Perlen und schwarze Tränen

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Perlen und schwarze Tränen
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HANS FLESCH-

BRUNNINGEN

PERLEN UND
SCHWARZE
TRÄNEN

ROMAN

Herausgegeben und mit einem

Vorwort von Evelyne Polt-Heinzl


INHALT

VORWORT

NACHRICHTEN IN SCHLAGZEILEN

THEATER UND KUNST

LITERATURBEILAGE

INNEN- UND AUSSENPOLITIK

GERICHTSSAAL – WIRTSCHAFTSTEIL

SONNTAGSBEILAGE: FÜR DIE HAUSFRAU, REISEN ETC.

VORWORT

»… und das seltsame Verhalten der Zeit wunderte ihn nicht«. Hans Flesch-Brunningens großer Exilroman Perlen und schwarze Tränen

Hans Flesch-Brunningen hat sich so weit in die Literaturgeschichte eingeschrieben, dass ihm eine Nennung in Aufzählungen und Fußnoten gewiss ist. Allerdings haben weder Verlage noch Wissenschaft bisher für eine systematische Werkpflege gesorgt, obwohl seine expressionistischen Anfänge wie seine Exilromane in Forschungsbereiche fallen, die in den letzten Jahrzehnten verstärkt in den Blickpunkt gerückt sind. Man kann diesen Autor »wohl den bekanntesten unter den unbekannten oder gar den unbekanntesten unter den bekannten deutschen, vielmehr österreichischen Schriftstellern nennen«, er hat »5 Novellenbände, 21 Romane, 5 Theaterstücke […] geschrieben; dazu noch ein Dutzend Bücher aus dem Englischen übersetzt«. So formulierte Flesch-Brunningen in einem ironischen Nachruf zu Lebzeiten, erschienen 1968 in der Tageszeitung Die Presse – dreizehn Jahre bevor er am 1. August 1981 sechsundachtzigjährig in Bad Ischl verstarb. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehört übrigens auch W. Somerset Maugham, ein Roman dieses Autors ist aktuell der einzige Titel, mit dem »Hans Flesch« im Buchhandel aufscheint.

Dabei ist sein monumentaler Roman Perlen und schwarze Tränen aus dem Jahr 1948 ohne Zweifel eines der drei großen, auch formal herausragenden Bücher der österreichischen Exilliteratur – zusammen mit Friederike Manners im selben Jahr erschienenem Romanbericht Die dunklen Jahre, der 2019 in der Edition Atelier wieder aufgelegt wurde, und Martina Wieds 1951 erschienenem Buch Das Krähennest, dessen Neuausgabe hier in Vorbereitung ist.

Johannes Flesch Edler von Brunningen wurde am 5. Februar 1895 in Brünn als Sohn einer wohlhabenden Familie mit jüdischen Wurzeln geboren. Kindheit und Jugend verlebte er in Abbazia/Opatija und Wien. Bereits im Juli 1914 brachte Franz Pfemferts Avantgardezeitschrift Die Aktion ein Heft mit Texten des Neunzehnjährigen, samt einer Porträtzeichnung von Egon Schiele am Titelblatt. 1917 erschien der Novellenband Das zerstörte Idyll in Kurt Wolffs Reihe Der jüngste Tag, 1919 folgte der fantastische Roman Baltasar Tipho, eine gnadenlose Satire auf die moralische Dekadenz der Kriegsschieber und Spekulanten.

Ab 1925 lebte der ausgebildete Jurist in Italien, Frankreich und vor allem in Berlin. Von dort emigrierte Flesch-Brunningen bereits 1934 nach England. Damit war er Teil der ersten Flüchtlingswelle, und er kam nicht ganz ohne Referenzen, immerhin lag sein 1930 erschienener Roman über die Französische Revolution Die Amazone bereits im Folgejahr in englischer Übersetzung vor. Sein letztes in Deutschland geschriebenes Buch war übrigens eine Sammlung von Biografien historischer Exilanten mit dem Titel Vertriebene. Von Ovid bis Gorguloff.

