Der zweite Killer

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Der zweite Killer
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

der zweite Killer

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Hansjörg Anderegg

Hansjörg Anderegg

der zweite Killer

Der 5. Fall mit BKA-Kommissarin Chris

Thriller

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://www.d-nb.de abrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-197-9

E-Book-ISBN: 978-3-96752-695-0

Copyright (2021) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung: Grit Richter, XOXO Verlag

unter Verwendung der Bilder:

Stockfoto-Nummer: 1176347449, 258045047

von www.shutterstock.com

Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Kapitel 1

Berlin

Was lag in diesen Augen? Jedenfalls nicht, was er erwartete. Kein Schmerz, eher Neugier. Eine Art Vorfreude auf das, was kommen würde, als wäre die Vergangenheit schon tot und begraben. Der Blick erinnerte an Kinderaugen vor der ersten Jungle Cruise im Magic Kingdom. Im Grunde genommen war alles gesagt, aber eine letzte Frage hatte er noch:

»Angst?«

»Was für eine gottverdammt überflüssige Frage, Mann! Ich scheiß mir in die Hose.«

Er konzentrierte sich auf die Augen. Seine Mundwinkel zuckten unmerklich. Die Hand hob sich wie von selbst, als wären nicht zehn Jahre vergangen seit dem letzten Mal. Dann drückte er ab.

Das Geräusch vernahm er kaum. Ein Stein, der auf nassen Boden klatscht, nicht mehr. Der Schalldämpfer schluckte die Schockwelle. Erstaunlich wenig Blut trat aus dem dritten Auge genau zwischen den Brauen. Er fing den toten Körper auf und bettete ihn sanft auf das feuchte Gras. Ein Kopfschuss war immer ein Risiko, aber dieser saß perfekt. Menschen erschießen will gelernt sein, wie Radfahren. Und genau so verlernst du es nie, dachte er. Amateure, die ein halbes Magazin leerten, um ihr Ziel zu treffen, fuhren mit Stützrädern wie kleine Kinder. Man sollte sie auch erschießen. Alle.

Er zupfte das Jackett des Toten zurecht, legte das Medaillon gut sichtbar auf die Brust und faltete seine Hände. Sie waren allein in der roten Stunde am frühen Morgen. Er brauchte sich nicht umzusehen. Die Anwesenheit eines andern Menschen spürte er auch so. Ohne diese Fähigkeit hätte er selbst längst ins Gras gebissen, oder Dreck gefressen in der verfluchten Steinwüste damals bei 40° im Schatten. Trotz der Brise hielt sich der Geruch des Schießpulvers in der Nase wie bei einem Spürhund. Das Gras verdorrte vor seinen Augen. Der nahe Feldweg verwandelte sich in ein ausgetrocknetes Bachbett, die halb verfallene Hauswand, ein rot glühender Fels, vor ihm im Staub der Gefallene. Wieder ein Held. Jemand trug die Verantwortung. Diesmal würde er sie finden und zur Rechenschaft ziehen.

Es raschelte in seinem linken Ohr, mit dem er so gut hörte wie ein Wüstenfuchs seit dem Loch im andern Trommelfell. Ein letzter Blick auf den Leichnam, dann zog er sich auf den Beobachtungsposten zurück, geräuschlos wie der Geist des Toten. Er verschmolz mit der Umgebung. Reglos im Dunkel zwischen Blättern, blieb er so gut wie unsichtbar, vom ungeübten Auge nicht zu entdecken. Auch nicht von Hundenasen, denn die Brise wehte vom Tatort über den Weg zu ihm herüber. Er vernahm das Hecheln, bevor der fette Beagle aus dem Gebüsch brach. Starr vor Schreck betrachtete der Köter den Leichnam. Der Hund vergaß für kurze Zeit, mit dem Schwanz zu wedeln. Er blickte sich vorsichtig nach allen Seiten um, bevor er den ersten, zaghaften Schritt auf den Toten zu wagte.

Der Lauf der Pistole folgte ihm. Streunende Hunde gehörten nicht zum Plan. Nur Zentimeter trennten die Schnauze vom Gesicht des Toten, eine Haaresbreite den Abzug vom Druckpunkt. Das dumme Vieh war im Begriff, die Totenruhe zu stören. Es war imstande, das Bild zu verändern. Der verdammte Köter zerstörte die Message! Das musste er verhindern. Es ging nicht anders. Sorry, Schlappohr.

