Jüdische Bibelauslegung

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Jüdische Bibelauslegung
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Hanna Liss

Jüdische Bibelauslegung

Mohr Siebeck GmbH & Co. KG


Inhaltsverzeichnis

  In der Erklärung der ...

  Vorwort

 AbkürzungenAllgemeine AbkürzungenAbkürzungen biblischer BücherAbkürzungen von Mischna-, Tosefta- und TalmudtraktatenAbkürzungen von Midraschim und anderen rabbinischen Werken

  Transkriptionsregeln

  Einleitung 1. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Auslegungstradition 2. Jüdische Bibelauslegung als Teil einer jüdischen Theologie

 1. Kapitel: Der Bibeltext und seine Überlieferung bis zum Hochmittelalter1.1. Die Hebräische Bibel zwischen Text und Auslegunga. Die Bibel als Text und Schriftencorpusb. Bibelauslegung in Qumran und im jüdischen Hellenismusc. Von der Kompilationsliteratur zum Autord. Wo und wie beginnt das jüdische Mittelalter?1.2. Die Anfänge judäo-arabischer Grammatik und Schriftauslegunga. Der Beginn der philologischen und philosophischen Bibelauslegungb. Die Herausforderung durch die karäischen Exegetenc. Die spanischen Hebraisten und die philologische Exegese1.3. Zusammenfassung

 2. Kapitel: Die Entstehung einer europäisch-jüdischen Bibel- und Bildungskultur2.1. Voraussetzungen und Hintergründea. Lateinische Bibelauslegung im christlichen Westeuropab. Die jüdischen Gelehrtenzentren im 11. und 12. Jahrhundertc. Die handschriftliche Überlieferungstraditiond. Glossensammlungen als neue Form literarischer Vermittlung2.2. Persönlichkeitena. R. Schelomo Jitzchaqi (Raschi; ca. 1040–1105)b. R. Schema‘ja (ca. 1060–1130)c. R. Josef ben Schim‘on (Qara; ca. 1050–1125)2.3. Neue Zugängea. Bibelerklärungen ad litteramb. Bündelung von Wissen – der Umgang mit dem Midraschc. Erste Anfänge literarischer Narrativitätd. Grammatik, Lexikographie und der Umgang mit der Masorae. Die Anfänge der Historiographie2.4. Zusammenfassung

 3. Kapitel: Die Bibel als Literatur3.1. Voraussetzungen und Hintergründea. Übersetzungen als Wegbereiter des Peschatb. Höfische Literatur und jüdische Exegese3.2. Persönlichkeitena. R. Schemu’el ben Meïr (Raschbam; ca. 1088–ca. 1158)b. R. Eli‘ezer aus Beaugency (Mitte/Ende 12. Jahrhundert)c. R. Josef ben Jitzchaq (‚Bekhor Schor‘; 1130–1200)3.3. Neue Zugängea. Vom Übersetzen zum Erzählenb. Die Emanzipation von Raschic. Auslegung als Rekompositiond. Die Entstehung einer biblischen Literaturtheoriee. Wissenschaftsdiskurse und polemische Attackenf. Bibelstudium in feindlicher Umgebung3.4. Zusammenfassung

 4. Kapitel: Bibelauslegung und universale Gelehrsamkeit4.1. Voraussetzungen und Hintergründea. Der Beginn der christlichen Reconquistab. Jüdische Bildungskultur in Spanien und der Provence4.2. Persönlichkeitena. R. Avraham ben Meïr ibn Ezra (1089–ca. 1165)b. R. Josef Qimchi (Riqam; ca. 1105–ca. 1170)c. R. Mosche Qimchi (Remaq; st. ca. 1190)d. R. David Qimchi (Radaq; 1160–1235)e. R. Menachem ben Schim‘on aus Posquières (Mitte/Ende 12. Jahrhundert)f. Tanchum ben Josef ha-Jeruschalmi (ca. 1220–1291)g. Menachem ben Schelomo ha-Meïri (1249–1316)4.3. Neue Zugängea. Bibelwissenschaft in sefardisch-aschkenasischer Syntheseb. Die Zurückdrängung des Deraschc. Texterstellung, Textkritik und Sprachwissenschaftd. Der Beginn polemischer Auseinandersetzungene. Philosophische Bibelauslegungf. Bibelauslegung in Krisenzeiten4.4. Zusammenfassung

