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Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Hansjörg Anderegg

Hansjörg Anderegg

Vernichten!

Der 7. Fall mit BKA-Kommissarin Chris

Thriller

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://www.d-nb.de abrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-199-3

E-Book-ISBN: 978-3-96752-697-4

XOXO Verlag, Bremen

Copyright (2021) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung: Grit Richter, XOXO Verlag

unter Verwendung der Bilder:

Stockfoto-Nummer: 1068509705, 1043334526

von www.shutterstock.com

Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Kapitel 1

Sankt Petersburg, Russland

Vielleicht nicht die beste Idee des Jahres, der Lachs-Pfannkuchen in der Stolowaja gegenüber dem Hotel. Schnell sollte es gehen, billig musste es sein. Das traf zu. Jetzt spürte er die Folgen. Sein Magen erinnerte ihn daran, wie ein einheimischer Blogger solche Schnellimbisse in Sankt Petersburg bezeichnet hatte: Toschnilowka – Kotzbude.

»Du siehst Scheiße aus«, bemerkte seine Begleiterin.

»Danke, das hilft. Mach schon! Ich kotz gleich auf den Flur.«

»Reiß dich zusammen! Sie müssen gleich da sein.«

Sie schloss auf. Er rannte ins Bad, um den Pfannkuchen an den richtigen Ort zu befördern: in die Toilette. Während er sich wusch, hörte er gedämpfte Stimmen. Eine Tür schlug zu, dann blieb es still. Irritiert verließ er das Bad und trat ins Zimmer.

»Was haben Sie mit dem Kind gemacht?«, fragte er die Unbekannte auf Russisch, alarmiert.

Das Mädchen, acht, wenn die Angaben stimmten, lag reglos rücklings auf dem Bett, das blaue Kleid mit weißen Punkten hochgeschoben, sodass ihr Höschen freilag wie eine Aufforderung, es auszuziehen.

»Das wollten Sie doch, Herr Meier«, antwortete die Russin in gebrochenem Deutsch.

Auf den ersten Blick machte die Besucherin den Eindruck einer dürren Marktfrau: grauer Rock, graue Jacke, weißes Kopftuch. Das Gesicht aber war jung. Sie warf ihm einen stechenden Blick zu. Ein verächtliches Lächeln umspielte ihren Mund. Seine Begleiterin saß im Ohrensessel am Fenster, drehte ihnen den Rücken zu und gab keinen Ton von sich. Etwas begann hier fürchterlich zu stinken, schlimmer als die verdorbenen Magensäfte in seinem Rachen.

»Was hat die Kleine?«, fragte er nochmals mit belegter Stimme.

Er beugte sich über das Mädchen, um den Puls zu fühlen. Gott sei Dank, dachte er und atmete auf. Das Herz der Kleinen schlug normal. Es war sein allerletzter Gedanke.

Fünf Minuten später stopfte die Besucherin Jacke, Rock und Kopftuch in ihren Rucksack. Bevor sie das Zimmer verließ, warf sie noch einmal einen prüfenden Blick auf die Szene, dann wandte sie sich ab. Kurz danach verließ sie das Hotel durch den Lieferanteneingang, eine junge Frau in Jeans, Lederweste und Baseballmütze, die das Haus nie betreten hatte.

Das Zimmermädchen öffnete die Tür mit der Nummer 412, nachdem niemand auf ihr wiederholtes Klopfen geantwortet hatte, um die Betten abzudecken und das Zimmer für die Nacht vorzubereiten. Nach zwei Schritten stieß sie einen gellenden Schrei aus und rannte händeringend und alle Heiligen anrufend hinaus. Wie von Killern gehetzt stürmte sie die Treppe hinunter und ins Büro des Managers. Außer Atem versuchte sie dem Mann mit Handzeichen, Gebeten und schlimmen Wörtern zu schildern, was sie gesehen hatte. Er verstand immerhin zwei davon: 412 und Politsiya. Verstört wollte er mit ihr hochsteigen, doch sie weigerte sich, noch einen einzigen Schritt zu tun, sank auf den Boden und weinte leise wimmernd vor sich hin, an die Wand gelehnt, Gesicht in den Händen vergraben.

