Wohltöter

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WohlTöter

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Hansjörg Anderegg

Hansjörg Anderegg

WohlTöter

Der 1. Fall mit BKA-Kommissarin Chris

Thriller

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://www.d-nb.de abrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-193-1

E-Book-ISBN: 978-3-96752-691-2

Copyright (2021) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung: Grit Richter, XOXO Verlag

unter Verwendung der Bilder:

Stockfoto-Nummer: 1974198212, 1047408736

von www.shutterstock.com

Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Kapitel 1

Reculver Beach, Canterbury

Schon beim ersten Wurf verfing sich die Angelschnur im Seegras zwischen den Felsen. »Du wirst es nie lernen«, schalt Paul seinen kleinen Bruder. »Nicht zerren! Du musst die Schnur lösen. Nimm das Messer.«

Mikey schmetterte die Angelrute zu Boden, nahm das Fischmesser aus dem Korb und kletterte missmutig über die aufgeschütteten Felsblöcke ans Ende des kurzen Damms. Paul widmete sich kopfschüttelnd wieder seinem Köder. Er liebte diesen Platz im Schatten der Reculver Towers, an der Küste, wo sich das Wasser der Themse mit der Nordsee vereinigte. Seit dem Tod des Vaters war er der Experte in der Familie. Er kannte jeden Stein, wusste, wo sich die Krabben versteckten, die so vorzügliche Köder abgaben, kannte die Wetterlagen, bei denen sich die Barsche an der Küste versammelten und die Jahreszeit, in der die Rochen im flachen Wasser laichten. Nur als Lehrer eignete er sich nicht. Er verzweifelte, wenn er Mikey mit seinen zwei linken Händen zusah, aber er musste sich weiter um ihn kümmern. Er hatte es Vater in die Hand versprochen.

Ein entsetzter Schrei ließ ihn zusammenfahren. »Paul, ein Ungeheuer, schnell!« Mikey stand wild gestikulierend auf dem Damm.

»Einer deiner Drachen?«

Der Kleine entwickelte eine lebhafte Fantasie, sauste als Drachentöter durchs Haus und getraute sich nicht mehr allein in die Vorratskammer. Das nervte.

»Blödsinn«, rief Mikey. »Komm doch endlich!«

Widerwillig erhob sich Paul. Die reinste Nervensäge, der Kleine. Er schwor sich, in Zukunft vorsichtiger zu sein mit seinen Versprechen. Kaum hatte er den Damm betreten, sah er das Ungeheuer. Es war braun und nackt, hatte zwei Beine und zwei Arme und einen Kopf, dessen schwarze Haarsträhnen unheimlich mit dem Seegras auf den Wellen tanzten. Das Gesicht war nicht zu sehen. »Ein Toter«, murmelte er erschrocken. »Dein Ungeheuer ist eine Leiche, Mikey.«

Der Kleine schauderte. »Ist sie tot?«

»Leichen sind immer tot.«

»Was machen wir jetzt?«

Paul wusste es auch nicht. Es war seine erste Leiche. Der Schreck fuhr ihm in die Glieder. Er begann leise zu zittern und bekam Gänsehaut. »Komm, wir müssen Mom holen«, flüsterte er, um den Toten nicht zu stören. Sie ließen das Angelzeug liegen und rannten los. Das Handy lag zu Hause auf der Kommode. Man angelte nicht mit Telefon, das hatte ihm Vater beigebracht.

»Ich habe Angst«, keuchte Mikey hinter ihm.

»Warum? Der Tote tut dir nichts.«

»Aber wenn der Mörder …«

»Ach lass den Quatsch. Hast du Blut gesehen?«

Keine Antwort. Paul hoffte, sie würden ihr Haus erreichen, bevor der Kleine realisierte, dass man Leute auch ohne blutende Wunden umbringen konnte.

Ihre Mutter stand im Garten. Sofort hetzte Mikey auf sie zu und rief atemlos: »Mom! Komm schnell! Ein Toter ist ermordet worden!«

Mrs. Croydon schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Beruhige dich erst mal, Mikey. Tote kann man nicht ermorden.«

Typisch für Mom, die Lehrerin. Sie reagierte besonders empfindlich auf sprachlichen Unsinn.

Ihr Jüngster ließ nicht locker: »Mom, ich schwöre, er ist tot.«

Sie warf Paul einen fragenden Blick zu.