 5. Kapitel: Die mystische Bibelauslegung der Chaside Aschkenaz5.1. Voraussetzungen und Hintergründea. Investiturstreit und innerkirchliche Entwicklungenb. Die Entstehung der jüdischen Mystik im Rheinland5.2. Persönlichkeitena. R. Jehuda ben Schemu’el he-Chasid (‚der Fromme‘; ca. 1150–1217)b. R. El‘azar ben Jehuda von Worms (1165–1230)5.3. Neue Zugängea. Die Bildungsverantwortung der Eliteb. Die dreiundsiebzig Tore der Weisheitc. Die Schrift als offenbarungstheologische Grundlage5.4. Zusammenfassung

 6. Kapitel: Bibelauslegung zwischen Exegese und Theologie6.1. Voraussetzungen und Hintergründea. Die sog. maimonidische Kontroverseb. Inquisition, Judenmission und Bücherverbrennungc. Christlich-jüdische Zwangsdisputationen in Paris und Barcelona6.2. Persönlichkeitena. R. Mosche ben Nachman (Ramban; 1194–1270)b. Bachja ben Ascher (13. Jahrhundert)6.3. Neue Zugängea. Das ‚Wesen des Glaubens‘ und die göttlichen Wunderb. Der Weg der Wahrheit (ha-derekh ha-emet)c. Die Bibel als corpus symbolicum des Göttlichend. Bibelauslegung nach dem vierfachen Schriftsinne. Biblische Geschichte als Ausdruck göttlichen Wirkensf. Typologische Exegese als Gegenentwurf zur christlichen Theologie6.4. Zusammenfassung

 7. Kapitel: Zwischen Rhetorik, Historiographie, Politik und Religionskritik7.1. Voraussetzungen und Hintergründea. Verfolgungen, Auswanderungen und Re-Organisationenb. Gibt es eine jüdische Renaissance?c. Die Bibel zwischen Poesie und Kriegskunstd. Privater jüdischer und öffentlicher nicht-jüdischer Raume. Die Bibel als enzyklopädisches Handbuchf. Der Siegeszug des hebräischen Buchdrucks7.2. Persönlichkeitena. Jehuda ben Jechi’el Messer Leon (ca. 1420–ca. 1497)b. Don Jitzchaq Abravanel (1437–1508)c. Ovadja Sforno (1468/73–1550)d. Elijjahu ben Ascher ha-Levi Aschkenazi (1469–1549)e. Azarja (Bonaiuto) ben Mosche dei Rossi (ca. 1511–ca. 1578)f. Abraham ben David Portaleone (1542–1612)g. Menachem ben Jehuda de Lonzano (ca. 1555–ca. 1624)h. Jedidja Salomon Raphael ben Abraham Nortzi (1560–1626)i. Uriel da Costa (1583/84–1640)j. Baruch Spinoza (1632–1677)7.3. Neue Zugängea. Die universale Weisheit der Bibelb. Biblisches Recht als gesellschaftspolitischer Maßstabc. Bibelauslegung und Naturwissenschaftd. Die Bibel als Maßstab für Kunst und Kulture. Biblische Historiographie und Archäologief. Der Beginn der biblischen Textkritikg. Auf dem Weg zur anti-rabbinischen Religionskritikh. Bibelauslegung als radikale Traditionskritik7.4. Zusammenfassung

 8. Kapitel: Die Bibel in der jüdischen Aufklärung (Haskala)8.1. Voraussetzungen und Hintergründea. Das Judentum zwischen Chasidismus und Mitnaggedimb. Der Beginn der jüdischen Haskala in Westeuropac. Die protestantische Bibelwissenschaft des 18. Jahrhunderts8.2. Persönlichkeitena. Moses Mendelssohn (1729–1786)b. Hartwig Wessely (Naphtali Herz Wessely; 1725–1805)c. Benjamin Wolf Heidenheim (1757–1832)d. Jehuda Löw ben Ze’ev (1764–1811)e. Jehuda Löw Jeitteles (1773–1838)f. David und Jechi’el Hillel Altschuler (18. Jahrhundert)8.3. Neue Zugängea. Zwischen göttlicher Offenbarung und universaler Vernunftb. Von der Bibelwissenschaft zur Schriftauslegungc. Philologie und Traditiond. Die Ästhetik der biblischen Poesiee. Die Anfänge einer jüdischen Einleitungswissenschaft8.4. Zusammenfassung