In London hält sich Flesch-Brunningen zunächst mit Gelegenheitsjobs über Wasser, engagiert sich, gemeinsam mit Berthold Viertel, im links gerichteten Freien deutschen Kulturbund, und beginnt bereits um 1938 seine Texte für britische Zeitungen in Englisch zu schreiben. 1939 erhält er eine Stelle als Sprecher und Übersetzer beim German Service der BBC, die er durch die Internierung als Enemy Alien im Juni 1940 wieder verliert. Als er im Oktober 1940 nach London zurückkehren kann, ist seine Situation neuerlich prekär, etwas Geld verdient er unter anderem als Tellerwäscher im Lyon’s Corner House, einem billigen, bei Emigranten beliebten Lokal einer Tea-Shop-Kette. Verzweifelt versucht er, weiter in die USA zu emigrieren, doch dann erhält er seine Stelle bei der BBC zurück – um den Preis, seine Mitgliedschaft beim Kulturbund aufzugeben. Er tut es und engagiert sich fortan im politisch weniger exponierten Club 43. Von 1953 bis 1958 ist er dann Vorsitzender der deutschen Sektion des PEN-Clubs in London. Bis zu seiner Pensionierung 1958 bleibt er als Sprecher, Übersetzer, Scriptwriter und Redakteur bei der BBC, dann kehrt er nach vierundzwanzig im englischen Exil verbrachten Jahren nach Österreich zurück. Als Autor ergeht es ihm hier wie vielen späten Remigranten, deren Karrieren meist einen unheilbaren Knick zurückbehielten, denn die neue Generation von LeserInnen kannte schon ihre Namen oft nicht mehr.

Perlen und schwarze Tränen entstand 1945/46 noch im englischen Exil und ist eine sprachlich wie kompositorisch ambitionierte Paraphrase auf den Ulysses von James Joyce, den Flesch-Brunningen in Paris kennengelernt hatte. Das Buch folgt 24 Stunden hindurch den Wegen, Gedanken, Erinnerungen und traumhaften Visionen des fiktiven Exilautors John Truck. Vieles ist dabei autobiografisch grundiert, etwa die Erfahrungen als Gelegenheitsarbeiter, die Tätigkeit beim Rundfunk oder das Engagement in Emigrantenorganisationen.

Auf der realen Ebene der Außenwelt bewegt sich Truck durch das devastierte London, wo Ausgebombte in U-Bahnschächten campieren und in den Ruinen Prostituierte ihre Dienste den Soldaten anbieten. Es ist das London im Würgegriff der deutschen Bombardements, auch hier ist die »ganze Zivil-Bourgeoisie verschwunden«, die Uniform herrscht, »der Götze des Jahrhunderts«. Über allem liegt der dichte Nebel, der in der Eingangspassage über den Wassern aufsteigt und, sich mit Gerüchen und Dünsten anreichernd, allmählich »städtisch« wird. Aus seinen undurchdringlichen Schwaden lässt der Autor mit leichter Hand geisterhafte Bilder und Begegnungen emporwachsen. So trifft Truck während seines nächtlichen Gangs durch die Stadt in der Nähe von Marble Arch auf eine Gespensterkutsche, der historische Größen der englischen Literatur entsteigen. Was wie eine Maskerade wirkt, verhandelt zugleich Fragen der gesellschaftlichen Verantwortung des Künstlers wie der kulturellen Identität des Exilanten. In dieser Szene findet sich auch eine konkrete Anspielung auf Joyce in Gestalt von Trucks geheimnisvollem Begleiter, der wechselnde Identitäten anzunehmen vermag und sich einmal auch als »Kelte« beschreibt, der »die Einbildungskraft und den Flug der Phantasie« liebe.