»Es stimmt, was Mikey sagt. Droben bei den Towers liegt ein Toter im Wasser.« Er versuchte, möglichst erwachsen, cool, zu schildern, was sie gesehen hatten, obwohl ihm der Schreck noch tief in den Gliedern saß. Sie hörte mit besorgter Miene zu, dann hängte sie die Gartenschürze an den Geräteschuppen und sagte nur:

»Kommt.«

Ein Arm der Leiche hatte sich in einer Felsspalte verhakt, als versuchte der Tote verzweifelt, sich aus dem Wasser zu ziehen. Paul konnte nicht länger hinsehen. Er nahm seinen Bruder bei der Hand und zog ihn weg, zurück an den Strand zum Angelzeug.

»Glaubst du mir jetzt?«, rief Mikey triumphierend über die Schulter.

»Ja, schrecklich. Geht nach Hause. Ich komme sofort nach und rufe die Polizei.

Constable Sean Sellick von der Kent Police in Canterbury blickte verärgert von seinem Bildschirm auf. »Carol, kannst du bitte mal rangehen?« Das Telefon klingelte schon eine ganze Weile, doch seine Kollegin machte keine Anstalten, abzuheben. Sah sie nicht, wie beschäftigt er war? Der Wochenbericht duldete keinen Aufschub. Inspector Fry wollte ihn auf seinem Tisch, sobald er zurückkehrte. »Carol?« Er schaute sich um. Ihr Platz war verwaist. Mit einer unterdrückten Verwünschung griff er zum Hörer.

»Mary Croydon hier, Constable. Ich muss einen Leichenfund melden.«

Police Constable Sellicks Ärger verflog augenblicklich. Er tastete nach dem Meldeblock, zückte den Schreibstift und begann mit ruhiger Stimme die sieben Fragen zu stellen, wie er es vor nicht allzu langer Zeit gelernt hatte. Eine nackte, männliche Leiche an der Reculver Beach, praktisch vor der Haustür. Natürlich an einem Nachmittag, wo kein Inspector im Haus war. Wo zum Teufel blieb Carol? Er zwang sich, ruhig zu bleiben. »Mrs. Croydon, sind Sie sicher, dass Ihre Jungen den Toten gesehen haben?«

»Hören Sie, junger Mann. Ich habe mich selbst überzeugt. Sie können mir glauben, da liegt ein junger Mann im Wasser, und der ist so tot wie Sie, wenn Sie nicht bald jemanden vorbeischicken.«

»Beruhigen Sie sich, Mrs. Croydon. Ich muss Ihnen diese Fragen stellen. Sie glauben nicht, was …«

Die Anruferin unterbrach ihn ungeduldig: »Papperlapapp. Was ist, kommen Sie?«

Sellick atmete auf. Carol kehrte endlich mit zwei Pappbechern und einer braunen Tüte an ihren Platz zurück. »Wo sind Sie jetzt, Mrs. Croydon?« Er notierte die Adresse und verabschiedete sich: »Bleiben Sie bitte dort. Wir sind sofort bei Ihnen.«

Carol schob ihm einen der heißen Becher hin. »Wieder die Vandalen?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf, während er die Nummer des Notarztes wählte. »Wasserleiche bei den Reculver Towers«, erklärte er schnell, bevor sich die Einsatzleitung meldete. Fünf Minuten später fuhr er hinter dem Rettungswagen auf der A28 nach Norden. Carol musste den Kaffee allein trinken.

»Das hat ja gedauert«, empfing sie Mrs. Croydon ungehalten.

Sellick wusste jetzt, dass sie Lehrerin an der Grundschule war und genau so verhielt sie sich. So stellte er sich eine Lehrerin vor, in deren Klasse er lieber nicht sitzen wollte. »Wir kamen, so schnell wir konnten«, versuchte er zu beschwichtigen. »Steigen Sie bitte ein und zeigen Sie uns die Stelle.«

Der Fundort lag genau bei der Ruine des alten Klosters. Die sensationelle Neuigkeit hatte sich offenbar herumgesprochen, und das gefiel ihm gar nicht. Ein halbes Dutzend Neugierige standen am Damm und auf den Felsen. Spuren eines Verbrechens, falls es denn eines war, konnten sie unter diesen Umständen vergessen.

»Am Ende des Damms, zwischen den Felsen«, sagte Mrs. Croydon, als sie ausstiegen.