 9. Kapitel: Zwischen jüdischer Tradition und Wissenschaft des Judentums9.1. Voraussetzungen und Hintergründea. Die Anfänge der Wissenschaft des Judentumsb. Die Gründung der Rabbinerseminarec. Bibelübersetzungen zwischen Reform und Orthodoxied. Die Auseinandersetzung mit der christlichen Pentateuch-Forschunge. Das Ende der Wissenschaft des Judentums in Europa und der Neubeginn in Israel und in Nordamerika9.2. Persönlichkeitena. Ja‘aqov Tzvi Meklenburg (1785–1865)b. Schemu’el David ben Hiskia Luzzatto (Schadal; 1800–1865)c. Salman Frensdorff (1803–1880)d. Samson Raphael Hirsch (1808–1888)e. Meïr Löw ben Jechi’el Michael Weisser (Malbim; 1809–1879)f. Abraham Geiger (1810–1874)g. Ludwig Philippson (1811–1889)h. Naftali Tzvi Jehuda Berlin (Netziv; 1817–1893)i. Abraham Berliner (1833–1915)j. Kaufmann Kohler (1843–1926)k. David Tzvi Hoffmann (1844–1921)l. Benno Jacob (1862–1945)m. Sigmund Jampel (1874–1934)n. Umberto Mosche David Cassuto (1883–1951)o. Harry Torczyner (Naftali Herz Tur-Sinai; 1886–1973)p. Yehezkel Kaufmann (1889–1963)q. Isac Leo (Arie) Seeligmann (1907–1982)r. Paul Kahles jüdische Schüler und Kollegen9.3. Neue Zugängea. Alt-neue Wege in der rabbinischen Bibelauslegungb. Die Auseinandersetzung mit der jüdischen Reformc. Das Studium der Masorad. Bibelauslegung angesichts der ‚höheren Kritik‘e. Hebräische Bibel in deutscher Diktionf. Bibelauslegung als theologische Entfaltung des Prophetismusg. Mit Archäologie und Altorientalistik gegen die ‚höhere Kritik‘h. Deutsch-jüdischer ‚Sonderweg‘?i. Biblische Religions- und Sozialgeschichte9.4. Zusammenfassung

 

  10. Kapitel: Von der Mitte des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart 10.1. Bibel und Bibelwissenschaft in (Eretz) Israel 10.2. Jüdische Bibelhermeneutik in Nordamerika und in Israel heute 10.3. Ausblick

  Abbildungsverzeichnis

 Allgemeine Bibliographie1. Online-Datenbanken und Hilfsmittel2. Moderne BibelausgabenBibelausgaben und -kommentare: OnlineHebräische BibelMasoraGriechische BibelSamaritanischer PentateuchTargumimVulgataPseudepigraphische und deuterokanonische Schriften3. Rabbinische LiteraturenMischnaToseftaTalmud BavliTalmud JeruschalmiMidraschimSonstige rabbinische Traktate4. Überblickswerke und Lexika5. Wörterbücher6. Einführungen und Überblicksdarstellungen7. Handschriften7.1. Sonstige Orte / Privatbesitz7.2. Öffentliche Bibliotheken8. Gedruckte Quellen und ÜbersetzungenBibel und antike LiteraturenBibelkommentare9. Sekundärliteratur

 Anhang1. Die synagogalen Lesungen aus dem Tanakh2. Glossar

 Indices1. Handschriftenregister1.1. Sonstige Orte / Privatbesitz1.2. Öffentliche Bibliotheken2. Stellenregister2.1. Hebräische Bibel2.2. Antike Autoren und Werke2.3. Rabbinische Literaturen2.4. Kommentarliteratur: Bibelkommentare und zitierte Werke3. Namensregister

[Zum Inhalt]

|V|In der Erklärung der biblischen Urkunden prägt sich am schärfsten das religiöse Bewusstsein der Zeit aus.