Das Kapitel heißt Literaturbeilage, so wie viele Abschnitte nach Ressorts der medialen Berichterstattung benannt sind. Schließlich spielt fast die Hälfte des Romans in den Bürolandschaften der monströsen BBC-»Wortfabrik«, ein Porträt des 1932 fertiggestellten Broadcasting House am Portland Place. Rastlos ist das Getriebe in den labyrinthischen Gängen dieses Gebäudes, verloren und verängstigt sind die hier Arbeitenden, denn zahlreich sind die Flüchtlingsschicksale im German Service, wo jeder auf seine Art mit Verlusterlebnissen, Zukunftsängsten und Vereinsamung zu kämpfen hat. Deshalb kippen hier während Trucks Nachtdienst alle Szenen verlässlich ins Surreale. In seiner Autobiografie Die verführte Zeit bezeichnet Flesch-Brunningen die Häufung fantastisch-skurriler Szenarien als Technik der »Verschlüsselung«, zugleich weisen diese erzähltechnischen Verfremdungseffekte auch auf seine expressionistischen und fantastischen Anfänge zurück.

Zu Beginn wartet Truck gut dreißig Seiten lang im »Café Canada« auf seine notorisch verspätete Geliebte und Exilkollegin Jane, mit der er zu einem Theaterbesuch verabredet ist. Im Anschluss wird er mit ihr speisen und sie dann nach Hause begleiten. Dort, mitten im verbalen Vorgeplänkel, führt Jane ein durchaus intimes Telefongespräch mit einem Konkurrenten. Truck nimmt das als Symbol für Janes Charakter wie für seine Beziehung zu ihr und bricht rasch auf zu seiner Stadtdurchquerung Richtung BBC-Gebäude. Ob er sie am Ende tatsächlich ermordet, lässt sich freilich aufgrund des schwankenden Realitätsbezugs im gesamten Romangefüge nicht mit Gewissheit feststellen. Sicher bleibt, Jane ist eine unnahbare und selbstbestimmte Person, und sie weist einige Züge von Flesch-Brunningens späterer Ehefrau Hilde Spiel auf, die damals noch mit seinem Freund Peter de Mendelssohn verheiratet war.

In komplizierte Dreiecksgeschichten verstrickte sich Flesch-Brunningen, laut Selbstaussage ein »unausrottbarer Polygamist«, sein ganzes Leben lang mit großer Regelmäßigkeit. Über sein problematisches Verhältnis zu Frauen(figuren) lässt sich einiges nachlesen in seinem autobiografischen Roman Die Teile und das Ganze von 1969 und in den posthum erschienenen Lebenserinnerungen Die verführte Zeit. Beide Bücher liefern ein schonungsloses Selbstporträt, das männlichen »Vergrößerungswahn«, selbstgerechte Posenhaftigkeit und martialische Männerbündelei zu einer Analyse des Geschlechterverhältnisses verdichtet, wie man das so aus Männerhand selten zu lesen bekommt.

 

In der Eröffnungsszene von Perlen und schwarze Tränen kreisen Trucks Gedankenketten und Kopfbilder um das Phänomen des Wartens. Das hat mit der konkreten Situation im Kaffeehaus zu tun, steht aber zugleich für die zentrale Erfahrung der Emigration, die das Leben der Betroffenen radikal in ein Davor und ein Danach zerschneidet, mit der ökonomischen, bürokratischen und politischen Unsicherheit des Lebens im Gastland dazwischen. Diese »entzweigeschlagene« Zeit spiegelt sich im Roman auch in den vielen unzuverlässigen Uhren wider, die für den Exilanten gleichsam anders ticken. Wartend blättert Truck in Zeitungen und wie von selbst beginnen die Buchstaben »ihren Tanz in den Unsinn«, bis sich die scheinbar absurden Visionen als Schlagzeilen auf seinen frisch geputzten Schuhen materialisieren. »Es ist die Wahrheit. Es steht in der Zeitung. Wir sind von Zeitungen eingewickelt«, sagt der Schuhputzer in der Toilette des Cafés. Was haltlose Fantasterei schien, kippt damit gleichsam zurück in die gedruckte Faktizität der Presseberichte.