Colonel Gregori Makarov von der Polizei Sankt Petersburg war ein alter Hase. Nach der Polizeischule war er bei der Sitte gelandet. Nach fünf Jahren hatte er beschlossen, sich künftig lieber mit den Toten des Morddezernats zu befassen. Das lag auch schon zwanzig Jahre zurück. Er konnte sich gut vorstellen, dass er sich nicht vorstellen konnte, was ihn im Zimmer 412 des noblen Hotels erwartete. Innerlich fluchend versuchte er, dem Blick seiner Partnerin Sofia im engen Aufzug auszuweichen, vergeblich. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Er musste seinem Ärger Luft verschaffen.

»Passt dir mein Hemd heute nicht?«, fuhr er sie an.

»Versuch doch, es wenigstens einmal im Monat zu wechseln.«

»Oho, Major Yeltsova macht Witze, originell.«

Er kannte seine Partnerin lange genug, um zu wissen, wie es um sie stand. Je zynischer die Sprüche, desto verletzter war sie, desto mehr graute ihr vor den dunklen Seiten des Jobs. Es gab eigentlich nur dunkle, schwarze Tage beim Mord, kaum je einen Lichtblick seit Jahren. Am schwersten waren die Tatorte mit Kindern zu ertragen.

»Kann es sein, dass dein Sohn wieder Mist gebaut hat?«, fragte er, um sie abzulenken.

Sie war zu angespannt, um zu antworten. Der Pathologe traf gleichzeitig mit ihnen beim Zimmer 412 ein. Der Hotelmanager und zwei seiner Mitarbeiter warteten auf dem Flur. Die Stimme des Direktors bebte, als er sie begrüßte.

»Ein Ehepaar Meier hat das Zimmer für eine Nacht gebucht«, berichtete er, »Martha und Tobias Meier aus Berlin. Das Mädchen hat nicht mit ihnen eingecheckt. Wir wissen nicht, woher es kommt und weshalb es im Zimmer ist.«

»Etwas müssen wir ja auch noch herausfinden«, brummte Gregori griesgrämig.

Seine Partnerin und der Mediziner befanden sich bereits im Zimmer. Er atmete tief durch und trat ein. Nach den ersten Informationen hatte er eine ähnliche Szene erwartet, allerdings nicht so drastisch. Der Mann, der sich Tobias Meier nannte, lag mit einem Loch im Kopf halb auf dem Bett, halb auf einem kleinen Mädchen. Ein Blutfleck, groß wie das Kopfkissen, hatte sich auf dem erdfarbenen Bettüberwurf ausgebreitet wie der Entwurf zu einem neuen, abstrakten Design. Daneben saß seine Frau am Boden, Martha Meier, den Rücken ans Bett gelehnt, den Revolver noch in der Rechten, mit dem sie erst ihrem Mann das Licht ausgeblasen und dann sich selbst mit einer Kugel in die Schläfe gerichtet hatte. So sah es jedenfalls aus auf den ersten Blick. Das Kleid des Mädchens war hoch gerutscht, das Höschen sichtbar. Hatte die Frau ihren Mann überrascht, als er sich über die Kleine hermachte? Die Erklärung drängte sich förmlich auf. Alles passte zu dieser Vorstellung. Es passte zu gut. Die schreckliche Szene wirkte zu perfekt, wie arrangiert.

Ein halberstickter Schrei ließ alle im Zimmer erstarren. Das Mädchen regte sich, sah das Blut, die toten Augen, die es anstarrten. Von panischer Angst ergriffen, schrie es lauter, strampelte verzweifelt, um sich von der Last zu befreien. Sofia reagierte als Erste.

»Sie lebt!«, entfuhr es ihr unwillkürlich.

Zusammen mit dem Arzt befreite sie die Kleine aus ihrer misslichen Lage, während sie ihr beruhigend ins Ohr flüsterte. Sie drückte sie sanft an ihre Brust, eine Hand schützend vor den Augen, damit sie die Leichen und das Blutbad nicht länger ansehen musste. Dann verließ sie mit ihr das Zimmer.

»Das Kind weist keine äußeren Verletzungen auf«, versicherte der Arzt.