Abraham Geiger (1847)

[Zum Inhalt]

|VII|Vorwort

„Eine Geschichte der Bibelexegese im Zusammenhange mit den zeitlichen Einflüssen, den gleichzeitigen sonstigen geistigen Bewegungen ist daher ein Werk von der größten Wichtigkeit für die ganze Religionsgeschichte.“ Diesen Satz formulierte Abraham Geiger schon beinahe am Ende eines langen Wissenschaftlerlebens (Geiger 1870a, 217) und gestand in diesem Zusammenhang, dass er sich eigentlich viel zu wenig mit der (Geschichte der) Bibelauslegung der Juden, der Parschanut, beschäftigt habe. Zur Entschuldigung führt er gegenüber seinen Lesern an, dass er dies „nicht leisten konnte“. Tatsächlich war es aber vor allem Geiger gewesen, der die Geschichte der jüdischen Bibelauslegung stets als zentralen Teil einer Jüdischen Theologie verstanden und entsprechend kontextualisiert hatte, und erst hierin erschließt sich recht eigentlich auch die Vielfalt und Vielstimmigkeit, wenn nicht sogar die Unübersichtlichkeit einer Reihe sehr unterschiedlicher Literaturen, Genres, Themen und Methoden, die unter dem Topos der Bibelauslegung mehr oder weniger locker an den großen Strang der literarischen Produktivität der Juden angebunden sind.

Dieses Lehrbuch zur jüdischen Bibelauslegung entstand auf der Basis einer Vorlesung zur Geschichte der jüdischen Bibelauslegung vom Mittelalter bis in die Moderne und integriert dabei an der einen oder anderen Stelle auch bisherige Veröffentlichungen zu einzelnen Themen und Aspekten der jüdischen Schriftexegese. Für die Entscheidung, den Stoff zu einem Lehrbuch auszubauen, gab es verschiedene Gründe: Zum einen ist insbesondere in den letzten Jahren eine Reihe grundlegender neuer Fragen vor allem in der judaistischen Mediävistik in Einzelstudien bearbeitet worden, die es hier erstmals zu würdigen und zu bündeln galt; zum anderen sehen wir die Beschäftigung mit der jüdischen Bibelauslegung einer wachsenden Beliebtheit ausgesetzt, die allerdings auch dazu geführt hat, dass gerade in jüngster Zeit eine Reihe begeisterter, aber eben fachfremder Monographien oder Aufsätze zu diesem Thema erschienen ist, mit denen dann in anderen Fächern wie der Theologie oder der Geschichte gearbeitet wird, leider nicht immer im Sinne der Sache.

Ein Lehrbuch hat formalen Ansprüchen zu genügen, denn sein Aufbau soll verständlich, sein Inhalt möglichst umfassend, das Lesen dennoch nicht mühsam sein. Zwar konnte nicht ganz darauf verzichtet werden, den Stoff auch chronologisch zu sortieren, das |VIII|Hauptaugenmerk liegt allerdings auf der problemorientierten und daher systematisch gestrafften Darstellung exegetischer Grundfragen, wie sie zu verschiedenen Zeiten ganz unterschiedlich formuliert sein konnten. Die systematische Einteilung wird dabei zwischen dem zeitgeschichtlichen Kontext, den einzelnen Auslegerpersönlichkeiten sowie den jeweils neuen exegetischen Zugängen unterscheiden, um übergeordnete Entwicklungen mit Themen und jeweils aktuellen exegetischen Herausforderungen in Relation zu bringen. Insbesondere bei den Neuen Zugängen zeigt sich dabei immer wieder, wie einzelne Bereiche überlappen oder fließend ineinander übergehen und so manches Auslegungsbeispiel in mehreren Kategorien gut aufgehoben wäre. Die Darstellungen der hochmittelalterlichen Auslegungsperiode des 12. Jahrhunderts zwischen Raschi (R. Schelomo Jitzchaqi, st. 1105), seinem Enkel Raschbam (R. Schemu’el ben Meïr, st. ca. 1158), dem Spanier R. Avraham ibn Ezra (st. ca. 1165) und R. Eli‘ezer aus Beaugency (Mitte/Ende 12. Jahrhundert) weisen überdies exemplarisch die Dichte und die Schnelligkeit der exegetischen Entwicklungen auf, die sich im 12. Jahrhundert an einem Ort (Nordfrankreich) zu überstürzen scheinen.