Diese Durchlässigkeit von Innen- und Außenwelt, von Wirklichkeit und subjektiven Assoziationsprozessen, legt über die gesamte Handlung einen zweiten Nebelschleier, der die geschilderten Erlebnisse immer wieder ins Schlingern bringt. Im nächtlichen Straßengeräusch sind die Panzer der Front ebenso präsent wie sich die Bibliothek der BBC in das Klassenzimmer von einst verwandeln kann, schließlich gehören Erinnerungen an und Sehnsucht nach der verlorenen Heimat zum Exilalltag wie Trauer und Angst um zurückgebliebene oder verlorene Verwandte und Freunde. Im Kapitel Betrieb durchlebt Truck noch einmal seine Zeit als Küchengehilfe, als Arbeiter in den Lager- und Produktionshallen eines Konservenkonzerns oder einer Werkzeugmaschinenfabrik. Diese Abschnitte sind von besonderer atmosphärischer Dichte und zeigen Flesch-Brunningens Meisterschaft, schräge und schrille Verschiebungen der Perspektive in einen klärenden Blick auf die zugrundeliegende ›Realität‹ zu verwandeln. Für Durchlässigkeit in Moralfragen wiederum sorgt Trucks Fantasiefigur des »Ungewissens«, das seine verborgenen Gedanken und Motivationen unverblümt ausspricht.

»Ich hatte die Hände voll mit Blättern eines Buches, das noch nicht geschrieben war. Meine Freunde und Bekannten, meine Verwandten und meine Eltern, meine Frauen und meine Mädchen strichen in endlosem Zug an mir vorbei, und ich bot ihnen von den Blättern an«, heißt es gegen Ende, als wollte der Autor damit die Entstehung des Romans aus der Verquickung von Erinnerungsarbeit und existenzieller Entwurzelung beschreiben.

Sicher ist in Trucks Assoziationsprotokoll jedenfalls nichts, sichtbar wird jedoch vieles, von der lebenspraktischen Verstörung des Emigranten bis zur Relativität medialer Berichterstattung in Kriegszeiten. Während Truck auf der »Jagd« nach den verlegten »Schlagworten« für die nächste Nachrichtensendung durch die Gänge des BBC-Gebäudes irrt, gerät er immer wieder in groteske Szenen, die stets auch Realität einfangen. Wenn er in einer Abstellkammer auf einen Emigrantenzirkel stößt, in dem heftig über den richtigen politischen Weg debattiert wird, ist das eine konkrete Auseinandersetzung mit seiner Tätigkeit im Kulturbund, deren Sinnhaftigkeit ihm fraglich geworden ist. Exilerfahrung und die Frage eines möglichen – hier noch deutlich eingeforderten – politischen Engagements des Künstlers sind übrigens auch Thema jener beiden Romane, die Flesch-Brunningen im Exil veröffentlichte und die bis heute nicht auf Deutsch vorliegen: The Blond Spider (1939) und Untimely Ulysses (1940, gewidmet Berthold Viertel). Beide Bücher erhielten freundliche Besprechungen, blieben aber letztlich ohne größeres Echo. Sich in die Literaturen der Gastländer nachhaltig einzuschreiben, gelang emigrierten AutorInnen in den seltensten Fällen.