Gregori brauchte die nächste Frage nicht zu stellen. Der Mediziner wusste ohnehin, was jedermann in dieser Situation auf der Zunge brannte. Er schüttelte den Kopf und sagte:

 

»Soweit ich ohne Untersuchung beurteilen kann, wurde sie nicht missbraucht.« Nach kurzer Pause fügte er leise hinzu: »Zumindest nicht dieses Mal.«

»Wurde sie betäubt?«

»Sieht ganz danach aus. Ohne Untersuchung kann ich allerdings nur spekulieren. Das ist nicht meine Baustelle. Ich bin Rechtsmediziner und beschäftige mich mit den Toten, wie Sie wissen, Colonel.«

Die Kleine war fürs Erste in guten Händen bei Sofia und den Kolleginnen von der Ambulanz. Jedenfalls hatte sie aufgehört zu schreien. Man hörte allerdings auch kein Wort von ihr. Sie schien eisern zu schweigen, was ihn nicht weiter erstaunte nach dem Schock.

»Was sagen die Toten?«, fragte er den Arzt, der gerade die Hände der Frau und den Revolver untersuchte.

»Es sind tatsächlich zwei Schüsse aus dieser Waffe abgefeuert worden, und die Hand der Frau weist Schmauchspuren auf.«

»Sie hat also erst ihren Mann und dann sich selbst erschossen?«

Gregori wollte trotz des Befundes nicht an diese Erklärung glauben. Weshalb wusste er selbst nicht. Das schiefe Grinsen auf dem Gesicht des Arztes erschien ihm daher wie ein Hoffnungsschimmer.

»Ich frage mich allerdings, wie die Frau das bewerkstelligt hat«, sagte der Arzt. Er schob das Haar am Hinterkopf der Leiche etwas auseinander. »Sehen Sie, was ich meine?«

Das blau angelaufene Hämatom war nicht zu übersehen.

»Wurde sie niedergeschlagen?«

Der Arzt nickte. »Und zwar mit einem harten, stumpfen Gegenstand und roher Gewalt, vermutlich mit einem Totschläger. Die Frau war kaum bei Bewusstsein, als sie die Kugel aus dem Revolver traf.«

»Mord, wusste ich‘s doch! Die ganze Szene ist gestellt, um einen Doppelmord zu vertuschen.«

Wieder nickte der Arzt und fügte an:

»Der Mann kann jedenfalls nicht geschossen haben, bevor er selbst von hinten erschossen worden ist. Es gab keinen Kampf. Der Schuss muss ihn völlig überrascht haben. Auch die Frau weist keinerlei Abwehrverletzungen auf.«

Das Team der Kriminaltechnik traf ein. Keine fünf Minuten vergingen, bis die beiden Geschosse sichergestellt waren. Beide tödlichen Schüsse stammten aus derselben Waffe, dem Revolver. Außer der Wunde am Hinterkopf der Frau gab es keine Spuren, die auf einen dritten Täter hindeuteten. Die Morde waren mit großer Präzision und Effizienz ausgeführt worden, eindeutig das Handwerk von Profis. Über Fingerabdrücke und DNA würden sie diesen Killer nicht identifizieren, war sich Gregori sicher. Ihre einzige Hoffnung ruhte im Moment auf den Aufzeichnungen der Überwachungskameras. Dumm nur, dass es auf dieser Etage keine gab. Kameras, die brauchbare Bilder lieferten, überwachten nur den Haupteingang, den Empfang und die Ein- und Ausfahrt der Tiefgarage. Die Befragung des Personals und der Zimmernachbarn auf der Etage ergab keine Hinweise auf Personen, die das Zimmer 412 betreten oder verlassen hatten. Alles andere hätte Gregori überrascht, Berufspessimist, der er war. Woher kam die Kleine? Irgendjemand musste sie hierher gebracht haben, denn sie hatte nicht mit den Meiers eingecheckt – der Mörder?

Die Pässe bestätigten die Identität des Ehepaars. Ausländer aus dem reichen Westen, die sich in Sankt Petersburg Kinder beschafften für illegale Adoptionen oder um ihre pädophilen Fantasien auszuleben, waren leider nichts Ungewöhnliches. Amerikaner und Deutsche gehörten zu den Spitzenreitern. Mit Dollar und Euro ließ sich alles problemlos kaufen in seinem Land, dachte Gregori bitter. Früher hatte er sich bei jedem neuen Fall maßlos darüber geärgert, bis ihn ein vorwitziger Praktikant, der sonst zu nichts taugte, mit einem weisen Spruch aufklärte: Es ist sinnlos, sich über etwas zu ärgern, das man nicht ändern kann. Seither war er bescheidener geworden, versuchte nicht mehr, die Welt zu verbessern. Er beschränkte sich darauf, seine Arbeit mit Anstand zu erledigen. So, dass er morgens in den Spiegel schauen konnte, ohne sich zu ekeln. Er war daher nicht sonderlich beliebt bei vielen Kollegen, die gerne mal die Hand aufhielten, aber auch darüber war er längst hinweg.

