ihnen zaghaft zugaben, geliebt. Es entspann sich ein Wettbewerb darum, wer sie am meisten liebte, erst sehr reserviert und dann immer offener, begannen wir, über Empfindungen für Lisa zu sprechen.

Keiner wollte zurückstehen, auch ich nicht.

Doch ich hatte das Hindernis, als Kleinster der Klasse ein anderes Image anzustreben; meine Leitfiguren waren die Helden des Wilden Westens, beschrieben in den Westromanen, ich wollte eigentlich ein unbezwingbarer Kämpfer sein, wie Billy Jenkins oder Tom Prox, die jeden Gangster zur Strecke brachten, ungeheuer flink mit den Colts waren und von Mädchen oder gar Küssen offenbar gar nichts wussten.

Nur einer dieser Helden auf ihren Mustangs, Jim Chester, der Jiu-Jitsu-Meister, hat einmal eine Juanita geküsst; es muss ein kurzer Schwächeanfall gewesen sein. Doch sonst dominierte eher Dick Hanson, der mit eiserner Faust alle Mestizen, Pockennarbigen und anderes Gesindel niederschlug.

Dieses von mir angestrebte Selbstbild würde leiden, käme heraus, dass ich die Lisa liebte. Was würden meine Mutter und die Großeltern sagen, käme diese Wahrheit ans Tageslicht?

Doch die Gefühlslage ließ sich nicht auf Dauer unter dem Deckel halten. Die Träume von Lisa waren zu schön, oft wachte ich auf und war von ihrer Wärme umhüllt, und ich versuchte, wieder in diesen Traum zurückzuschlüpfen.

Andere Klassenkameraden waren mutiger als ich, besonders der Reinhold; er schlich während des Unterrichts unbemerkt vom Lehrer zu Lisa und hielt ihre Hand. Auch Alwin und Nobbi prahlten offen, wie fest sie meine Lisa drücken würden und gar, wie viele Kinder sie nach der Hochzeit mit ihr haben wollten. Sie alle hatten im Alter von sieben oder acht schon Pläne und Vorstellungen für die ferne Zukunft.

In dieser Enge zwischen ersehntem Selbstbild und Verlangen nach Lisa musste ich handeln.

Ich vertraute mich meiner jüngeren Schwester an, die ja in derselben Klasse war, und gestand ihr meinen Kummer, sie hat es bereits geahnt und versprach, einen Weg für mich zu suchen, sie und die Dodscha würden bei Gelegenheit der Lisa einen Hinweis geben. Für eine Unternehmung dieser Art wäre ich viel zu schüchtern gewesen, vielleicht auch unwert, die erhabene Lisa auch nur insgeheim lieben zu dürfen.

Am nächsten Tag zogen die beiden nachmittags los in das benachbarte Schuldorf, um andere zu treffen und vielleicht zufällig auch Lisa.

Sie kamen dann bald zurück und strahlten und erzählten, sie hätten Lisa getroffen und diese hätte sich sehr gefreut über diese überraschende Nachricht und sie hätte gleich ein Briefchen geschrieben, das man nun an mich übergäbe.

In dem Kuvert fand sich ein gefalteter Bogen, in Herzform ausgeschnitten, und als ich das Herz auffaltete, war zu lesen:

„Lieber Harry, auch ich liebe Dich sehr; ich freue mich, Dich morgen wieder zu sehen“, und darunter, mit einer Blume und einem Schmetterling verziert, ihre Unterschrift: „Deine liebe Lisa“.

Ich war wie verzaubert, glaubte zu fliegen, was für eine Euphorie!

Gleichzeitig war nun meine Schwäche dokumentiert, statt auf eine eiserne Faust zu hoffen, wie sie Dick Hanson besaß, war mein schwaches Herz zutage getreten, ein Junge, der von Liebe träumt, ohne recht zu wissen, wozu diese eigentlich gut sei.

Dick Hansons Faust hatte nach den Schilderungen die Aufgabe, den Gangster genau am Kinn zu treffen, ihn zu Boden zu bringen und dann hinter Gitter, leicht zu verstehen. Was hätte ich mit der geliebten Lisa eigentlich angefangen, stünde sie jetzt vor mir?