 

»O. K., Sie bleiben bitte hier. Zurücktreten, Leute. Bitte treten Sie hinter die Wagen zurück, sonst behindern Sie die Polizeiarbeit.« Er stieg mit dem Arzt auf die Felsen. Sie kletterten bis ans Ende des Damms und schauten sich verblüfft an. Weit und breit war nichts von einer Leiche zu sehen.

»Scheint wasserlöslich zu sein«, grinste der Arzt.

Sellick blickte mürrisch aufs Meer hinaus. »Finde ich gar nicht witzig.« Es blieb ihm nichts anderes übrig: Er musste ein ernstes Wort mit der strengen Mrs. Croydon reden.

Sie empfing ihn mit rotem Kopf. »Die Leute behaupten, es gäbe keine Leiche«, sagte sie schnippisch. Es klang wie ein Vorwurf.

»Er war tot, ganz sicher«, ereiferte sich der kleine Mikey, der sich trotz Mrs. Croydons Verbot wieder zu den Gaffern gesellt hatte.

Sellick zählte innerlich bis fünf, dann beugte er sich zum Knaben hinunter und fragte ruhig: »Was hast du denn genau gesehen. Erzähl mal.«

Mikey ließ sich nicht zweimal bitten, ignorierte den strafenden Blick seiner Mutter und berichtete ausführlich über seinen fantastischen Fund. Sellick begriff, dass der Junge eine lebhafte Fantasie hatte, aber die Schilderung deutete auch auf eine gute Beobachtungsgabe hin. Unsicher, ob er der Beschreibung glauben sollte, wandte er sich wieder an Mrs. Croydon, die ihm diesen Einsatz eingebrockt hatte:

»Tatsache ist, dass hier keine Leiche zu finden ist. Wenn es stimmt, was Sie sagen …«

»Hören Sie«, brauste die Frau auf. »Ich weiß, was ich gesehen habe, und ich bin nicht betrunken oder bekifft. Da draußen am Ende des Damms lag ein dunkelhäutiger, schlanker Mann mit glänzend schwarzem Haar im Wasser. Ich habe sein Gesicht nicht gesehen, aber es muss ein Inder oder Pakistani oder etwas Ähnliches gewesen sein. Ich weiß auch nicht, wie er es geschafft hat, zu verschwinden, aber ich weiß, dass er vor einer Stunde noch da war.«

»Vielleicht die Strömung«, meinte Mikey mit Kennermiene. »Die Flut ist vorbei, das Wasser fließt zurück ins Meer.«

»Das Wasser ist das Meer, Dummkopf«, lachte sein großer Bruder.

»Brauchen Sie uns noch?«, wollte der Arzt wissen.

»Sieht nicht danach aus.« Kurz bevor die Tür des Rettungswagens zuschlug, fügte er hinzu: »Danke, Doktor.« Er beschloss, die Lehrerin und ihre aufgeweckten Jungen ernst zu nehmen, obwohl die Tatsachen gegen sie sprachen. »Ich werde eine Suche veranlassen, Mrs. Croydon. Mehr kann ich im Moment nicht tun, wie Sie sehen. Ich muss Sie bitten, morgen bei uns auf dem Revier vorbeizukommen, um das Protokoll zu unterschreiben.«

Sie nickte, nahm den Kleinen bei der Hand, versetzte dem Grossen einen leichten Stoß und machte sich mit den andern auf den Heimweg ins Dorf. Sellick holte den Fotoapparat, Pflöcke und die blau-weiße Rolle aus dem Wagen. Er dokumentierte die mysteriöse Fundstelle und sperrte sie weiträumig ab, während er angestrengt überlegte, wie er seinen Einsatz dem von Natur aus skeptischen Inspector erklären könnte, ohne dabei den Kopf zu verlieren. Sie hatten nicht einmal eine anständige Personenbeschreibung für den Abgleich mit den Vermisstmeldungen.

Scotland Yard, London

Detective Chief Inspector Adam Rutherford ließ es klingeln. Der Chief wollte ihn sprechen. Das konnte warten. Chief Superintendent Whitney würde seinen zweifellos enthusiastischen Monolog noch früh genug loswerden. Er hatte grundsätzlich Mühe mit begeisterten Leuten, vor allem, wenn sie ihn von der Arbeit abhielten. Er verließ das Glashaus, das er sein Büro nannte und fröstelte, als er das unterkühlte Großraumbüro seiner Mitarbeiter betrat. Er hielt nicht viel von Privilegien und Rängen, aber die Tatsache, dass er als DCI ein sonniges Einzelbüro mit botanisch herausragender Kakteenzucht besaß, entschädigte für vieles. Nicht zuletzt die niemals versiegende Begeisterung seines Chefs.