»Mir will nicht in den Kopf, dass niemand die Schüsse gehört hat«, sagte Sofia, die eben zur Tür hereinkam.

Da ihm keine passende Antwort einfiel, erkundigte er sich nach der Kleinen.

»Das Betreuungsteam kümmert sich jetzt um sie. Wie es aussieht, hat sie wohl Glück im Unglück gehabt und die Morde verschlafen.«

»Sagt sie etwas?«

Sofia schüttelte traurig den Kopf. »Kein Wort. Sie verschließt sich wie eine Auster. Es wird wohl dauern, bis wir sie identifizieren und befragen können.«

»Wir müssen die Leute im Hotel ausquetschen. Vielleicht kennt sie ja jemand.«

Sofia warf ihm einen verächtlichen Blick zu.

»Was glaubst du, tue ich die ganze Zeit? Die Befragung ist längst im Gang, bisher ohne Ergebnis. Wir gehen auch an die Presse.«

Er nickte nachdenklich und brummte:

»Wenn es das ist, was ich vermute, werden sich die Verantwortlichen hüten, bei uns anzutanzen.«

»Wir müssen mit Berlin sprechen. Machst du das?«

Die Kollegin, die sich um die Überwachungskameras kümmerte, unterbrach sie:

»Wir haben sie!«

Sie zeigte eine Szene der Kamera am Haupteingang auf dem Laptop, aufgenommen vor einer guten Stunde. Die Kleine war deutlich zu erkennen in ihrem auffälligen Kleid. Eine ältere Frau, deren Gesicht ein weißes Kopftuch halb verdeckte, führte sie an der Hand.

»Die Fahndung nach der Frau läuft«, beeilte sich die Kollegin zu versichern. »Sonst ist sie nirgends auf einer Aufzeichnung zu sehen.«

Gregoris Puls schnellte in die Höhe.

»Sie ist noch im Haus?«, rief er elektrisiert.

»Vielleicht – wir brauchen aber mehr Leute für die Durchsuchung.«

Die Kollegin trug die Bemerkung leise vor, als äußerte sie einen unverschämten Wunsch. Wütend bellte er ins Funkgerät, um Verstärkung anzufordern. Das Hotel musste augenblicklich abgeschottet werden, dass keine Ratte mehr durchkam. Ein frommer Wunsch und wahrscheinlich zu spät. Er wusste es, aber versuchen musste er es trotzdem.

»Die Frage hat sich wohl erübrigt«, seufzte Sofia und wandte sich ab.

Er erinnerte sich an keine Frage.

»Wohin gehst du?«

»Zurück ins Büro, Berlin anrufen.«

»Nett von dir.«

»Haha – Colonel Makarov scheint heute auch seinen witzigen Tag zu haben.«

Nicht unbedingt, aber ihr Englisch war bedeutend besser als seins. Eine Stunde, nachdem sie gegangen war, brach auch er auf. Das Hotel war nicht allzu groß, die Durchsuchung bald abgeschlossen. Von der Frau mit dem weißen Kopftuch fehlte jede Spur, und es gab keinen Hinweis auf eine ähnliche Person, die das Hotel im fraglichen Zeitraum verlassen hätte. Solang die Kleine schwieg, tappten sie völlig im Dunkeln. So sah es aus.

Sofia hing am Telefon, als er ins Büro zurückkehrte. Sie sprach Englisch. Berlin war am Draht. Ihr Gesicht verriet, dass sie sich angenehmere Arten vorstellen konnte, sich die Zeit zu vertreiben. Missmutig schaltete sie auf Lautsprecher, damit er mithören konnte.

»Sie versuchen, einen Zuständigen zu finden«, murmelte sie achselzuckend.

»Kommt mir bekannt vor«, brummte er.

»Hauptkommissarin Monika Weber, LKA Berlin«, meldete sich eine tiefe Frauenstimme im Lautsprecher.

Sofia stellte sie vor und kam sofort zur Sache:

»Heute Abend sind in einem Hotelzimmer in Sankt Petersburg zwei Tote entdeckt worden, ein Mann und eine Frau. Sie trugen deutsche Pässe auf sich, die sie als Tobias und Martha Meier ausweisen. Beim Einchecken haben sie Berlin als Wohnsitz angegeben.«

Es blieb totenstill in der Leitung, als gäbe es kein Netz.