Ein kurzer Pfiff rettete dem Beagle das Leben. Der Finger am Abzug entspannte sich. Ein dürres altes Männchen mit weißem Schnurrbart und Baskenmütze näherte sich. Der Alte rief den Hund zu sich. Der verweigerte den Gehorsam, blieb neben dem Toten sitzen und bellte zurück.

»Emma, Fuß! Was fällt dir ein? Eine Schande, was die Schweine alles liegen lassen heutzutage.«

Händeringend trat er auf die widerspenstige Emma zu, um sie an die Leine zu nehmen. Der Mann im Versteck lebte schon lang genug in Deutschland, um jedes Wort zu verstehen. Der Alte reagierte nicht wie in seinem Plan vorgesehen. Als er erkannte, was im Gras lag, stieß er einen Schreckensruf aus, packte den Hund und rannte davon. Der Köter stellte jedenfalls keine Gefahr mehr dar.

Er ließ die Waffe sinken, um sie gleich wieder mit einem unterdrückten Fluch hochzureißen. Emma kehrte zurück. Das Männchen folgte ihr halb hüpfend, halb hinkend. Eine junge Frau im Trainingsanzug, Stirnband ums blonde Haar, Telefon in der Hand, begleitete ihn. Der Beobachter im Gebüsch entspannte sich. Die Frau passte genau in seinen Plan. Sie reagierte besonnen, betrachtete das Arrangement aus sicherer Entfernung und sah sich vorsichtig nach allen Seiten um. Gleichzeitig gelang es ihr, den Alten und Emma zu beruhigen. Endlich tat sie das, worauf er wartete: Sie telefonierte. Der Auftrag war erledigt. Statt sich abzusetzen, harrte er mit den beiden bei der Leiche aus, bis sich ein Streifenwagen näherte.

Von nun an verlief alles nach Plan. Geräuschlos die Fußabdrücke verwischend, zog er sich aus dem Gebüsch zurück, ohne den Tatort aus den Augen zu lassen. Bis die Beamten daran dachten, die Umgebung abzusuchen, war er längst untergetaucht. Unsichtbar unter all den andern Unsichtbaren in Berlin.

Hauptkommissar Lukas Mertens knallte die Tür des Chefs hinter sich zu. Er hatte schon schlimmere Tage erlebt aber nicht viele. Er brauchte dringend seinen Adidas zum Dreinschlagen, doch das ging nicht. Er war im Dienst. Also setzte er das Gesicht Marke grimmiger Boxer auf und hoffte, jemand möge ihm auf die Latschen treten.

Niemand eilte ihm entgegen, freudestrahlend, als interessierte es irgendein Schwein, was er zu sagen hatte. Ausgerechnet der Niemand musste ihm hier auf dem Flur begegnen, wo er ihn nicht ignorieren konnte wie im Büro. Der kleine Praktikant – Referendar, wie der Chef großspurig betonte – war schuld an seiner üblen Laune. Übler noch als sonst beim Betreten des Landeskriminalamts im Morgengrauen. »Kümmern Sie sich um den Referendar Seidel. Er ist begierig, von Ihnen zu lernen«, wollte ihm der Chef einreden. Vom Hauptkommissar zum Babysitter: geile Karriere. Der Junge war so grün hinter den Ohren, dass er ihn dauernd wässern wollte. Das ganze verdammte Strafgesetzbuch kannte er auswendig, aber Polizeiarbeit verwechselte er mit Fernsehkrimis. Zwei Wochen lang hatte er Niemand erfolgreich ignoriert, bis der Chef glaubte, das Problem nicht länger übersehen zu können. Mertens stellte den Schuh quer, um dem Referendar Gelegenheit für einen Fehltritt zu geben. Niemand blieb eine Handbreit davor stehen und rief:

»Herr Hauptkommissar, wir haben eine Leiche!«

»Was zum Teufel glauben Sie, wo wir hier sind, im Fundbüro?«

Die Frage stoppte wenigstens das Grinsen.

»Wir befinden uns in der Mordkommission, Herr Hauptkommissar.«

Wieder so eine Unart. Er konnte Leute nicht ausstehen, die stets in ganzen Sätzen antworteten. Hielten sich wohl für etwas Besseres, die arroganten akademischen Herrschaften.

»Mordkommission, Sie sagen es. Und womit beschäftigt sich eine Mordkommission?«

»Die Mordkommission beschäftigt sich mit Kapitalverbrechen.«

»Und?«

»Leichen«, flüsterte Niemand betroffen.