Die Mannschaft erwartete ihn im Sitzungszimmer zur Lagebesprechung. Es waren tatsächlich alles Männer, die mehr oder weniger entspannt am langen Tisch saßen. Bisher hatte es keine Frau zu ihm an die Front geschafft. Den Grund kannte er nicht, und er bedauerte es manchmal. Das andere Geschlecht schien sich mehr für die Arbeit hinter den Kulissen in den Labors zu interessieren. Er nickte den Leuten kurz zu.

»Wo sind Miller und Cawley?«

»Die Inspectors sind noch in Hammersmith, Sir«, antwortete Ron Cornwallis, der Jüngste und Schnellste seiner Truppe. »Befragung der Stammkunden in der ›Red Lantern‹.«

»Wird allmählich Zeit, dass wir die Clan-Sache abschließen«, brummte Rutherford ärgerlich. »Also, wo stehen wir, Pete?«

Sein alter Leidensgenosse bei Schotland Yard, Detective Sergeant Pete Townsend, der seit fünfzehn Jahren partout nicht Inspector werden wollte, kam nicht mehr dazu, zu antworten. Der Telefonapparat auf dem Tisch erwachte lautstark zum Leben. Der schnelle Ron hatte den Hörer in der Hand, bevor sich der DCI ärgern konnte. Er hörte kurz zu, dann reichte er den Hörer seinem Chef. »Wir haben eine Leiche, Sir.«

Mit zusammengekniffenen Augen hörte er sich an, was die Zentrale ihm zu melden hatte. »Kent? Was geht uns das an?«, unterbrach er unwirsch. Sie hatten wahrlich genug eigene Probleme und keine Zeit und Ressourcen, die Aufgaben der lokalen Polizei auch noch zu übernehmen. Überdies begannen sich seine Männer bereits zu langweilen. Das mochte er am allerwenigsten. »Wann sagten Sie? Heute Mittag?« Es war fünf Uhr abends. Die Spur, wenn es denn eine gab, dürfte längst kalt sein. »Hören Sie, ich bin mitten in einer Besprechung. Ich rufe …«

Der Rest blieb ihm im Halse stecken, denn in diesem Moment öffnete sich die Tür und Chief Whitney trat mit strahlender Miene ein. Hinter ihm tauchte ein strohblonder Haarschopf auf. Er gehörte einer jungen Frau, deren Ausstrahlung den kühlen Raum erwärmte wie ein laues Frühlingslüftchen. Wären plötzlich Maiglöckchen aus seinem Hörer gewachsen, der DCI hätte sich überhaupt nicht gewundert. Seine Männer saßen kerzengerade am Tisch wie brave Primaner, bereit aufzuspringen und die Lady im Chor zu begrüßen, so schien es. Dabei war die unerwartete Erscheinung eher klein. Sie trug weder extravagante Kleider noch schwindelerregende Schuhe. Jeans, weißes T-Shirt, hellbraune Lederjacke, bequeme Schnürschuhe, das war’s. Ihr Gesicht aber mit den blau schimmernden, neugierigen Augen, der angedeuteten Stupsnase, den weichen Lippen und der dicke, goldene Zopf zogen sofort alle Blicke magisch auf sich. Auch Rutherford vermochte sich dem Bann nicht sogleich zu entziehen. Ganz sanft legte er den Hörer auf die Gabel zurück, als dürfte kein Geräusch die Weihe des Augenblicks stören.

»Meine Herren«, begann der Chief freudig, »ich möchte Ihnen Detective Sergeant Hegel vorstellen.« Er trat etwas zur Seite, um seine Begleiterin ins rechte Licht zu rücken. »Dr. Hegel ist Deutsche. Sie arbeitet beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden und wird uns ein Jahr lang im Rahmen des internationalen Austauschprogramms ihr Wissen und ihre Erfahrung zur Verfügung stellen.«

Die Erinnerung traf Rutherford wie ein Schlag. Längst hatte er die unangenehme Unterhaltung mit dem Chief verdrängt. Schon damals lag die Betonung auf international, als würde die Schnapsidee die Bedeutung Scotland Yards und insbesondere des Chiefs enorm steigern. So sah also das internationale Austauschprogramm aus. Na ja, angenehm anzusehen war es. Trotzdem hätte er liebend gern auf die Bereicherung verzichtet. Der eigene Nachwuchs wie der schnelle Ron machte schon genug Arbeit. Verstand das Programm überhaupt ihre Sprache?