Perlen und schwarze Tränen wiederum ist nie auf Englisch erschienen, obwohl der ursprüngliche Titel Spirits of Night lautete. Flesch-Brunningen übersetzte den Roman selbst ins Deutsche, die Erstausgabe erschien 1948 im Hamburger Wolfgang Krüger Verlag und wurde damals in Österreich kaum wahrgenommen. Eine der wenigen Besprechungen stammt von Hilde Spiel, die Flesch-Brunningen 1938 in London kennenlernte und ihn nach langen Jahren einer schwierigen Beziehung dreiunddreißig Jahre später in Wien heiratete. Sie konnte den Roman, in dem Jane und Truck gemeinsam von der Zeit »vor der Sintflut« träumen, vor dem Hintergrund ihrer eigenen Exilerfahrungen lesen, und sie erkannte die radikale Modernität des Buches, das mit Bezug auf Joyce die Korrosion der Romanform fortführt. Der Autor, so Spiel, gehöre »zur ›kontinentalen‹ Avantgarde, obwohl er in London lebt«. Den Mord an Jane aber interpretierte sie als Lösung eines existenziellen Dilemmas. »Der Emigrant ist der Prototyp des modernen Menschen. Eine Befreiung von der Last der Doppelexistenz, der geteilten Loyalität und gespaltenen Persönlichkeit, wie John Truck sie durch seine entschlossene Tat wirkt, ist unser aller Wunsch und Hoffnung.«

Die bislang einzige Neuausgabe des Romans erschien 1980 und fand etwas mehr Resonanz. Das verdankte sich vor allem dem Achtungserfolg von Flesch-Brunningens 1979 erschienenem Roman Die Frumm, ein Sittenbild aus Wien vor, während und nach der NS-Zeit. Rund um die Titelfigur Angela Frumm, die aus ärmlichen Verhältnissen stammend in den Strudel der politischen Ereignisse hineingerissen wird, als BDM-Mädchen aufsteigt und als Klofrau endet, arrangiert der Autor eine Fülle von Lebensgeschichten, die ein Pandämonium des österreichischen Nationalcharakters, seiner Abgründe und seiner Opfer ergeben.

Perlen und schwarze Tränen aber ist nicht nur ein einmaliges Zeitdokument, sondern mit seiner komplexen Handlungsführung und der Kunst, mit grotesken Verzeichnungen den Blick für gesellschaftspolitische Zusammenhänge zu schärfen, ein bemerkenswert moderner Roman. Es ist zu hoffen, dass er sich mit dieser Neupräsentation endgültig in den Kanon der Exilliteratur einschreibt.

Evelyne Polt-Heinzl

NACHRICHTEN IN SCHLAGZEILEN
Nebel

Der Nebel lag als dicke Schicht über der Menschheit. Er bedeckte viele hundert Quadratkilometer. Er kam aus den Tiefen und von den Höhen, er war geboren aus Schwaden und Dünsten und er verschlang die Länder.

Er lag weich auf den Wellen von Seen und Meer und Flüssen. Es hatte sich der Wind gelegt, und der schleierleichte Traum wurde fester und nächtiger. Die Nacht stieg die schrägen Hügel hinan und fiel in Lichtung und Tal. In diesem Nebel der freien Felder war Frische; Gesundheit aus der Fülle der schönen, offenen Räume um die Gewässer. Dies war des Nebels Mutter.

Sein Vater wälzte sich die bergigen Ufer hinab. Je leichter er schäumte, desto schwerer konnte er sich halten. Eine Brise kam, und kam zu spät, ihm zu dienen, zu früh, ihn zu zerstören; so preßte sie die Schwaden in festere Form. Da trat dieser Nebel in Städte und Dörfer und nahm Fühlung mit den üblen Dämpfen aus den Rauchfängen, von den Kanallöchern, von den Abwässern. Er wurde städtisch. Und gleich darauf stieß er auf die wildflutenden Massen vom Meer. Eine einzige ungeheure Decke war entstanden; unbeweglich, erbarmungslos, still, schamlos in ihrer Größe vor dem schnellen Tod.

Der Nebel erdrosselte, erfror und fesselte das Land mit den Häusern, Bäumen und Menschen. Er selbst blieb regungslos; in ihm regte es sich leicht. Der Atem aus der Brust flog sichtbar im Nebel. Im Nebel brachen die Dämpfe aus den geöffneten Türen der Wirtsstuben; die Dünste aus den Kanälen hoben sich im Nebel wie Fahnen.