Jetzt verzog er die Mundwinkel. »Geht doch. Sehen Sie, Sie können ja auch normal reden.«

Das Gesicht des Jungen stimmte ihn versöhnlich.

»Also, was ist denn so besonders an dieser Leiche?«

 

»Sie ist neu. Heute Morgen um 8:10 Uhr, als Sie beim Chef …«

»Ich weiß, wo ich war!«

Niemand trat vorsichtshalber einen Schritt zurück. »Um 8:10 Uhr traf die Meldung einer Polizeistreife ein. Leichenfund beim alten Asylheim. Ein Mann, circa vierzig Jahre alt, schwarze Hautfarbe.«

»Schwarz? Gute Nacht!«

Mord aus Rassenhass gehörte nicht zu seinen Favoriten. Niemand fuhr zögernd weiter:

»Das Opfer ist offenbar durch einen einzigen Schuss in die Stirn aus nächster Nähe getötet worden. Spurensicherung und Rechtsmedizin sind unterwegs.«

»Das sollten wir uns nicht entgehen lassen«, brummte er.

»Wir?«

»Wir beide. Kommen Sie. Das wird ein Fest: Ihre erste Leiche.«

Die Leiche lag im Gras neben dem Feldweg hinter dem verfallenen Gemäuer des alten Asylheims, wie Niemand berichtet hatte. Das wenige Blut überraschte Mertens nicht, wohl aber die Präzision des Schusses. Das Loch in der Stirn sah aus wie aufgemalt. Noch seltsamer erschienen ihm Kleidung und Lage des Toten.

»Er sieht aus wie aufgebahrt«, flüsterte ihm der blasse Referendar ins Ohr und beschrieb damit die Lage ziemlich genau.

»Er kann Sie nicht hören«, gab Mertens ebenso leise zurück.

Der Tote trug seinen besten Anzug, wie es schien, Hose frisch gebügelt, Jackett sorgfältig zurecht gezupft, die Hände wie zum Gebet gefaltet, als wollte ihm der Mörder so die letzte Ehre erweisen.

»Schlechtes Gewissen oder neuartiges Ritual?«, fragte er sich laut.

»Sieht eher nach einem Gnadenschuss aus«, sagte der Pathologe.

»Wie pervers ist das denn!«, platzte Niemand heraus.

Mertens und der Rechtsmediziner wechselten einen Blick, der deutlich ausdrückte, dass beide anderes gewohnt waren.

»Seine Erste«, murmelte der Kommissar, während er an den Händen des Opfers vergeblich nach Abwehrspuren suchte. »Sonst irgendwelche Verletzungen?«

»Nicht auf den ersten Blick. Der Mann scheint ruhig auf den Schuss gewartet zu haben, ohne sich zu wehren.«

Er drehte den Kopf der Leiche zur Seite, um die klaffende Austrittswunde zu zeigen.

»Präzisionsschuss aus circa einem Meter Abstand. Der Mann war sofort tot.«

Mertens nickte. »Fundort gleich Tatort?«

»Definitiv. Die Techniker haben Patronenhülse und Projektil sichergestellt.«

Der Täter war also kaum ein professioneller Killer – oder einer, der sich sehr sicher fühlte. Der Mediziner fasste dem Toten unter die Schulter.

»Kann mir mal jemand helfen? Ich muss mir die Rückseite ansehen.«

Mertens stand wie durch ein Wunder schon bei der Chefin der Kriminaltechnik und rief Niemand zu:

»Anfassen, junger Mann!«

Die Patronenhülse im Plastikbeutel stimmte ihn nicht euphorisch: Kaliber 9 mm, Massenware, sehr verbreitet.

»Sonst gibt es keine Spuren am Tatort«, versicherte die Technikerin, »nicht einmal verwertbare Fußabdrücke außer denjenigen der Zeugen.«

Der Täter war ein verdammter Geist, der schießen konnte wie ein Profikiller. Dieser Fall gefiel ihm schon jetzt nicht mehr. Mürrisch wandte er sich an die Zeugen. Der Alte und die sportliche junge Dame beantworteten die Fragen ebenso mürrisch. Fragen, die sie alle schon beantwortet hatten. Am Ende bestätigte sich, was von Anfang an zu befürchten war: Die Zeugen hatten nur den Leichnam im Gras liegen sehen, sonst gar nichts. Nach den vorläufigen Angaben des Pathologen war der Alte mit seinem Hund nur wenige Minuten zu spät am Tatort erschienen – glücklicherweise. Sonst gäbe es hier mit Sicherheit ein bis zwei zusätzliche Kunden für die Pathologie. Er kehrte an den Tatort zurück.