Die Darlegung in den acht Hauptabschnitten (Kap. 2–9) ist wie folgt strukturiert: Nach einer einführenden Beschreibung in das sozio-kulturelle Umfeld der entsprechenden jüdischen Ausleger (Voraussetzungen und Hintergründe) sowie dem jeweils aktuellen Status quo der jüdischen Bibelauslegung geht es neben einer kurzen werk-biographischen Vorstellung einzelner Exegeten (Persönlichkeiten) vor allem darum, die Neuerungen der exegetischen Ansätze möglichst prägnant darzustellen und gegeneinander abzuheben (Neue Zugänge). Diese Darstellungen innovativer und für die Geschichte der jüdischen Exegese wichtiger Auslegungen werden durch Kommentarbeispiele unterfüttert. Dabei wurden solche Textauslegungen gewählt, die entweder maßgeblich auf die ihnen nachfolgende Exegese eingewirkt haben, oder gerade durch ihre quasi ‚nonkonformistische‘ Bibelauslegung von den Späteren ignoriert wurden, den Zeitgeist jedoch besonders gut einfangen. Dieser Teil ist auch für jene Nutzer und Nutzerinnen geeignet, die vielleicht nicht gleich eine exegetische Epoche in allen Einzelheiten erschließen möchten, sondern einfach einmal kursorisch lesend ‚schnuppern‘ wollen, was Bibelauslegung zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten einschließen konnte. Die Darstellung bemüht sich insgesamt darum, das Buch für Anfänger und fachfremde Benutzerinnen noch gut lesbar zu halten, gleichzeitig jedoch auch solche Leserinnen und Leser anzusprechen, die sich bereits mit einzelnen Auslegern beschäftigt, diese jedoch noch nicht unter der hier vorgelegten problemorientierten Erfassung wahrgenommen haben.

|IX|Vollständigkeit, soviel sei gleich vorweg gesagt, ist nicht einmal annähernd zu erreichen: Mit Blick auf die europäische Rezeptionsgeschichte wie auch hinsichtlich der intellektuellen Vernetzungen mit den christlichen Gelehrten in Westeuropa wird sich das vorliegende Lehrbuch vornehmlich auf die hebräischen Schriften und Kommentare konzentrieren und die judäo-arabischen Texte zur Grammatik und Bibelauslegung nur insoweit behandeln, als sie für das Verständnis der Hebräisch schreibenden Kommentatoren unabdingbar sind. Hinzu kommt, dass selbst für das hebräische Textmaterial erst allmählich kritische Editionen zur Verfügung stehen. Das judäo-arabische Schrifttum wird erst seit einigen Jahren wissenschaftlich verwertbar aufgearbeitet und ediert. Auch Übersetzungen stehen hier kaum zur Verfügung, die den Leserinnen und Lesern ein weiterführendes Quellenstudium ermöglichen würden. Die Auswahl – und dies gilt schon für das Hochmittelalter und die anschließende Renaissance-Zeit, aber weit mehr noch für die Zeit ab dem 18. Jahrhundert – bemisst sich vor allem daran, inwieweit ein Exponent jüdischer Bibelauslegung zum einen für seine Zeit repräsentativ ist und zum anderen auch in erster Linie als Bibelausleger – nicht als Philosoph, nicht als Kabbalist – wahrgenommen werden soll. Beispielsweise beschäftigt sich auch Maimonides in seinem More ha-Nevokhim ausführlich mit der Hebräischen Bibel. Ihn damit jedoch unter die Bibelausleger zu subsumieren, entspräche wohl kaum seinem eigenen Selbstverständnis, und dies gilt für den Großteil der Exponenten philosophischer oder kabbalistischer Bibelauslegung. So wird es also vor allem darum gehen, Bibelexegeten nicht nur allgemein als Repräsentanten ihrer Epoche, sondern vor allem als Repräsentanten unterschiedlichster Zugangsweisen zur Hebräischen Bibel wahrnehmen zu lernen. Dass das 19. und beginnende 20. Jahrhundert einen deutlich größeren Umfang aufweist, als die vorangehenden Kapitel, hat nicht nur damit zu tun, dass in dieser Zeit in Ost- wie in Westeuropa wichtige Entwicklungen durch eine ganze Reihe außergewöhnlicher Persönlichkeiten vorangetrieben wurden, die eine Vielzahl von unterschiedlichen exegetischen, philologischen und theologischen Entwürfen vorgelegt haben, sondern auch damit, dass unsere Wissenschaftslandschaft bis heute sowohl formal institutionell in ihrer akademischen Ausprägung als auch in inhaltlicher Hinsicht von dieser Zeit nachhaltig bestimmt wird. Deshalb wurde auch der biographische Bogen hier am umfangreichsten gespannt: von Ja‘aqov Tzvi Meklenburg (st. 1865) bis Isac Leo (Arie) Seeligmann (st. 1982). Gemeinsam ist aber all diesen in diesem Kapitel behandelten Gelehrten, dass sie aus der ‚alten Bildungswelt‘ West- und Osteuropas mit den ihr spezifischen religiösen Bildungsinstitutionen stammten, und deshalb auch noch |X|Gelehrte wie Naftali Herz Tur-Sinai, Yehezkel Kaufmann und Isac Leo Seeligmann ohne diesen Bildungshintergrund nicht zu verstehen sind, gleichzeitig aber in die ‚Neue Zeit‘ nach der Schoah und nach der Staatsgründung Israels hineinragen und diese bereits an je verschiedenen Orten (USA; Israel) mitgestaltet haben. In diesem Teil finden sich auch längere Textbeispiele: Nicht nur, weil es nicht zum Schreibstil des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts gehörte, sich kurz zu fassen, sondern auch weil die Erfahrung mit Studierenden gezeigt hat, dass zum Verständnis eines Gelehrten auch ein noch so gutes Referat seiner Hauptgedanken und -schriften Beispiele für die originale Diktion nicht ersetzen kann.