Die Schiffe auf der Themse verwandelten sich zu Burgen. Die Männer auf Deck hatten mit dem Nebel zu kämpfen, wie sie mit dem Wasser, dem Sturm, den vergangenen Gefahren gekämpft hatten, mit den Geschützen und mit der Fliegenden Bombe. Der Rauch ihres Feuers, vom Nebel erfaßt, wurde fast fest. Die Seeleute waren mißtrauisch im Dunkel: sie fühlten sich zurückversetzt durch die Jahrhunderte, in die Zeit der Armada.

Die Brücken führten ins Nichts. Geister und Gespenster über dem Wasser tauchten unters Wasser zurück, verwässerte Bilder der Tiere in Dichtung und Traum. Pfeiler, Stützen und Balken waren fürs Auge eine solide Zumutung, wie sie sich schwangen und absurd verstiegen.

Auf den Landstraßen waren die Lastwagen im Fahrgeleit steckengeblieben und warteten auf »Fahrt frei!«. Die Fahrer zündeten sich die Pfeifen an, fluchten und scherzten; sie lebten ja noch und hatten nichts eingebüßt von ihren unterschiedlichen Charakteren und Temperamenten. Die Scheinwerfer brannten, seit Jahren war es das erste Mal auch in der Stadt: der Krieg schleppte sich hin; die Verdunkelung war teilweise aufgehoben. Was war der Mensch im Nebel? Die Maske des Hohns; und spröde. Die Lastwagen fuhren los, vereinigten sich mit einem zweiten Strom von Privatautos. In den Vorstädten sickerten die Taxis ein, mit den Fahrern vorn am Lenkrad, die an nichts anderes dachten, als den Fahrgast übers Ohr zu hauen. Viele Autobusse kamen dazu, machten Station an den Straßenecken. Die Fahrer schickten den Schaffner vor, der mit seiner Taschenlampe heranlief, laut rufend, auch blökend vor Lachen, wenn er einen Freund traf. Die langen Straßen sahen aus wie die Boulevards der Hölle. Einsamkeit, Verrat, Leere, Verlassenheit gähnten. Waren diese Häuschen im Sommer wirklich freundliche Gehäuse für Familien gewesen? Waren sie erschüttert worden nur durch Bomben und Flugbomben? Der Nebel hatte sie gründlicher gemordet. Der Nebel hatte das Dach gezackt, die Mauern zerschmissen. Zerstörung wurde zerstört. Eine Schule wurde zum römischen Kastell. Ein Kino war von Napoleon in Stücke geschossen. Farblos und leblos blühte Vernichtung. Der zweite Stock streckte eine vierzinkige Hand ins Unsichtbare.

Der Nebel marschierte die Hauptstraße hinunter, spreizte sich auf den Hauptplätzen, besetzte Piccadilly. Die Tausende amerikanischer Soldaten waren noch immer da, seltsam entfremdet. Hier war ein Arm zum Gruß erhoben, ein Mund offen zum Schrei. Viele ergriffen die Gelegenheit. Es war die Jagd nach dem Mädchen in der Dunkelheit. Romantik war ersprossen. Geheimnis waltete. Verbrecher schlichen sich in unbehütete Gebäude zu Mord und Schändung, Einbruch oder Notdurft. Geflüster wurde hörbar; die Entfernung erhöhte die Wahrscheinlichkeiten. Der Mann mit den Abendausgaben verkaufte seine Zeitungen ungesehenen Händen, verfinsterten Gesichtern. Die letzte Auflage war noch immer zu haben.