»Keine äußeren Verletzungen, keine Abwehrspuren«, bestätigte der Mediziner, nachdem er auch die Rückseite der Leiche untersucht hatte. »Das Opfer muss dagestanden haben, hat seinem Mörder ruhig ins Gesicht gesehen, als es passiert ist.«

Sein Tonfall verriet eine gewisse Verblüffung, die Mertens vorbehaltlos teilte. Ging es so weiter, entwickelte sich der Mordfall bald zu einem Fall aktiver Sterbehilfe.

»Was steht auf dem Grabstein?«, fragte er.

Das Medaillon auf der Brust des Toten ähnelte einer Erkennungsmarke der Bundeswehr.

»Das ist ein sogenannter Dog tag, Herr Kommissar«, warf Niemand ein wie aus der Pistole geschossen.

»Eine Hundemarke?«

»Dog tags nennt man im angelsächsischen Sprachraum umgangssprachlich Erkennungsmarken der Streitkräfte.«

»Was Sie nicht sagen. Unser Kunde war also ein angelsächsischer Soldat?«

Referendar Seidel schluckte leer, bevor er weitersprach:

»Soldat oder Ex-Soldat der Vereinigten Staaten. Unser Toter heißt Jones, Eddie. Er ist männlich, katholisch und diente bei der US-Navy. Das sieht man am USN auf dem Dog tag.«

»Männlich, soso. Sozialversicherungsnummer?«

Zu seiner Überraschung spulte Niemand die neun Ziffern ohne Zögern ab. Mertens konnte nur den Kopf schütteln.

»Ich kann mir eben Zahlen gut merken«, verteidigte sich der Referendar kleinlaut.

»Schon gut, daran ist noch keiner gestorben. Auf alle Fälle hat uns der Mörder eine ganze Menge Arbeit erspart mit der Hundemarke, falls sie dem Toten gehört.«

Das war der Punkt, vor dem ihm graute: Ermittlungen bei den Amis. Bisher hatte er nur einmal Informationen benötigt von den guten Freunden jenseits des großen Teichs. Es war keine schöne Erinnerung. Er fragte sich noch heute, wie er damals ohne bleibenden Schaden wieder von der Decke heruntergekommen war. Wenn die Amis nichts sagen wollten, sagten sie nichts, Gerichtsbeschluss und Antragsformular hin oder her, Punkt. Vielleicht lag es auch ein wenig an seinem miserablen Englisch. Fluchen musste er jedenfalls auf Deutsch. Die Antwort war ein verständnisloses Lächeln gewesen.

Nein, er verspürte nicht das geringste Bedürfnis, sich nochmals mit denen anzulegen. Genau in diesem Augenblick flüsterte ihm ein barmherziger Engel eine geniale Idee ins Ohr.

Dahlem

Der Parkettboden im Flur knarrte beruhigend unter den Füßen wie im Haus ihrer Jugend im nahen Potsdam. Der Spiegel an der Garderobe, halb erblindet, wirkte wie ein Weichzeichner. Er musste gut und gerne hundert Jahre alt sein wie das Haus. Chris hörte Jamies Schritte im Obergeschoss. Sie trat näher an den Spiegel heran, bis die Nasenspitze beinahe das Glas berührte. Sah man die Veränderung in ihrem Gesicht? Sahen Ehefrauen anders aus als Singles? Vor der Heirat mit Dr. Jamie Roberts hatte sie das ernsthaft geglaubt. Sie wirkte älter, gesetzter, anders als vor der Hochzeit, fand sie. Also doch. Oder war es Wunschdenken, weil sie sich auch nach einem halben Jahr noch nicht ans neue Leben gewöhnt hatte?

Sie spielte nachdenklich mit ihrem dicken, strohblonden Zopf. Für diese Haarpracht brauchte sie einen Waffenschein wie für die Glock in ihrem Schulterhalfter. Der Zopf hatte Jamie bei der ersten Begegnung den Verstand geraubt. Sie brauchte nur das Haar hängen zu lassen wie Rapunzel, schon griff der sonst so kühle und brillante Mediziner danach wie ein Ertrinkender nach der Rettungsleine. Das Geflecht hatte magische Kräfte. Anders war seine Wirkung auf Jamie und Männer im Allgemeinen nicht zu erklären. Wie sonst könnte ein mit rationalem Verstand gesegneter Mann, selbst ein zu allem entschlossener Engländer, sich auf eine Beziehung zu einer Kommissarin beim Bundeskriminalamt, Abteilung SO für schwere und organisierte Kriminalität, einlassen? Fortgeschrittener Masochismus wäre eine Erklärung. Nicht bei Jamie. Nein, es war der magische Zopf. Selbst Frauen waren nicht sicher vor dieser gemeinen Waffe. Jedenfalls hatte sie schon mehrfach verstörende Signale empfangen.