»Guten Abend meine Herren«, sagte das Programm in tadellosem Oxford-Englisch. »Ich freue mich auf die Zusammenarbeit und bin sicher, eine Menge von Ihnen lernen zu können.«

Der Chief strahlte noch intensiver, als er sah, wie sich die Männer reihum erhoben, um ihrer neuen Kollegin die Hand zu geben. »Ich sehe, Sie sind in guten Händen«, schmunzelte er mit einem Seitenblick auf seinen DCI. Der studierte seine Uhr. Ein Wink, den auch der Chief verstand. »Lassen Sie sich nicht aufhalten«, meinte er beim Hinausgehen.

Ron, ganz Gentleman, bot Sergeant Hegel seinen Stuhl an. Im Nu zauberte er einen Neuen herbei und schaffte es irgendwie, sich neben das blonde Programm zu setzen.

Rutherford beobachtete die Szene mit zunehmendem Unbehagen. Es geht schon los, dachte er angewidert. Der Chief würde seine internationalen Ambitionen noch bitter bereuen. »Kann ich weitermachen?«, fragte er provozierend. Noch vor ein paar Minuten gab es nur den üblichen Ermittlungskram und eine verschwundene Leiche in Kent, aber jetzt … Es gab Tage, die man besser aus dem Kalender streichen sollte. Er war, verdammt noch mal, kein Psychiater. Beziehungskisten waren das Letzte, was er sich in seiner Abteilung wünschte. Die Deutsche schaute ihn mit ihren großen Augen erwartungsvoll an, während die Männer zur Sicherheit mit gesenktem Blick Coolness demonstrierten. Die Ankunft der Frau hatte die Atmosphäre aufgeladen, dass man es knistern hörte. Es gab nur eine Lösung. Er musste die Besprechung so rasch als möglich beenden. Die Neue brauchte Arbeit, draußen, wo sich das richtige Leben abspielte. Er brach die Sitzung ab und beorderte Sergeant Hegel in sein Terrarium.

»Mein Gott, ein blühender Ariocarpus«, rief die Frau überrascht, als sie sein Büro betrat.

»Sie kennen sich aus?«, fragte er misstrauisch.

»Nicht wirklich, aber an diese Art erinnere ich mich. Eine Kollegin in Oxford hatte so ein Prachtstück mit der weißen Wolle auf dem Scheitel. Nur blühen wollte er nie. Wunderschön.«

Falls sie sich einschleimen wollte, war sie bei ihm an der falschen Adresse. »Finden Sie?«, brummte er mürrisch. »Sie waren in Oxford?«

»Ja, auch ein Jahr. Post graduate Studium analytischer Methoden.« Sie beugte sich vor, deutete auf ein Dossier, das wie durch ein Wunder zuoberst auf seinem Schreibtisch lag. »Steht alles in meinen Unterlagen.«

Die Lady konnte auch ziemlich direkt sein. Er war sicher, das Dossier ›Internationales Austauschprogramm‹ zuunterst in der Schublade versteckt zu haben. Gedankennotiz: Sekretärin befragen.

»Setzten Sie sich bitte«, forderte er Sergeant Hegel auf, während er ihr Dossier aufschlug. »Sie haben Geologie und Chemie studiert, sehe ich.«

»Ja, abgeschlossen in Geologie.«

Es hatte keinen Zweck, weiter Theater zu spielen. Sie musste längst gemerkt haben, dass er ihre Unterlagen noch nie angesehen hatte. Er klappte das Dossier zu, lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und sagte: »Nun erzählen Sie mal. Was führt Sie zur Polizei.«

»Der Zufall«, gab sie unumwunden zu.

Die Offenheit und Selbstsicherheit, mit der sie diese Antwort gab, beeindruckte ihn. Wider Willen deuteten seine Lippen ein Schmunzeln an.