»You still there?«, fragte Sofia irritiert.

»Ja – natürlich – was ist geschehen?«

Sofia schilderte den Tathergang, vorerst ohne das Kind zu erwähnen. Wieder entstand eine lange Pause. Diesmal hörte man leise, aufgeregte Stimmen im Hintergrund. Endlich meldete sich die deutsche Kommissarin mit der Bitte, Bilder der Toten und Kopien der Pässe zu übermitteln. Kaum waren die Fotos der Opfer in Berlin, kam auch schon die Bestätigung der Kommissarin Weber:

»Wir haben das Ehepaar Meier identifiziert und kennen den Wohnsitz.«

Zum ersten Mal schaltete sich Gregori ein:

»Sind die beiden aktenkundig?«

»Nein, keine Akte.«

»Auch nicht bei der Sitte?«

»Keine Akte heißt keine Akte«, antwortete die deutsche Kommissarin unwirsch.

Der Ton störte ihn nicht, wohl aber die Tatsache, dass die Frage ausblieb, weshalb er ausgerechnet die Sitte erwähnte. Zu seiner Überraschung stellte die Deutsche eine andere Frage:

»War noch jemand beim Ehepaar Meier zur Tatzeit? Gibt es Zeugen?«

Sofia warf ihm einen vielsagenden Blick zu, bevor sie das Mädchen erwähnte.

»Mein Gott – ist das Kind verletzt?«

»Das Mädchen ist wohlauf, steht aber unter Schock«, antwortete Gregori. »Es gibt noch keine Aussage. Wir übermitteln Ihnen unsere Akten mit dem Foto des Mädchens. Sie halten uns bitte auf dem Laufenden über Ihre Ermittlungen in Berlin.«

Der Rest war Routine. Sankt Petersburg würde die Leichen nach der Obduktion und dem Abschluss der Beweisaufnahme nach Deutschland überstellen. Er und Sofia mussten den Killer oder die Killerin jagen, die Deutschen die Familie informieren und deren Umfeld untersuchen, was vielleicht zu einem brauchbaren Motiv führen würde. Ein grausamer Routinefall wie viele andere, wäre da nicht das kleine, namenlose Mädchen, das eben durch die Hölle gegangen war, die er sich als Erwachsener nicht vorstellen konnte.

Berlin

»Oh – mon – Dieu – je vais m’évanouir!«, rief Jeanne entsetzt und machte Anstalten, in Ohnmacht zu fallen.

»Ein Cognac für Jeanne«, sagte Chris lachend zur Azubiene, die ratlos danebenstand. Jeanne hieß eigentlich Hans, stammte aus der dunkelsten Ecke Neuköllns und lebte für den großen Auftritt als elegante Französin.

»Was habe ich denn Schlimmes gesagt?«, fragte sie ihre frankophile Hairstylistin.

»Mein Gott, Frau Doktor Roberts – schlimm ist gar kein Ausdruck!«

Weiter kam Jeanne nicht. Ihr Brustkorb mit den – zugegeben perfekt modellierten – Silikonimplantaten hob und senkte sich in gefährlich rascher Folge. Sie fächerte sich mit der flachen Hand Luft zu, wandte sich ab und alarmierte die Belegschaft des Salons. Die Angestellten ließen ihre Kundinnen im Stich und eilten mit besorgten Mienen herbei. Der Betrieb stand still. Chris wusste jetzt, wie sich Schimpansen im Zoo fühlten. Wenigstens trennte die eine Glasscheibe von den Gaffern. Die Chefin bahnte sich einen Weg durch die Menge. Jeanne versuchte zu erklären, was sie so erschütterte, doch ihre Stimme versagte. Zu tief saß der Schock.

»Ist etwas nicht in Ordnung, Frau Kommissarin?«, fragte die Chefin.

Chris spielte die Ahnungslose und zuckte die Achseln.

»Ich will mir nur den Zopf abschneiden lassen.«

»Nein!«, riefen die Umstehenden im Chor.

Die Aufregung war zu viel für Jeanne. Mit einem tiefen Seufzer ließ sie sich in die Arme der Kolleginnen fallen. Selbst die Chefin fand die Sprache nicht sofort wieder.

»Aber – haben Sie sich diesen Schritt auch wirklich gründlich überlegt?«, stammelte sie.