Eigentlich ganz niedlich, dachte sie über das Bild im Spiegel. Andererseits – sie war jetzt Mrs. Roberts, nicht mehr Fräulein Hegel, Da passte ein Adjektiv wie niedlich schlecht dazu. Sie musste sich verändern, den alten Zopf abschneiden.

Jamie kam die Treppe herunter. Er warf ihr einen gequälten Blick zu.

»Ich weiß nicht, Darling«, seufzte er mit Sorgenfalten auf der Stirn.

»Kannst du Gedanken lesen?«

»Excuse me?«

»Nichts«, lachte sie. »Gefällt dir das Haus nicht?«

Es war die Mutter aller rhetorischen Fragen. Die Bezeichnung Haus wurde dem Bauwerk aus der Jahrhundertwende an ruhiger Wohnlage in Dahlem in keiner Weise gerecht. Sie befanden sich in einer Villa: Zimmer, in denen man atmen konnte, mit hohen Decken, entsprechend großen Fenstern, durch die viel Licht herein flutete. Und der romantisch wuchernde Garten mit dem Pavillon unter der alten Buche – sie konnte nicht erwarten, hier einzuziehen. Solcher Luxus wäre unerschwinglich für sie beide ohne ihre guten Beziehungen zum pommerschen Uradel. Ein Kollege aus Schwerin, Hauptkommissar Alexander von Kleist, vermietete das Bijou zum Schnäppchenpreis: 1’200 Euro statt 5’000 oder mehr. Der Mann hieß tatsächlich so. Blutsverwandt mit dem Autor des ›Michael Kohlhaas‹, wäre auch er verarmt ohne die reiche Tante, die ihm das Haus vererbt hatte – wie das Geld für seine Armani-Anzüge. Kleist zog es nicht nach Dahlem, also würde das Ehepaar Roberts-Hegel hier einziehen, so wahr sie Chris hieß und Mörder jagte. In Jamies Gesicht las sie etwas anderes. Er ließ sich Zeit mit der Beantwortung ihrer Frage.

»Ja – nein – doch – das ist es nicht«, stammelte er schließlich.

Sie wartete.

»Es ist etwas groß für uns zwei, findest du nicht?«

Es war ihm peinlich. Sie wartete weiter.

»Also – die Wohnung in Berlin ist doch auch sehr romantisch und außerdem mitten in der Stadt.«

Sie begann, ihren Zopf zu zwirbeln und fragte: »Zwei Zimmer für 1’500 Euro findest du romantisch?«

Er zuckte verlegen mit den Achseln. Sie griff ihm unter den Arm und dirigierte ihn ans Fenster zum Park, wie sie den Wildwuchs hinter dem Haus nannte.

»Sieh mal, da könntest du deinen Kräutergarten pflanzen.«

Er blickte lange schweigend hinaus, als suchte er den sonnigsten Fleck für sein Gemüse. Dann nickte er und murmelte:

»Zitronenmelisse hat sich schon angesiedelt.«

Sie belohnte die Beobachtung mit einem leidenschaftlichen Kuss. Der Widerstand war noch nicht gebrochen aber so gut wie. Er ging zurück in den Flur.

»Ich sehe mich mal hier unten um.«

»Tu das, die Küche ist im Westflügel«, rief sie ihm nach.

Ihre erste gemeinsame Wohnung in Berlin war ein teurer Witz, eine Notlösung, nichts weiter. Der einzige Vorteil: Sie gelangten beide in zwanzig Minuten zu Fuß an den Arbeitsplatz. Falls man das als Vorteil bezeichnen wollte. Daraus würde nun eine halbe Stunde Autofahrt oder eine Stunde radeln nach ihren Ermittlungen. So what? Hier stimmte alles. Die Lage, das Gebäude, der Park mit dem Gartenhäuschen, das zu allerlei Zeitvertreib einlud: perfekt. Ihr Herz aber hatte sie im Dachgeschoss verloren. Es war ein Saal mit riesigem ovalem Oberlicht. Atelier, Labor und Musikzimmer gleichermaßen oder einfach ein Ort zum Träumen. Sie brauchte sich nur auf den Boden zu legen und befand sich im Himmel. Dieses Zimmer allein machte den Umzug aus Kreuzberg unumgänglich.