 

Die Beschäftigung mit der Bibelkommentarliteratur lässt mithin jene Texte, die eigentlich die Bibel als religiöse Quelle des Judentums erklären wollen, selbst zu Quellen werden, also zu Primärliteratur, die selbst wiederum einer Kommentierung bedarf. Dabei wird der Zugriff auf die Kommentartexte weitaus weniger von der einzelnen Bibelstelle her verständlich, sondern bildet sich vor dem Hintergrund jener den Ausleger prägenden soziokulturellen und intellektuellen Herausforderungen ab. Wer von der direkten Bibellektüre herkommt, wird daher immer wieder Fremdheitserfahrungen mit diesen Texten machen: Auslegungen werden dort nicht als exegetische Antworten verstanden, wo der Fragehorizont nicht dem unsrigen entspricht.

Zu Beginn eines jeden Kapitels findet sich eine Zusammenstellung der für das jeweilige Thema wichtigsten Überblicks- oder Einzeldarstellungen (natürlich ist auch dies eine subjektive Auswahl). Da das Buch keine Fußnoten enthält, finden sich Kurzverweise auf weitere Sekundärliteratur in Klammern. Hierfür ist auf das ausführliche Literaturverzeichnis am Ende des Buches zu verweisen, das die Quellen der einzelnen Ausleger nach den in ihnen behandelten Kapiteln sortiert, die Sekundärliteratur demgegenüber in einem alphabetisch geordneten Block präsentiert. Soweit nicht anders vermerkt, wurden alle zitierten Originalquellen von mir selbst übersetzt. Die hebräischen Transkriptionen orientieren sich zumeist an der philologisch korrekten Umschrift; an einigen Stellen wurde um der besseren Lesbarkeit willen von diesem Prinzip abgewichen. Die mit * gekennzeichneten Begriffe werden im Glossar näher erläutert.