Jeannes Vorstellung war noch nicht zu Ende. Sie warf sich Chris zu Füßen und flehte sie an:

»Chère madame commissaire – erbarmen Sie sich meiner! Lassen Sie diesen bitteren Kelch an mir vorüberziehen! Zwingen Sie mich nicht, das Undenkbare zu tun, das schönste, längste, wundervollste Haar Berlins – was sage ich: die schönste Haarpracht Deutschlands! – brutal abzuschneiden!«

Jedem Satz folgte ein deutlich hörbares Ausrufezeichen. Chris tätschelte ihr mitfühlend die Hand.

»Ma chère, beruhigen Sie sich. Haare wachsen nach. Es muss einfach sein.«

»Aber warum in Gottes Namen? Hach – es ist eine Sünde.«

Jeanne blickte sich Hilfe suchend um und stellte die rhetorische Frage mit ersterbender Stimme:

»Ist es nicht eine wahre Sünde?«

Chris entschloss sich zu einer drastischen Maßnahme, um das Verfahren abzukürzen. Sie flüsterte Jeanne ins Ohr:

»Wenn Sie mir schnell einen schicken Kurzhaarschnitt verpassen, verrate ich Ihnen ein Geheimnis, das noch niemand kennt.«

Jeanne traute ihren Ohren nicht und warf ihr einen leidenden Blick zu. Erst Chris‘ Augenaufschlag überzeugte sie. Mit einem tiefen Seufzer scheuchte sie die Zuschauerinnen weg.

»Husch, husch, meine Lieben, zurück an die Arbeit, oder habt ihr nichts zu tun?«

 

Sie wartete mit dem Blick der Kindergärtnerin bis alle ihren Platz gefunden hatten, bevor sie die längst fällige Frage stellte:

»Was haben Sie sich denn genau vorgestellt, Madame?«

»Der Zopf muss weg«, lag Chris auf der Zunge, doch sie hütete sich, die brutale Wahrheit nochmals auszusprechen. Mit Schrecken stellte sie fest, dass sie sich keinerlei Gedanken über den nächsten Schritt gemacht hatte, so fixiert war sie auf die Vorstellung, das strohblonde Teil loszuwerden, mit dem sie nicht zuletzt ihren Ehemann Jamie geangelt hatte. Jeanne erwartete glücklicherweise keine Antwort. Behände entflocht sie den dicken Zopf, der fast bis zum Po reichte, wickelte das lange Ende locker um einen Arm und rückte das Haar mit der andern Hand so zurecht, dass Chris eine Vorstellung davon bekommen sollte, was sie sich vorstellte.

»Passt!«, beeilte Chris sich zu versichern.

»Sie werden ein gaaanz neuer Mensch, Madame«, flüsterte die Hairstylistin ergriffen mit langgezogenem A. »Wir schneiden Ihnen ein luftiges Kurzhaarfrisürchen mit neckischer, schräger Ponypartie. Was halten Sie davon?«

Chris bekundete begeisterte Zustimmung, ohne zu verstehen, wovon die Gute sprach. Wenn Jeanne in den Pluralis Majestatis verfiel und die Sätze mit »Wir« begannen, blieb ohnehin wenig Spielraum für Diskussionen. Abgesehen davon hatte sie sich vorgenommen, im Laufe des Tages doch noch im BKA-Präsidium in den Treptowers aufzutauchen – bevor Staatsanwältin Winter die Fahndung auslösen würde. Jeanne hielt inne, bevor sie die Schere zum fatalen Schnitt ansetzte, und beugte sich mit ernster Miene zu ihr herunter.

»Vergessen Sie nicht, Sie haben mir etwas versprochen, Madame – das Geheimnis!«

»Sobald der Zopf ab ist.«

Jeanne begann seufzend mit der qualvollen Arbeit. Sorgsam reihte sie Strähne um Strähne des über fast zwei Jahrzehnte gewachsenen Haares auf dem Glastisch aneinander, als wären es kostbare Reliquien. Kolleginnen unterbrachen die Arbeit, fasziniert von einem Hochamt, wie es noch nie zelebriert worden war in diesem Salon. Die Chefin verließ ihren Arbeitsplatz ein weiteres Mal, um das Wunder aus der Nähe zu betrachten. Gedankenverloren ließ sie das Haar durch die Finger gleiten, bevor sie ohne ein Wort zu sagen an den Schreibtisch zurückkehrte.

