Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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Guy de Maupassant – Gesammelte Werke
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Guy de Maupassant

Gesammelte Werke

Romane und Geschichten

Guy de Maupassant

Gesammelte Werke

Romane und Geschichten

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2020

1. Auflage, ISBN 978-3-962817-69-5

null-papier.de/692


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Inhaltsverzeichnis

Va­ter Mi­lon und an­de­re Er­zäh­lun­gen

Vor­wort des Über­set­zers

Va­ter Mi­lon

Am Früh­lings­abend

Der Blin­de

Der ver­häng­nis­vol­le Ku­chen

Der Schä­fer­sprung

Aus al­ten Ta­gen

Ma­gne­tis­mus?

Ein kor­si­ka­ni­scher Ban­dit

Die To­ten­wa­che

Träu­me

Eine Beich­te

Mond­schein

Eine Lei­den­schaft

Brief­wech­sel

An­ge­führt

Yve­li­ne Sa­mo­ris

Freund Jo­sef

Das Pfle­ge­kind

Bel Ami

Teil 1

Teil 2

Das Haus Tel­lier und An­de­res

Das Haus Tel­lier

Der Kirch­hof Mont­mar­tre

Auf dem Was­ser

Ge­dan­ken des Oberst La­por­te

Ber­t­ha

Die Ge­schich­te ei­ner Bau­ern­magd

Im Fa­mi­li­en­krei­se

Si­mons Papa

Ein Men­schen­le­ben

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

XI.

Yvet­te und An­de­res

Paul’s Ver­hält­nis

Eine Land­par­tie

Im Früh­ling

Mam­sell Fifi

Fett-Kloss

Zwei Freun­de

Ein Stück­chen Bind­fa­den

Das Zieh­kind

Die Rück­kehr

Mar­ro­ca

Mo­ham­med Cri­pouil­le

Der Wald­hü­ter

Der letz­te Spa­zier­gang

Zwei Brü­der

Ers­tes Ka­pi­tel.

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel.

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel.

Sie­ben­tes Ka­pi­tel.

Ach­tes Ka­pi­tel.

Neun­tes Ka­pi­tel.

Der Hor­la

Der Hor­la

Das Loch

Ge­ret­tet

Clo­chet­te

Der Mar­quis von Fu­me­rol

Das Zei­chen

Der Teu­fel

Drei­kö­nigs­tag

Im Wal­de

Eine Fa­mi­lie

Jo­sef

Das Wirts­haus

Der Land­strei­cher

Lie­be – Aus dem Ta­ge­buch ei­nes Jä­gers

Mont Ori­ol

Ers­ter Teil

Zwei­ter Teil

Herr Pa­rent

Herr Pa­rent

Bel­hom­mes Vieh

Zu ver­kau­fen

Die Un­be­kann­te

Das Ge­ständ­nis

Die Tau­fe

Un­vor­sich­tig­keit

Ein Wahn­sin­ni­ger

Länd­li­che Ge­richts­ver­hand­lung

Die Haar­na­del

Eine Ent­de­ckung

Die Sch­nep­fen

Auf der Ei­sen­bahn

Ça ira

Ein­sam­keit

An Bet­tes Rand

Die bei­den klei­nen Sol­da­ten

Dick­chen

Dick­chen

Der Bur­sche

Al­lou­ma

 

Hau­tot Va­ter und Hau­tot Sohn

Ein Abend

Die Steck­na­deln

Duchoux

Das Stell­dich­ein

Die Tote

Nutz­lo­se Schön­heit

Nutz­lo­se Schön­heit

Das Oli­ven­feld

Die Flie­ge

Der Er­trun­ke­ne

Die Pro­be

Die Mas­ke

Das Bild

Der Krüp­pel

Die fünf­und­zwan­zig Fran­ken der Obe­rin

Ein Schei­dungs­grund

Wer weiß!

Schnaps-An­ton

Schnaps-An­ton

Freund Pa­ti­ence

Der Schnurr­bart

Das Bett No. 29

Bom­bard

Das Haar

Der alte Mon­gi­let

Der Schrank

Zim­mer No. 11

Die Ge­fan­ge­ne­nen

Die Mit­gift

Ro­gers Mit­tel

Das Ge­ständ­nis

Die Teu­fe­lin

Der Pro­tek­tor

Theo­dul Sa­bots Beich­te

Die klei­ne Ro­que

Die klei­ne Ro­que

Das Wrack

Der Ein­sied­ler

Fräu­lein Per­le

Ro­sa­lie Pru­dent

Frau Pa­ris­se

Ju­lie Ro­main

Der alte Ama­ble

Die Schwes­tern Ron­do­li

Die Schwes­tern Ron­do­li

Die Wir­tin

Der Fall Lu­neau

Selbst­mor­de

On­kel Sosthè­ne

Das Fäss­chen

Er?