Der Nebel floß abwärts, glitt seitwärts, brach in die Häuser. Kein Pochen gabs, kein Klopfen mit den Knöcheln. Die Plötzlichkeit war lautlos. Es war das stille Erdbeben. Schlafzimmer, Speisezimmer, Vorzimmer, Landhäuser blähten sich mit Innennebel. Die kleinen Sekretärinnen in den Gängen der großen Bürohäuser kicherten. Sie taten, als hätten sie den Weg verloren. Das Publikum im Vorstadtkino verlangte sein Geld zurück, da die Leinwand nicht zu sehen war. In der Küche mußten Mann und Frau weiterstreiten wie in den Sommertagen ihrer Jugend. Schwarze Schatten erschwerten das Problem. Kartoffeln wurden zu Goldbarren, das Küchenmesser lag zum Greifen da; für die Tragödie. Der Werber trat in das Haus der Hure und verkürzte das Feilschen mit männlichem Griff: Sei mein! Doch sie entschwand auf der Treppe, entrückt durch eine freundliche Hülle um Elend und Schmach.

Die Eßwaren schmutzten in der Feuchtigkeit. Der Wein war abgestanden. Das Bier war warm. Wer die Türe zu dem Restaurant öffnete, brachte Schleierschwaden für die Gäste mit.

Die Tischgespräche kamen ins Stocken, es litt der Flirt. Die Dame dachte an die Wärme der Decken und wünschte, allein zu sein mit der letzten der Wärmflaschen. Ein paar schärften ihren Witz und hatten Erfolg in Verführung: Ein Paar, das ist einer und eine, das ist gut zur Erwärmung, wo jeder nur das möchte; oder überhaupt nichts.

Ein paar Rebellen träumten von Italien, vom blauen Mittelmeer, von der blauen Donau. Der Geist des Widerstandes versuchte Wiederkehr. Die Jazzkapelle auf dem Podium wagte eine Melodie aus Sturm und Leidenschaft. Die Finger wurden klamm, der Atem des Oboisten stieg qualvoll durch die Luftröhre auf.

Die Vorhalle des Café Canada war während der flauen Zeit am Morgen gereinigt worden. Jetzt sah es dort glatt und fein aus, trotz der nebeligen Stücke Luft, die von den Flügeln der Drehtüre hereingeblasen wurden. Die Leuchter an den Wänden waren mit zarten Lampenschirmen verziert. Zur Rechten standen Stühle und zur Linken standen Stühle, mit Menschen darauf, die die Zeitung lasen und warteten. Der Portier kam und ging, inspizierte die Vorkehrungen für Verdunkelung; seine Brust war tapeziert mit den Tapferkeitsmedaillen eines früheren Krieges. Die Stühle waren mit Seide bespannt, um nichts geringer, weil sie alt waren, unberührt von Nebel und Krieg, völlig unverdorben von der Zeit. Auch der Teppich war unbeschädigt, ein klein bißchen abgetreten. Überall war ein mächtiges »N« zu sehen, in Gold oder Messing, ein großsprecherisches Zeichen, als gehöre das Unternehmen Napoleon, Kaiser der Vergnügungsstätten.

 

Das Haus, von First zu Keller, rieb sich die Augen, dem Erwachen nahe. Im Oberstock wurden die Tischtücher geglättet, um die besseren Gäste zu empfangen. In der Bar begannen die Kellner Whisky mit Nebel zu mischen. Die ersten Überröcke marschierten in die Garderobe. Die Telephonzellen füllten sich mit Männern, die sich um ihre Freundinnen ängstigten, sie könnten vielleicht im Nebel verlorengegangen sein. Ein schwarzer Diener putzte in der Herrentoilette die ersten Schuhe dieser Nacht im Krieg.

Alle Stühle waren besetzt. Heute abend wartete jeder länger als sonst. Die Autobusse waren aufgehalten, die U-Bahn war vollgestopft, die Taxis waren zu Hause geblieben, Züge hatten Verspätung: Sorgen genug und genug.

Ich beobachtete meine Kameraden im Wartedienst. Ich las meine Zeitung. Ich wartete auf meine Dame.