Sie fuhr lächelnd weiter: »Es geschah im letzten Jahr vor dem Master. Ich beschäftigte mich mit neuen Methoden der Bodenanalyse. Dabei stieß ich auf ein Verfahren, mit dem sich auch kleinste Proben mit hoher Sicherheit einer bestimmten Fundstelle zuordnen lassen. Röntgenfluoreszenzanalyse.«

»Sparen Sie sich die wissenschaftlichen Erklärungen«, unterbrach er entsetzt. »Ich verstehe sowieso nichts.«

»Verzeihung. Kurz gesagt erlaubt die Methode, nachzuweisen, wo sich eine Person oder ein Fahrzeug aufgehalten hat, auch wenn sonst keine Spuren vorliegen. Jeder Boden hinterlässt eine Art geologischen Fingerabdruck. Das brachte mich auf den Gedanken, mich nach dem Studium beim BKA zu bewerben.«

»Mit Ihren Qualifikationen müssten Sie bei der Spurensicherung arbeiten.«

»Habe ich. Tue ich immer noch zeitweise. Ich bin ausgebildete Kriminaltechnikerin, arbeite aber gerne an der Front. Oft ist der allererste Eindruck eines Tatorts der wichtigste. Ein entsprechend geschultes Auge kann nicht schaden.«

Er schaute sie nachdenklich an. Diesen Augen traute er tatsächlich zu, mehr zu sehen als andere. Und er hatte genau den passenden Job für sie. »Augenblick«, murmelte er, ging zur Tür und winkte Ron herein.

Der Junge kam wie der Blitz. »Sir?«

»Detective Cornwallis, ich möchte, dass Sie sich zusammen mit Sergeant Hegel der Sache in Kent annehmen. Rufen Sie Inspector Fry in Canterbury an. Sehen Sie sich die Stelle genau an, wo diese Leiche verschwunden sein soll.« Er wandte sich wieder an die Neue und betonte: »Aber treiben Sie keinen unnötigen Aufwand.«

»Verstanden, Sir«, versicherte Ron zackig.

Er hielt seiner Kollegin die Tür auf. Die beiden zogen sich an Rons Schreibtisch zurück, und Rutherford atmete auf. Zwei Fliegen auf einen Streich, dachte er zufrieden. Wenigstens für ein paar Stunden war er den lästigen Fall in Canterbury los und er musste sich heute nicht mehr um den deutschen Nachwuchs kümmern.

 

Canterbury, Kent

Sergeant Hegel lächelte still in sich hinein. Der erste Kontakt mit ihrem neuen Boss war glimpflicher abgelaufen, als sie befürchtet hatte. Der DCI schien ein ehrlicher Typ zu sein. Jedenfalls hatte er ihr keine Komödie vorgespielt. Sie fühlte sich wohler in seiner Gegenwart als während der Gespräche mit Chief Superintendent Whitney.

»Ist etwas nicht in Ordnung, Sergeant?«, fragte Ron besorgt.

Sie schüttelte den Kopf. »Was soll sein?«

»Sie haben mich so komisch angesehen.«

Sie schmunzelte. »Komisch nennen Sie das. Eher verwundert, würde ich sagen. Verwundert über Ihre Hartnäckigkeit.«

Er saß am Steuer des Dienstwagens. Der Feierabendverkehr erforderte seine ganze Aufmerksamkeit. Trotzdem warf er ihr einen verblüfften Blick zu, sagte aber nichts.

»Hartnäckig, wie Sie am Sergeant festhalten, meine ich.«

»Soll ich Sie lieber mit DS ansprechen?«

Der gute Ron meinte es ernst. Von ihren deutschen Kollegen war sie einiges gewohnt bezüglich Titelsucht, aber die Angelsachsen trieben es auf die Spitze. Fast jeder Satz begann oder endete mit Sergeant, Detective Inspector, Chief Inspector. Sie war und blieb hier offenbar der Detective Sergeant. Den temporären Rang hatte sie der Tatsache zu verdanken, dass sie zu Hause beim BKA als Kommissarin arbeitete.

»Nennen Sie mich doch einfach Chris wie alle meine Bekannten, O. K.?«

Der Vorschlag gab dem jungen Detective zu denken. Sie fühlte förmlich, wie seine Neuronen feuerten. Erst nach einer Schrecksekunde antwortete er unsicher: »Wie Sie wünschen, Sergeant.«

»Chris«, korrigierte sie lachend. »Steht für Christiane. Kann sich kein Mensch merken. Also, Ron, wo sind wir eigentlich?«

»Fünf Minuten bis zum Revier schätze ich.«

Sie mussten sich beeilen, wollten sie heute noch etwas sehen.