 

Ich hätte verlegen zu Boden geblickt, gelächelt, nach Worten gesucht, vielleicht ihre Hand genommen.

Jedenfalls musste ich zuerst dieses Dokument beseitigen; ich versteckte den zerknüllten Brief im hohen Gras einer Wiese, leicht vergraben.

Am Abend kam meine Mutter und lachte: Arbeitskollegen hatten ihr einen Brief übergeben; man hatte mich beobachtet, dieser Alwin muss es gewesen sein, er hatte den Brief gefunden, dieser ging von Hand zu Hand und schließlich an meine Mutter. Ich erstarrte vor Scham; ich war ertappt, alle wussten nun, wie schwach ich wirklich sei, ein zarter Liebhaber und nicht ein Kerl mit knallhartem Schwinger.

Und es wurde mir bewusst, dass der Brief eine Fälschung sein müsse, die Unterschrift „Deine liebe Lisa“ war verdächtig, sie hätte sicherlich nicht „liebe“ geschrieben, es musste eine dritte Person gewesen sein; in meinem himmelhohen Schweben war mein Verstand leicht ausgeknipst.

Lisa war schuldlos, sie wusste von nichts, dennoch richtete sich mein Groll gegen sie und am nächsten Tag nach Schulschluss und auf dem Weg vom Schulhof schubste ich sie heftig und sie fiel auf die Straße, hatte eine kleine Verletzung am Knie und ich sagte: „Dafür!“

Alle sahen mich ungläubig an! Kann es sein, dass dieser kleine Bengel so mit der allgemein geliebten Lisa umspringt?! Ich verdrückte mich rasch, rannte davon.

In unserem kleinen Ort gab es viele Scheunen mit Stroh und Heu für die Tiere, und Gebälk, von dem man herabspringen konnte in ein weiches Polster, wir übten Absprünge mit Salto vorwärts und rückwärts und auch die Mädchen waren mutig genug, einen Sprung zu wagen.

Dodscha, die Briefschreiberin, war immer dabei, oft tollten wir bis zur Dunkelheit herum.

Einmal, es war bereits halbdunkel, fiel ich beim Springen fast auf sie; doch sie zog mich heran, auf dem Rücken liegend, ich lag auf ihr, ein seltsames Schmerzen und Kribbeln in meiner Brust und in meinem Bauch tauchte auf und nahm zu, als ich meine Arme um sie legte und sie die ihren um mich. Dieses Gefühl war so unglaublich schön und aufregend; sie muss es vorher schon gekannt haben, weshalb sie mich heranzog.

Ich begann, meine Hüfte auf und ab zu bewegen, oder eigentlich ging es von allein ohne mein Zutun, es steigerte sich, was zu fühlen war, und dazu ihr Duft von Jasmin im Haar und im Gesicht; sie musste wieder von der Mutter stibitzt haben.

Ich spürte eine starke Liebe zu ihr, plötzlich entstanden, und flüsterte ihr ins Ohr: „Du bist meine Braut, meine Braut.“

Ich wusste nicht mehr, was die anderen machten, völlig egal, auf Dodschas Bauch war mein neu entdecktes Paradies und ihr Duft schien mich zu betäuben. Wir blieben lange so zusammen, ich räkelte mich auf ihr, tastete ihren Körper, drückte meine Brust gegen ihre, weil die Empfindungen dann stärker aufwogten. Sie schien das alles schon zu kennen, wahrscheinlich hat sie mitgehört, wenn die älteren Jungen im Haus sich über eben dieses Thema unterhielten und ihre Witze rissen. Sie hielt mich fest, wir waren ein Liebespaar.

Durch ihren Betrug mit dem Brief hatte ich mein Schmachten nach der unerreichbaren Lisa gegen erfüllte Liebe und himmlisches Glück mit der Betrügerin eingetauscht.

An diesem Abend wartete ich lange vor unserer Haustür, bevor ich hineinging. Dieses seltsame Ding in meiner Hose war groß und hart geworden und wollte einfach nicht zurück in seine gewöhnliche Gestalt. Niemals durfte Mutter bemerken, was vorgefallen war; auch das noch, und meine Reputation wäre endgültig versenkt.