Ein lauter Ruf riss sie jäh aus ihrem Tagtraum. Nach wenigen Sätzen stand sie im Westflügel. Jamie kehrte ihr den Rücken zu. In tiefe Kontemplation versunken, ließ er seinen Blick durch die Halle von der Größe ihrer Berliner Wohnung schweifen.

»Good Lord, hast du schon so eine Küche gesehen?«

»Nein«, gab sie zu.

Er wagte kaum laut zu sprechen, so sehr ergriffen ihn Atmosphäre und Großzügigkeit dieses kulinarischen Tempels. Kein Zweifel: Diese Küche war sein Dachgeschoss, und er war ihr mit Haut und Haar verfallen. Andächtig strich er mit der flachen Hand über das alte Holz des Tisches, an dem zwanzig Leute bequem Platz fanden.

»Wir könnten Gäste einladen, Schaukochen veranstalten, einen Dinner Club für Musikfreunde gründen. Vielleicht einmal im Monat, was meinst du?«

Ihr wurde schwarz vor Augen. Sie betrachtete sich nicht als Misanthrop, aber jeden Monat Parties mit zehn oder zwanzig Gästen? Ein Dutzend Einwände lagen ihr auf der Zunge, bis sie sich daran erinnerte, dass sie beide sowieso keine Zeit für solche Späße übrig hatten. Sie schenkte ihm daher ein süßes Lächeln und fragte nur:

»Dann ziehen wir also ein?«

»Keine Frage.«

»Eines musst du mir allerdings versprechen«, fügte sie mit ernster Miene hinzu. »Ich beharre auf dem Vetorecht bei der Gästeliste.«

»Selbstverständlich, ich auch.«

Ihr Telefon summte, eine unterdrückte Nummer.

 

»Ja bitte?«

»Dr. Christiane Roberts?«

»Am Apparat.«

»Tag Frau Kommissarin. Ich bin Staatsanwältin Klara Winter, SO, Treptow. Wir sind für Montag verabredet.«

»So steht‘s in meinem Kalender«, antwortete Chris kühl.

Sie kannte die Chefin am neuen Arbeitsplatz am Treptower Park noch nicht, wusste jedoch genau, worauf dies hinauslief. Arbeitsbeginn Montag 8:00 Uhr, hieß es in der Vereinbarung. Auch ein Witz.

»Wir haben ein Problem«, begann die Staatsanwältin wie erwartet. »Leichenfund am alten Asylheim, und uns sind zwei Leute für längere Zeit ausgefallen.«

»Ist das nicht ein Fall fürs LKA?«

»Das Opfer ist Staatsbürger der USA, Ex-Soldat der US-Navy, um genau zu sein.«

Die Staatsanwältin schwieg, als reichte diese Erklärung.

»Und?«

»Haben Sie mich nicht verstanden?«, platzte die Staatsanwältin heraus. »Ein Soldat der US-Navy ist in Berlin erschossen worden!«

»Sagten Sie nicht Ex-Soldat?«

»Soldat, Ex-Soldat, was spielt das für eine Rolle? Der Fall braucht äußerstes Fingerspitzengefühl, gerade jetzt, wo die Beziehungen zu den USA nicht die besten sind, wie Sie wohl wissen. Nein, das ist kein Fall für das LKA. Die wären heillos überfordert. Wir müssen auf Bundesebene ermitteln. Um es kurz zu machen: Sie übernehmen den Fall. Nehmen Sie umgehend Kontakt auf mit Hauptkommissar …«

»Augenblick«, unterbrach Chris. »Ich habe mich auf Montag eingestellt. Zurzeit bin ich nicht in Berlin.«

Die Bemerkung dämpfte den Eifer der Staatsanwältin nur für eine Sekunde. »Wann können Sie beim LKA sein?«

Chris unternahm einen letzten Versuch: »Ich bin nicht gerade berühmt für mein diplomatisches Fingerspitzengefühl, wie Sie sicher aus meiner Akte entnommen haben.«

»Damit müssen wir leben. Also wann?«

»Vielleicht schaffe ich es heute noch«, brummte sie mit einem wehmütigen Blick auf Jamie, der in der Küche hantierte, als erwarte er die Gäste in einer Stunde.