Es war bereits halb acht, als sie in Begleitung eines nervösen Constable Sellick bei den Reculver Towers eintrafen. In einer guten Stunde würde die Sonne untergehen. Ein Glück, dass das trockene Frühlingswetter anhielt, dachte sie. Bis sie näher an die Absperrung trat. »Oh mein Gott«, murmelte sie erschrocken. »Woher stammen all diese Fußspuren?«

Sellick wollte antworten, kämpfte aber gegen einen plötzlichen Hustenanfall.

Ron schüttelte verächtlich den Kopf. »Wann haben Sie denn abgesperrt? Nachdem es alle gesehen hatten?«, fragte er giftig.

Sie versuchte zu beschwichtigen. »War wohl nicht einfach, die Meute zurückzuhalten«, meinte sie.

Hier am Ufer brauchten sie nicht nach Spuren Unbekannter zu suchen. Die Tritte der Dorfbewohner hatten alles gründlich zertrampelt. Sie sah, wie Ron zu einer weiteren Bemerkung ansetzte, und sagte schnell:

»Zeigen Sie uns bitte die Stelle, Constable.«

Auf einem Felsblock am Ende des Damms blieb sie stehen. Sie ließ den Blick langsam über die vermeintliche Fundstelle schweifen, prägte sich fast unbewusst Eigenart und Einzelheiten der Umgebung ein, bis sie das Gefühl hatte, die Gegend seit Langem zu kennen. Sie stellte sich den toten Körper im Wasser vor. Gestrandet, den Arm eingeklemmt in der Felsspalte. Die Steine wiesen keine sichtbaren Spuren eines Verbrechens auf. Sie mussten natürlich noch mit ihren Instrumenten nach Blutspuren suchen, aber sie glaubte nicht daran, welche zu finden. Die Beobachtung deckte sich mit den Aussagen der Zeugen. Der Körper schien unversehrt gewesen zu sein.

»Der Fundort ist wohl nicht der Tatort«, sagte sie zu Ron.

»Wenn es denn ein Fundort ist.«

Constable Sellick lief rot an. »Die Zeugen sind absolut zuverlässig. Hätten wir Sie sonst alarmiert?«, brummte er ärgerlich.

»Ron, holen Sie doch bitte das Luminol und die UV-Lampe und etwas zum Abdecken aus dem Wagen.« Der Mann musste beschäftigt werden. Zu Sellick bemerkte sie leise: »Nehmen Sie es nicht persönlich. So ist er immer.« Sie glaubte das selbst nicht, aber es half, die Wogen zu glätten.

Sie kehrte zu ihrem Gedankengang zurück. War der Mann selbst ins Wasser gesprungen und ertrunken? Suizid? Alles sprach dagegen. Man hatte nirgends Kleider gefunden. Und warum sollte sich jemand die Mühe machen, sich auszuziehen, bevor er sich umbringt? Hatte jemand den Toten hineingeworfen? Unwahrscheinlich. Erstens hätte der Täter die denkbar dümmste Zeit dafür ausgewählt, während das Wasser anstieg. Die Flut hätte den Toten gleich wieder an Land gespült. Jeder halbwegs vernünftige Verbrecher hätte den Leichnam bei abnehmender Tide entsorgt. Zweitens hätte ein Täter nicht ausgerechnet den populären Platz bei den Towers ausgesucht. Die letzte Variante schien ihr am wahrscheinlichsten. Die Meeresströmung hatte den toten Körper angeschwemmt. Das passte zu den Gezeiten und Zeugenaussagen.

Ron brachte die Lampe, eine Spezialanfertigung, die ohne Generator wie eine starke Taschenlampe funktionierte. Sie bat die beiden Männer, die Schutzfolie über ihr auszubreiten, um sie vom Licht der untergehenden Sonne abzuschirmen. Langsam bewegte sie den unsichtbaren Kegel des ultravioletten Lichts über die Steine. Hin und wieder leuchteten ein paar Punkte auf. Mikroorganismen, keine Blutspritzer. Nach einer Weile richtete sie sich auf. »Nichts, keine Blutspuren und keine Abschürfungen. Hier ist kein Gewaltverbrechen geschehen.«

»Sag ich doch«, grinste Ron.

»Bleibt die Frage: Wie ist der Tote wieder verschwunden?«

»Sie glauben immer noch an die Leiche, Sergeant?«

»Nichts zu finden heißt ja nicht, dass nichts da war, Detective«, gab sie gereizt zurück.