Nun begann mein Schmachten nach der Dodscha; ich war aber zu schüchtern und auch etwas verschämt, um das Erlebnis zu erwähnen oder gar zu wiederholen; gelegentlich führte das zu Aggressionen gegen meine frühere Geliebte, niemand verstand, warum ich sie manchmal anrempelte und vom Schulpfad schubste, ein Missverständnis, das ohne Klärung blieb. Ich musste ein harter Hund des Wilden Westens bleiben, der nur einmal in einer schwachen Stunde ein Wort der Liebe fand: „meine Braut“, kindlich und ehrlich und nur ein einziges Mal.

Es war der erste Hauch kommender Stürme, der „Odem der Liebe“, der die Herzen erfüllt, wie Mozart es beschrieb.

Dodscha und ich lebten schweigend nebeneinander, bis das Schicksal uns endgültig trennte.

Maria

Wir lebten in einem ganz kleinen Dörfchen, die meisten Einwohner waren Flüchtlinge des großen Krieges, viele Kinder gab es hier, die meisten Familien kamen aus dem Osten und ohne Väter.

Viele versprengte Familienmitglieder trafen hier wieder zusammen, es war ein Kommen und Gehen, verschiedene Dialekte konnte man hören, Hochdeutsch sprachen nur wenige, meistens waren es Einheimische, die den rechten Artikel und die vollständige Deklination kannten.

Dann tauchte eine junge Frau mit einem Jungen auf; ihre Eltern waren bereits zuvor einquartiert, auch ihr Bruder mit seiner Familie. Sie hieß Maria und war auffallend schön; ihr ebenmäßiges Gesicht war leicht gebräunt, ihr dunkles Haar schulterlang, lebendige Augen und ein Mund, den man ansehen musste, wenn sie sprach. Ihre Sprache klang sehr angenehm, viele Vokale sprach sie gedehnt, dazu ein weich rollendes „R“, man musste zuhören, unabhängig davon, ob es wichtig war, was sie sagte oder nicht. Sie war 25 Jahre alt, ich war zehn, für mich ein Ereignis, wenn sie kam und aus ihrem Leben erzählte. Schilderte sie einen Vorgang, so hörte man oft ein gedehntes „und than“, für mich ihr Erkennungszeichen und ich hätte ihren lieblichen Mund küssen mögen, wenn sie eine Zeitfolge so formulierte; doch Zehnjährige können noch nicht küssen, es ist meine heutige Vorstellung.

Auffallend war ihre schöne Figur, mit sehr schmaler Taille und breiten Hüften und einer atemraubenden Rundung hinten, wenn sie sich setzte; man nennt es heute Lordosen-Stellung und es kann auch für kleine Jungen recht aufregend sein. Fürs Kabarett müssen die Mädchen das üben, Maria war ein Naturtalent für attraktive Körperhaltung.

Wenn sie ging, gerieten ihre Hüften in eine zauberhafte Schwingung und ihr Rock wippte und schwang mit; ich musste immer hinsehen.

Später bemerkte ich Unruhe in mir, wenn sie in meine Nähe kam; und es fehlte irgendetwas, wenn sie abwesend war. Diese Nebenwirkung nahm mit der Zeit weiter zu und ich musste erkennen, dass auch dieses seltsame Schmerzgefühl in der Brust, mir bereits vorbekannt, mit ihr zusammenhing.

Doch es gab einen ersten Konflikt, als ihr Sohn, zwei Jahre jünger als ich, aber etwa gleich groß, von der Familie des Bruders zu ihr kam und damit das Problem, dass ich in die Mutter eines Spielkameraden verliebt war. Auf Dauer konnte das nicht ohne Auswirkung bleiben, meine Gefühlswelt wurde durch Eifersucht oder Neid und anderes irritiert und überfordert.

Ich geriet mit diesem Michael öfter in Streit und einmal auch in eine Rangelei, das passte sehr schlecht zu meinem Liebesempfinden für seine Mutter. Schon mit acht Jahren hatte ich gelernt, dass die viel besungene Liebe doch ein Spiel mit vielen Parametern sei, vollkommen unüberschaubar und mit vielen Hemmnissen und Widrigkeiten, ein Hindernislauf zu einer Illusion oder zur Seligkeit, die auch eine Illusion wäre?