Bedanken möchte ich mich zuerst und vor allem bei allen Studierenden, die diese Vorlesung gehört, nachgefragt, aber auch kritisch begleitet und damit immer weitergebracht haben. Es waren Studierende der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg und der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, der Universität Bern (WiSe 2012/13) und der Universität Kassel (SoSe 2017), die alle ihr je eigenes Vorwissen und Vorverständnis einbrachten und mich |XI|nie vergessen ließen, dass ein solches Buch nicht den Ruhm seiner Autorin, sondern die Zahl derer vermehren soll, die sich mit der jüdischen Bibelauslegung beschäftigen. Weiterhin möchte ich meinen (ehemaligen und aktuellen) Assistentinnen und Assistenten Dr. Ingeborg Lederer-Brüchner, Dr. Jonas Leipziger, Dr. Kay Joe Petzold und Dr. Amélie Sagasser danken, die in den verschiedenen Stadien der Entstehung dieses Buches inhaltlich zugearbeitet sowie Korrekturen und Vorschläge eingebracht haben. Kay Joe Petzold hat zudem den Abschnitt zu den jüdischen Kahle-Schülern vorbereitet. Jonas Leipziger war mit der mühsamen Arbeit der Aufarbeitung der umfangreichen Bibliographie betraut. Bettina Burghardt, Johannes Büge, Annabelle Fuchs, Elias Sigmund Jungheim und Hanna-Barbara Rost haben bei der Literaturbeschaffung, den Korrekturen, dem Glossar und dem Register ganze Arbeit geleistet. Besonders danken möchte ich auch meinen Kolleginnen und Kollegen Prof. Dr. Hannes Bezzel (Friedrich-Schiller-Universität Jena), Prof. Dr. Christoph Schulte (Universität Potsdam), Dr. Grit Schorch und Dr. Louise Hecht aus dem DFG-Forschungsprojekt Haskala im Dialog. Juda Jeitteles und Juda Leib ben Ze’eb als Exegeten der Aufklärung, die mir aus der noch laufenden Forschungsarbeit Informationen zu Jeitteles und Ben Ze’ev sowie Originaltexte in Transkription zur Verfügung gestellt haben. Den Kolleginnen und Kollegen PD Dr. Elke Morlok (Frankfurt am Main) und Dr. Ze’ev Strauss (Hamburg), vor allem aber Prof. Dr. mult. Dr. h.c. Johann Maier (1933–2019) verdanke ich bibliographische Hinweise ebenso wie wertvolle inhaltliche Anregungen zu einer Vielzahl von Einzelaspekten. Dem Sonderforschungsbereich 933 Materiale Textkulturen (Universität Heidelberg/Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg; finanziert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft) verdanke ich ein Freisemester, in dem u.a. einige Teile dieses Buches, insbesondere die Abschnitte zu den biblischen Manuskripten und der jüdischen Masoraforschung im 19. Jahrhundert entstanden sind. Den letzten sieben Jahren gemeinsamer Arbeit mit den Kolleginnen und Kollegen aus dem DFG-Graduiertenkolleg 1728 Theologie als Wissenschaft. Formierungsprozesse der Reflexivität von Glaubenstraditionen in historischer und systematischer Analyse (Goethe-Universität, Frankfurt am Main; Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt Georgen; Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg; Johannes Gutenberg-Universität Mainz) verdanke ich das intensive Nachdenken über das Verhältnis der jüdischen Bibelauslegung zu einer (wie immer sich formierenden) jüdischen akademischen Theologie. Aus verschiedenen Gründen erscheint das Buch später als ursprünglich geplant, und so danke ich auch nochmals der Herausgeberin, den Herausgebern und dem Verlag für ihre Geduld.

|XII|Last but not least, hoffe ich, dass dieses Buch, das den Einstieg in die spannende Textwelt des jüdischen Denkens über die Bibelauslegung bieten will, den Studierenden und dem interessierten Laienpublikum eine Anregung zum Weiterlesen und -lernen ist. Wenn es mir gelingt, die Lust am biblischen Text und die Zähigkeit, mit der jüdische Gelehrte schon seit vielen Jahrhunderten mit diesem Text leben und ringen, so zu vermitteln, dass auch heute wieder so etwas wie eine intellektuelle Bibellesekultur entsteht, werde ich mehr erreicht haben, als ich zu hoffen wage.

Gewidmet ist das Buch dem verehrten Kollegen Prof. Dr. mult. Dr. h.c. Johann Maier, der das Erscheinen des Buches leider nicht mehr erleben konnte.

Oktober 2019 // Simchat Tora 5780 Hanna Liss