Der Rie­gel

Der Or­den

An­dre­as’ Lei­den

Der Re­gen­schirm

Das Sün­den-Brot

Die Be­geg­nung

Der Wei­se

Châ­li

Der Lieb­ling

Ers­ter Teil

Zwei­ter Teil

Stark wie der Tod

Ers­ter Teil

Zwei­ter Teil

Tag- und Nacht­ge­schich­ten

Die Mo­ri­tat

Rosa

Der Va­ter

Das Ge­ständ­nis

Der Schmuck

Das Glück

Der Alte

Ein Feig­ling

Der Säu­fer

Die Blut­ra­che

Coco

Die Hand

Der Krüp­pel

El­tern­mord

Der Lum­men-Fel­sen

Der Klei­ne

Tim­buc­tu

Eine wah­re Ge­schich­te

Adieu

Erin­ne­rung

Die Beich­te

Un­ser Herz

Ers­ter Teil

Zwei­ter Teil

Drit­ter Teil

Miss Har­riet

Miss Har­riet

De­nis

Kell­ner, ein Bier!

Auf der Rei­se

Ein Idyll

Die Erb­schaft

Der Esel

Der Strick

Die Tau­fe

Reue

On­kel Ju­li­us

Mut­ter Sau­va­ge

Ein Men­schen­le­ben

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

Mond­schein

Mond­schein

Ein Staats­s­treich

Der Wolf

Das Kind

Weih­nachts­mär­chen

Kö­ni­gin Hor­ten­se

Die Ver­zei­hung

Le­gen­de vom Mont Saint-Mi­chel

Eine Wit­we

Fräu­lein Co­cot­te

Die Schmuck­sa­chen

Vi­si­on

Die Tür

Der Va­ter

Moi­ron

Un­se­re Brie­fe

Die Nacht – Ein Traum­ge­sicht

Die Sch­nep­fe

Die Sch­nep­fe

Das Schwein der Mo­rin

Die Ver­rück­te

Pier­rot

Me­nuet

Die Furcht

Nor­man­ni­scher Scherz

Die Holz­schu­he

Die Rohr­stuhl­flech­te­rin

Auf See

Ein Nor­man­ne

Das Te­sta­ment

Auf dem Lan­de

Ein Hahn hat ge­kräht

Ein Sohn

Sankt An­ton

Wal­ter Schnaffs’ Aben­teu­er

Hans und Pe­ter

I

II

III

IV

 

V

VI

VII

VIII

IX

Der Tu­gend­preis

Der Tu­gend­preis

Ab­ge­blitzt

Toll­wut?

Das Mo­dell

Die Baro­nin

Ein Han­del

Der Mör­der

Die Mar­tin

Eine Ge­sell­schaft

Die Beich­te

Schei­dung

Ver­gel­tung

Irr­fahr­ten ei­nes Mäd­chens

Das Fens­ter

Das Haus

Das Haus

Kirch­hofs­lie­be

Auf dem Strom

Ge­schich­te ei­ner Magd

Da­heim

Si­mons Va­ter

Die Land­par­tie

Im Lenz

Pauls Frau

Fräu­lein Fifi

Zur Ein­füh­rung

Die bei­den Freun­de

Lie­bes­wor­te

Der Weih­nachts­abend

Der Er­satz­mann

Die Re­li­quie

Das Holz­scheit

Pa­ri­ser Aben­teu­er

Der Dieb

Das Bett

Fräu­lein Fifi

Er­wacht

Weih­nachts­fei­er

Eine List

Der Spa­zier­ritt

Ein­ge­ros­tet

Toll?

Frau Bap­tis­te

Mar­ro­ca

Li­te­ra­tur­ver­zeich­nis

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Vater Milon und andere Erzählungen

Vorwort des Übersetzers

Wir be­gin­nen hier­mit die Ver­öf­fent­li­chung des Nach­las­ses von Guy de Mau­passant. Er ent­hält Er­zäh­lun­gen, No­vel­len, lit­te­ra­ri­sche Chro­ni­ken und Auf­sät­ze, an de­ren ge­ord­ne­ter Her­aus­ga­be der Ver­fas­ser durch einen frü­hen und jä­hen Tod ver­hin­dert wor­den ist.

Die­ser ers­te Band ent­hält eine Rei­he von Ge­schich­ten, de­ren Grun­di­dee Mau­passant in ei­ni­gen sei­ner Bü­cher wie­der auf­ge­nom­men und aus­ge­stal­tet hat. Sie fin­den hier ih­ren na­tür­li­chen Platz, denn sie las­sen uns – ganz ab­ge­se­hen von dem In­ter­es­se, das sie an sich zu be­an­spru­chen ha­ben, – die Ent­wi­cke­lung des Mau­passant’­schen Den­kens und Schaf­fens bis in ihre An­fän­ge zu­rück ver­fol­gen.

Wir sind uns be­wusst, dass die Ver­öf­fent­li­chung die­ser in sei­nen Pa­pie­ren vor­ge­fun­de­nen und von ihm selbst noch ge­ord­ne­ten Ar­bei­ten dazu bei­tra­gen wird, das In­ter­es­se für den großen Schrift­stel­ler und sei­nen Ruhm zu meh­ren.