»Hauptkommissar Mertens heißt der Kontakt«, sagte die Staatsanwältin und legte auf.

Die Stimme jagte Chris kalte Schauer über den Rücken. Willkommen beim BKA Berlin. Jamie maß den zweiten Einbauschrank aus. Er hatte nichts vom Gespräch mitbekommen.

»Tut mir leid, mein Schatz. Ich muss dringend nach Berlin und brauche den Wagen.«

Er war noch nicht zufrieden mit der Planung seiner Laborküche, schüttelte den Kopf und murmelte undeutlich, ohne sie anzusehen. Sie warf ihm einen Handkuss zu und eilte hinaus.

Sie befand sich schon am Stadtring, als er anrief.

»Das Auto ist weg. Wo bist du?«

Seine Stimme klang verzweifelt.

»Ich musste dringend nach Berlin, hab ich dir doch erklärt.«

»Aber – wie komme ich jetzt hier weg?«

Bei der Vorstellung seines betroffenen Gesichtsausdrucks verspürte sie große Lust, ihn noch einmal zu heiraten.

»Ruf ein Taxi, du Ärmster. Ich muss Schluss machen, bis später.«

Berlin

Im Schritttempo näherte sich Chris dem Tatort. Das Sträßchen hinter dem Asylheim war ein Rad- und Wanderweg, besonders beliebt am Freitagnachmittag, wie ihr zahlreiche Mittelfinger bestätigten. Das LKA hatte den Tatort freigegeben, nachdem Spuren und Beweisstücke gesichert worden waren. Trotzdem bestand sie darauf, Hauptkommissar Mertens hier zu treffen. Berichte und Fotos in den Akten ersetzten keine Tatortbegehung.

Die ersten Tropfen fielen, als sie aussteigen wollte. Kaum war die Tür offen, begann es kräftig zu regnen. Es sah nicht nach einem kurzen Platzregen aus. Sie hievte den gelben Koffer vom Rücksitz nach vorn. Er enthielt das wichtigste Zubehör für kriminaltechnische Untersuchungen und begleitete sie seit dem ersten Tag an der Front. Mühsam zwängte sie sich in den weißen Einwegoverall. Ein junger Mann empfing sie, Erstsemester an der Uni und Mobbingopfer, nach dem blassen Gesicht zu urteilen. Sein Schirm reichte für vier seinesgleichen. Sie musste Staatsanwältin Winter recht geben: Das LKA war heillos überfordert, wenn es Schüler wie den als Kommissare beschäftigte.

»Sie haben sich reichlich Zeit gelassen«, knurrte eine Stimme hinter dem Studenten.

Sie atmete auf, denn der Mittfünfziger, der jetzt auf sie zutrat, hatte den Stimmbruch schon hinter sich.

»Chris Roberts, BKA«, stellte sie sich vor. »Sie sind HK Mertens, nehme ich an?«

Die ausgestreckte Hand griff ins Leere. Statt sie zu grüßen, schüttelte er das Wasser vom Schlapphut und brummte weiter:

»Ich verstehe nicht, was das hier soll. Steht doch alles im Bericht.«

Bevor sie den Mund öffnete, schaltete sich das Erstsemester ein:

»Sie konnten den Bericht ja noch nicht lesen, Dr. Roberts. Wenn ich kurz zusammenfassen darf …«

Mertens rollte die Augen, ließ ihn jedoch weitersprechen. Ihre Achtung vor dem jungen Mann stieg mit jedem Satz. Kurz und präzise beschrieb er den Tathergang, soweit man ihn bisher rekonstruiert hatte, fasste die Ergebnisse der Gerichtsmedizin und der KT zusammen und zeigte ihr den genauen Fundort von Eddie Jones Leiche.

»Noch Fragen?«, grinste Mertens.

»Wer ist der junge Mann?«

»Niemand.«

Der Student wagte keinen Widerspruch. Erst als sie ihn auffordernd anblickte, sagte er unsicher:

»Mein Name ist Horst Seidel, Referendar und Praktikant im ersten Jahr.«

Sie schüttelte ihm die Hand. »Gut gemacht, Referendar Seidel.«

»Hotte«, murmelte er verschämt mit leuchtenden Augen, als hätte sie ihn zum Abschlussball eingeladen.