»Sie ist scharf auf Ihr Haar«, flüsterte Jeanne aufgeregt. »Verkaufen Sie es ja nicht zu billig, mindestens fünfhundert.«

»Wie bitte?«

»Fünfhundert Euro mindestens für diese Länge und Qualität.«

Chris begann zu begreifen, dass sie das erste Mal im Leben etwas produziert hatte, was man verkaufen konnte. Während Jeanne den kümmerlichen Rest ihrer Haare wusch, um sie fürs Ausdünnen und Schneiden vorzubereiten, erfuhr sie mehr übers Geschäft, von dessen Existenz sie nichts geahnt hatte. Gesundes, langes Haar von Europäerinnen ist selten und gesucht. Es eignet sich besser für Perücken und Verlängerungen als Haar von Inderinnen, das zwar reichlich vorhanden ist aber erst aufwendig behandelt werden muss.

Vor dem Spülen legte Jeanne noch einmal eine Pause ein, begleitet von einem fragenden Blick. Chris winkte sie näher heran und flüsterte so leise, dass nur sie es hören konnte:

»Ich bin schwanger.«

»Neiiin!«

Jeannes Ausruf der Überraschung ließ den Salon erstarren. Für einen Augenblick stand die Zeit still. Beim nächsten Atemzug tauchte die Chefin bei ihnen auf.

»Alles in Ordnung?«, fragte sie, ohne die Lippen zu bewegen.

Chris lächelte verträumt. Nie zuvor hatte sie den Satz ausgesprochen, der ihr Leben auf den Kopf stellte: Ich bin schwanger. Nicht einmal Jamie ahnte etwas von ihrem Glück. Vielleicht glaubte er etwas zu ahnen, weil er mit ihr hoffte nach vielen vergeblichen Versuchen, aus Solidarität und Zweckoptimismus. Gewissheit hatte nur sie.

»Alles in Ordnung, Frau Kommissarin?«, fragte die Chefin noch einmal, tiefe Sorgenfalten auf der Stirn.

»Alles gut, es könnte nicht besser sein«, beruhigte sie.

Kaum waren sie wieder allein, begannen Jeannes Fragen auf sie einzuprasseln. Die neue Frisur entstand nebenbei aus dem Handgelenk. Wichtig war nur noch das eine Thema. Die Aufregung stand Jeanne ins Gesicht geschrieben, als wäre sie selbst schwanger geworden. Chris spielte eine Weile mit. Es tat ihr gut, mit jemandem darüber zu sprechen. Sie sonnte sich im Gefühl, es gäbe nichts anderes Wichtiges mehr auf der Welt, alles drehte sich einzig und allein um das winzige Lebewesen, das in ihrem Bauch heranwuchs.

»Sie werden doch jetzt nicht weiter Ganoven jagen«, sagte Jeanne unvermittelt, das nackte Entsetzen in den Augen.

Chris zuckte die Achseln. »Jemand muss es eben tun.«

»Aber – das Kind! Denken Sie an Ihr Kind! Was wird‘s denn, Junge oder Mädchen oder etwas dazwischen?«

Chris lachte laut auf. »Eine Überraschung. Es ist noch zu klein, um Farbe zu bekennen.«

Jeanne schnipselte und kämmte eine Weile schweigend weiter, bis sie innehielt und versonnen seufzte:

»Hach, ich beneide Sie.«

»Was glauben Sie, wie ich Sie manchmal beneide. Sie erschaffen Schönheit, machen Schönes noch schöner, können den ganzen Tag elegante Kleider und Schuhe tragen, ohne fürchten zu müssen, sie zu ruinieren, und haben erst noch geregelte Arbeitszeiten.«

Jeanne schüttelte traurig den Kopf. »Und was mache ich am Feierabend? Ich sitze einsam und verlassen in meiner tristen Einzimmerwohnung vor der Glotze.«

Chris musste dringend etwas Positives einfallen, damit sie sich wieder ihrem Kurzhaarschnitt mit schräger Ponypartie widmete.

»Gönnen Sie sich eine Reise – nach Paris zum Beispiel. Sammeln Sie schöne Erinnerungen. Die sind das Kostbarste, was es gibt.«

»Außer Kindern und einer Familie«, murmelte Jeanne fast unhörbar. Bevor Chris antworten konnte, fuhr sie mit bitterem Lächeln fort: »Paris war schon immer mein Traum.«

»Wollen Sie damit andeuten, noch nie dort gewesen zu sein?«

»Kann ich mir nicht leisten.«

»Ach was, Paris ist nicht teurer als Berlin, wenn man den Kaffee nicht gerade bei der Oper trinkt.«

Jeanne schüttelte entschieden den Kopf und drohte, die Arbeit an der Frisur ganz einzustellen.