Ron übertrieb seine Skepsis, fand sie. Vielleicht die Schule des DCI? Es gab immerhin Zeugenaussagen. Die durften sie nicht einfach ignorieren. Hatten Wellen und Strömung die Leiche wieder auf die offene See getrieben? Auch das war unwahrscheinlich, wenn sie der Aussage der Knaben und der Lehrerin glauben wollte. Der eingeklemmte Arm sprach deutlich dagegen. Je länger sie darüber nachdachte, desto klarer sah sie das Bild. Jemand hatte den Toten in der Zeit zwischen der Meldung des Fundes und dem Eintreffen der Polizei abtransportiert. Die Ebbe hatte einen schmalen Streifen des sandigen Bodens um den Damm freigelegt. Fußspuren würde sie kaum finden, aber vielleicht …

Sie stutzte plötzlich und fragte Sellick: »Legen hier Boote an?«

»Boote? Meines Wissens können hier gar keine Boote anlegen.«

»Und doch war kürzlich eines da, sehen Sie?« Sie zeigte auf eine keilförmige Vertiefung im Sand. »Die Kanten sind zu regelmäßig und deutlich ausgeprägt. Sie sind nicht zufällig entstanden. Ich meine, dort lag ein kleines Boot.«

Ron kniff die Augen zusammen, starrte eine Weile auf die Stelle, dann gab er kleinlaut zu: »Sie könnten recht haben, Sergeant.«

»Chris«, schmunzelte sie.

»Das bedeutet, dass wir Küste und Häfen nach ungewöhnlichen Bootsbewegungen absuchen müssen«, murmelte Sellick nachdenklich. »Ein hoffnungsloses Unterfangen, wenn Sie mich fragen.«

Sie nickte. »Trotzdem notwendig, fürchte ich.«

»Und nicht nur die Küste Kents«, ergänzte Ron. »Ihre Kollegen gegenüber in Essex sind genauso betroffen.«

»Ist mir klar. Ich kümmere mich darum. Ich werde mich auf Sie berufen, falls es Schwierigkeiten gibt.«

Damit hatten die Detectives kein Problem. Als sie wieder in Rons Wagen saßen, zögerte er, den Motor zu starten.

»Ich verstehe ja, dass ein Täter seine Leiche verschwinden lassen will«, meinte er kopfschüttelnd. »Aber dass Opfer ausbüchsen und wieder eingesammelt werden, ist mir neu.«

»Ungewöhnlich«, gab sie zu.

Sie äußerte ihren Verdacht nicht laut. Spekulationen brachten sie nicht weiter. Ob es ihr passte oder nicht, sie konnten im Augenblick nichts mehr tun. Wohl ganz im Sinne des DCI.

»Ziemlich enttäuschend, mein erster Einsatz«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu ihrem Kollegen.

Ron zog ein schiefes Gesicht. »Daran können Sie sich gar nicht schnell genug gewöhnen, Sergeant – Chris. Der DCI hat zwar eine phänomenale Aufklärungsquote, aber es gibt immer wieder Fälle wie diesen, wo wir in sehr dünner Luft ermitteln müssen. Vor allem im Küstenbereich wird es extrem schwierig. Wissen Sie, wie lang die Küstenlinie Großbritanniens ist?«

»Keine Ahnung.«

Er startete den Motor und fuhr los. »Etwa so lang wie der Durchmesser des Planeten, knapp 8‘000 Meilen.«

Sie schmunzelte. »Zum Glück sind die Küsten von Kent und Essex etwas kürzer.«

»Schon, bloß glaube ich nicht, dass uns das viel nützt. Ein kleines Boot ist schnell verschwunden, eine Leiche auch.«

»Sie haben also die Meinung geändert?«, fragte sie spöttisch.

Er blieb die Antwort schuldig, schweifte vom Thema ab. »Wenn Sie wollen, fahre ich Sie nach Hause. Wo wohnen Sie?«

»Hätten Sie wohl gern. Obwohl, wenn ich es mir überlege, könnte ich durchaus zwei handwerklich begabte Hände brauchen.«

Er grinste. »Meine Hände sind erprobte Universalwerkzeuge.«

»Was würde denn Ihre Freundin dazu sagen?«

Er kam nicht dazu, die heikle Frage zu beantworten. Im Lautsprecher des Funkgeräts knackte es, dann meldete sich die Einsatzleitung:

»Zentrale an Delta Bravo 42, bitte melden. Zentrale an …«