Meine Seligkeit mit der Dodscha war bereits durch Schüchternheit und Schamgefühl und meine eigene Rollenvorgabe nahezu erstickt worden; nun war alles noch viel komplizierter. Und die Barrieren sollten sich noch weiter auftürmen:

Einmal traf ich sie in ihrem Zimmer; sie lag auf dem Bett und sang einen alten Schlager: „Ich tanze mit Dir in den Himmel hinein“. Wer ist „Dir“?, fragte ich mich, sie kann ja nicht mit mir tanzen wollen, so schmerzlich diese Einschätzung auch war.

Zu meiner tiefen Enttäuschung musste ich durch Getuschel der Nachbarn erfahren, dass ein anderer Mann gemeint war, der schon eine Frau und zwei Kinder hatte, und nun auch noch meine Maria!

Daran hatte ich lange schwer zu tragen. Doch aus meinem Horoskop erfuhr ich, dass die Zeit für mich arbeite, ich sei wohl die aufgehende Sonne, er der untergehende Mond, so interpretierte ich die kryptische Beschreibung in der Zeitung.

Doch es begann meine innere Ablösung von ihr; meine Gedanken waren bald nicht mehr von ihr gefesselt, die Attraktion ließ nach wie bei einer Sonne, die ihre Schwerkraft verliert und damit ihren kreisenden Planeten; unabwendbar für mich ein weiterer Verlust einer großen Liebe. Was half da noch ihr schöner Gesang: „Ich tanze mit Dir“, wenn nicht ich gemeint war, der tanzte und dann zur Belohnung auf ihrem so schön gewölbten Bauch liegen durfte, mit den beiden Hügeln rechts und links vor seinem Gesicht, ihrem Duft und ihrem raschen Atem? Ich kannte das schon in Ansätzen und es könnte noch eine Steigerung des Glücksgefühls geben.

Unter dem Fenster ihrer kleinen Kammer befand sich ein Vordach mit abschließbarem Schuppen darunter. Zu erkennen waren verschobene Dachziegel, dort musste „er“ aufgestiegen sein zu ihrem Fenster, ein Schock für mich. Den werde ich fangen, die Dachlatten werde ich ansägen; er wird abstürzen in unseren Schuppen, dann werde ich auf das Dach klettern und ihm eine lange Nase zeigen, so mein wütender Plan. Doch es war mir nicht möglich, diese Falle aufzustellen; es fehlte mir an Größe, an Kraft, an allem. So musste ich diese Zeit durchstehen, abwechselnd wütend und traurig.

Im Dörfchen war sie rasch in Verruf geraten, viele Männer stellten ihr nach im Glauben, sie sei ein leichtes Mädchen; sie tauchte in meiner Familie nicht mehr auf und zog bald in ein anderes Dorf.

Wie kompliziert und vergänglich die Liebe sein kann, habe ich sehr jung erfahren; dass es selten eine Frage für zwei ist, sondern immer ein vertracktes Spiel mehrerer, Bekannter und Unbekannter, miteinander oder meistens gegeneinander. Mein Glaube an unschuldige und reine Liebe hat in dieser Zeit erste Kratzer bekommen; war nicht mein Wechselspiel von Lisa auf Dodscha opportunistisch; wo es das Süße gibt, da ist mein Herz; nicht umgekehrt, wie Infantile glauben?

Maria konnte nicht ahnen, dass ein Zehnjähriger sie liebt, dass diese Liebe naiv, unverdorben und tief wie das Meer sei; eine helle Kinderstimme kann solche Empfindungen nicht formulieren; und wie hätte sie reagieren sollen?

Nun war ich ein langes Jahr allein, all die schönen Mädchen um mich fanden keinen Nistplatz in meinem erschöpften Herzen, Hildegart, Renate, Rita nicht, Lisa schon gar nicht und Dodscha ein bisschen und mit Schmerz.

„Und than“: Ich traf sie nochmals als bereits gealterte Frau, weißhaarig und etwas gebeugt; ich nahm sie in die Arme und hielt sie lange fest, sah ihr in die Augen, sie hatte mich vor langer Zeit so schrecklich betrogen; sie konnte es nicht wissen, hätte es aber fühlen können. Von meinem langen Hoffen auf ihre Liebe erzählte ich nichts, die „Schnulze“ von Lilian Harvey blieb in meinem Kopf.

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