»Sie haben ja keine Ahnung, Madame«, klagte sie. Die Hand auf der Brust, fügte sie an: »Die OP hat mich komplett ruiniert. Ich werde den Kredit wohl bis ans Lebensende abzahlen müssen. Nicht einmal die Farben der Saison kann ich mir leisten. Tragisch, nicht wahr?«

So melodramatisch sie sich ausdrückte, in ihrer Stimme und den Augen lag eine Traurigkeit, die Chris berührte. Jeanne war bei aller Exaltiertheit ein zutiefst unglücklicher und einsamer Mensch. Da ihr keine passende Antwort einfiel, endete die Unterhaltung abrupt. Jeanne widmete sich mit neuer Inbrunst dem Kunstwerk auf ihrem Kopf. Bisher hatte Chris den Blick in den Spiegel vermieden, doch jetzt, nachdem Jeanne eine letzte Strähne gebändigt hatte, musste sie in den sauren Apfel beißen. Eine fremde Frau sah sie an, deren Gesichtszüge sich langsam entspannten. Sie wagte gar ein Lächeln, denn was sie sah, gefiel ihr. Die neue Chris gefiel ihr so sehr, dass Jeanne sich heimlich eine Träne trocknen musste. Sie liebte die große Geste.

»Jetzt beginnt ein neuer Lebensabschnitt«, sagte sie, zufrieden mit ihrem Werk.

Sie sprach Chris aus der Seele.

Das schrille Geheul einer Polizeisirene drang durch die halb offene Tür in den Salon. Ein Rettungswagen raste auf der Straße am Fenster vorbei. Der Alltag hatte sie wieder. Sie griff automatisch zum Telefon, das sie stumm geschaltet und während der Verwandlung im Salon nicht beachtet hatte. Drei Anrufe aus dem Präsidium, eine SMS vom Kollegen Haase und eine Nachricht von Jamie. Der musste warten. Sie rief Haase an.

»Sie sollten sofort herkommen«, sagte er ruhig und emotionslos wie stets, wenn er nicht gerade Kaffee braute. »Es brennt.«

»Das Büro brennt?«

»Die Staatsanwaltschaft.«

»Besser.«

»Im Ernst, die Winter sucht sie schon eine ganze Weile. Sie hat ziemlich üble Laune.«

»Das ist ihr Normalzustand.«

Staatsanwältin Winter, die Eisprinzessin, hatte ihre Scheidung auch nach Jahren immer noch nicht überwunden, immerhin ein Zeichen, dass sie auch Gefühle besaß, negative zumindest.

»Ich muss leider zurück ins Büro«, entschuldigte sie sich bei Jeanne mit einem Seufzer.

Sie stand auf, betrachtete sich von allen Seiten im Spiegel und lobte das gelungene Meisterwerk. Ohne Zopf fühlte sie sich leicht, beschwingt gar und um Jahre jünger. Jeanne betrachtete sie in stiller Bewunderung ihrer Arbeit. Die Augen glänzten oder waren es Freudentränen?

»Was geschieht mit dem schönen Haar, Madame?«, fragte sie tonlos.

Chris hatte den alten Zopf beinahe vergessen. Die Zeit drängte, die beste Voraussetzung für gute Einfälle. Mit einem letzten Blick auf die verlorene Haarpracht sagte sie:

»Den Zopf schenke ich Ihnen.«

»Neiiin!«

Wieder hörte die Welt auf, sich zu drehen. Die Chefin materialisierte sich wie aus einer höheren Dimension. Bevor sie die Standard-Frage stellen konnte, bekräftigte Chris ihren Entschluss:

»Ich schenke den Zopf meiner Künstlerin Jeanne.«

Um deren drohende Ohnmacht zu verhindern, drängte sie zum Aufbruch. Zum Abschied flüsterte sie der Guten ins Ohr:

»Nicht zu billig verkaufen, Jeanne, mindestens fünfhundert – und grüßen Sie mir Paris.«

Jens Haase füllte neue Bohnen in seine Espressomaschine, als sie eintrat. Er blickte nur kurz auf.