»Wie weit wurde die Umgebung abgesucht? Das Asylheim? Gibt es weitere Zeugen?«

Sie richtete die Fragen direkt an den Referendar, der offenbar Mertens wandelndes Gedächtnis darstellte. Der Kommissar fuhr dazwischen:

»Hören Sie, Frau … Ich habe einen wichtigen Termin. Herr Seidel wird Sie über alles Weitere informieren. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen.«

Er drehte sich um und ging zu seinem Wagen. Nach zwei Schritten blieb er stehen, kehrte zurück und fragte sie leise:

»Brauchen Sie Unterstützung?«

»Immer«, antwortete sie verwundert.

Sein Blick streifte den Referendar, der etwas abseitsstand.

»Er kennt sich bestens aus mit dem Fall.«

»Sie wollen mir Niemand überlassen?«

Er ignorierte den absichtlichen Fallfehler und präzisierte:

»Sie könnten ihn ausleihen – natürlich nur für diesen Fall.«

»Natürlich.« Nach kurzem Zögern fragte sie: »Stimmt etwas nicht mit dem jungen Mann?«

Kommissar Mertens zuckte die Achseln. »Er schreibt lauter Einsen.«

Ein Genie! Sie begann zu verstehen. Da prallte Intellekt auf jahrzehntelange Praxis, eine explosive Mischung. Sie erinnerte sich an die angespannte Personalsituation am Treptower Park und lächelte Referendar Seidel zu, um etwas Farbe in sein Gesicht zu zaubern.

»Sie meinen das ernst, nicht wahr?«, fragte sie zur Sicherheit.

»Todernst.«

»O. K., Deal, aber er bleibt auf Ihrer Gehaltsliste und ich unterschreibe kein einziges Formular.«

»Deal.«

Diesmal schlug Mertens ein. Blieb nur noch übrig, Seidel zu überzeugen. Sie spürte keinen Widerstand. Im Gegenteil: Der arme Kerl war froh, seinem Tyrannen zu entrinnen, obwohl, oder besser, weil er ihre problematischen Charakterzüge noch nicht kannte. Mertens seinerseits fuhr mit einem Lächeln davon. Er war nicht nur den heiklen Fall los, sondern auch den neunmalklugen Praktikanten. Besser ging es nicht, sagte sein Gesicht. Ihr sollte es recht sein. Einen ergebenen Sklaven konnte sie gut gebrauchen. Notfalls würde sie ihn mit dem Zopf ruhigstellen.

»Also Herr Seidel«, sagte sie mit einem letzten Blick auf Mertens Wagen.

Der junge Mann sprang ihr fast ins Gesicht. »Dr. Roberts?«

»Vergessen Sie den Doktor. Sie Seidel, ich Chef, O . K.?«

Die Antwort war ein Gurgeln, aber er nickte eifrig.

»Also, Seidel«, begann sie nochmals, »sind alle Bewohner des Asylheims befragt worden?«

»Das Gebäude ist eine Ruine. Es gibt keine ständigen Bewohner, nur Obdachlose, die hier gelegentlich übernachten und ein paar Junkies, die sich manchmal auf dem Hof auf der andern Seite treffen.«

»War einer von denen anwesend zum Tatzeitpunkt?«

Seidel verneinte. »Allerdings …«

»Was?«

»Ein Obdachloser hat ausgesagt, es hätte in der Nacht vor der Tat eine wilde Party stattgefunden.«

»Eine wilde Party, soso – und?«

Seidel sah sie ängstlich an.

»Nichts«, sagte er leise, »Hauptkommissar Mertens meinte, es lohne sich nicht, dem nachzugehen.«

»Sie sind anderer Meinung?«

Er nickte stumm, offensichtlich überwältigt vom Umstand, nach seiner Meinung gefragt zu werden.

»Ich auch«, sagte sie. »Wir machen Folgendes: Wir klappern jetzt die Umgebung ab und sammeln Hinweise auf die Teilnehmer der Party. Sobald wir Namen haben, gehen Sie jedem Einzelnen nach und bestellen die Person zur Befragung aufs Präsidium am Treptower Park, verstanden?«

Sie gab ihm ihr Kärtchen mit den Koordinaten und fügte hinzu:

»Noch etwas: Wir benötigen Kopien aller Akten beim BKA, und lassen Sie sämtliche Asservate an die Kriminaltechnik in Wiesbaden schicken.«

Sie schrieb ihm die Adresse ihrer Freundin Caro Lenz, Leiterin der KTU, auf die Rückseite. Seine Wangen glühten, während er die Aufträge notierte. Es gab ihr ein gutes Gefühl.