*

Mit die­ser et­was knap­pen Vor­re­de be­ginnt der am heu­ti­gen Tage zu­gleich mit die­ser Über­set­zung er­schei­nen­de post­hu­me No­vel­len­band Guy de Mau­passants »Le Père Mi­lon«. Die Kür­ze der mir ge­steck­ten Frist er­laub­te nicht, den oben an­ge­deu­te­ten Ge­dan­ken, dass es sich in die­sem Ban­de um meh­re­re Ur­bil­der spä­ter aus­ge­stal­te­ter Wer­ke han­delt, des län­ge­ren aus­ein­an­der zu set­zen, und muss ich mir die­se Auf­ga­be bis auf wei­te­res vor­be­hal­ten. Ein paar ein­lei­ten­de Wor­te mö­gen den­noch am Plat­ze sein.

*

Mau­passant er­scheint auch in die­sem post­hu­men Ban­de als der See­len­künst­ler und Meis­ter des Styls, als der er ge­schätzt wird. Je­des der nach­fol­gen­den Gen­re­bild­chen ist mit epi­gram­ma­ti­scher Kür­ze wie mit un­nach­ahm­li­cher Klar­heit und Ein­fach­heit hin­ge­zeich­net und er­schließt in die­ser meis­ter­li­chen Be­schrän­kung eine gan­ze rei­che Welt. Na­tür­lich hat der große See­len­ken­ner und Pes­si­mist, der eben, weil er See­len­ken­ner war, zum Pes­si­mis­ten wur­de, auch in die­ser Samm­lung mehr die Schat­ten­sei­ten der mensch­li­chen Na­tur als ihre Licht­sei­ten – in frei­lich vir­tuo­ser Wei­se – her­aus­ge­ar­bei­tet. Wenn trotz­dem kaum eine die­ser No­vel­len einen durch­aus un­be­frie­di­gen­den, quä­len­den Ein­druck hin­ter­lässt, so liegt das wohl dar­an, dass die bit­te­re Wahr­heit stets in die him­melblaue Schön­heit feins­ter Styl­kunst ge­taucht ist, und dass Mau­passant ne­ben den Dis­so­nan­zen des Men­schen­le­bens auch die wun­der­vol­len Ak­kor­de der Na­tur er­klin­gen lässt, die er wie kein zwei­ter zu schil­dern weiß. Im­pres­sio­nis­ti­sche Na­tur­bil­der, wie sie in der No­vel­le »Ein kor­si­ka­ni­scher Ban­dit« ent­rollt wer­den, oder die Schil­de­rung des re­gungs­lo­sen Tei­ches in der Herbst­nacht, oder der Zau­ber ei­nes Mond­auf­gan­ges am feuch­ten Früh­lings­abend ge­hö­ren zu den Per­len Mau­passant’­scher Kunst und ste­hen den be­rühm­ten Schil­de­run­gen der Afri­ka­ni­schen Rei­se nicht nach.

Na­tür­lich ste­hen auch in die­ser Samm­lung die Wei­ber im Brenn­punkt des In­ter­es­ses. Wir se­hen sie alle, von der Aben­teue­rin, de­ren Toch­ter aus Gram über den leicht­fer­ti­gen Wan­del der Mut­ter in den Tod geht, und der klei­nen Pa­ri­ser Be­am­ten­frau, die einen Mi­nis­ter des zwei­ten Kai­ser­rei­ches nas­führt, von der jun­gen Frau, die der un­ge­lieb­te Gat­te aus blin­der sinn­lo­ser Ei­fer­sucht fast um­bringt und sie ge­ra­de da­durch zu Miss­trau­en und Un­treue er­zieht – bis zu der lie­be­be­dürf­ti­gen schö­nen See­le, die an einen lang­wei­li­gen kor­rek­ten Pe­dan­ten ge­ket­tet ist und in ei­ner zau­be­ri­schen Mond­nacht am Gen­fer See ihr Herz ver­liert, bis zu der al­tern­den Frau, die in dem weh­mü­ti­gen Ge­dan­ken: »Wie kurz ist doch ein Men­schen­le­ben!« an die fröh­li­chen und sorg­lo­sen Tage ih­rer glück­li­chen Ju­gend zu­rück­denkt und un­ter al­tem Ge­rüm­pel von den Bil­dern der Ver­gan­gen­heit weh­mü­tig be­fal­len wird, und bis zu der rüh­ren­den Ge­stalt der al­ten Jung­fer, die in der Früh­lings­nacht weint, als sie, das arme, nie ge­lieb­te Mäd­chen, das lie­ben­de, schä­kern­de Braut­paar be­wa­chen soll…

Ich möch­te an die­ser Stel­le eine tech­ni­sche Schluss­be­mer­kung nicht un­ter­drücken. Es ver­steht sich von selbst, dass die­ses Buch nicht nach be­lieb­ter Ma­nier »frei nach Mau­passant« er­fun­den ist, son­dern sich eng an das Ori­gi­nal an­schließt. Wenn ich trotz­dem an ge­wis­sen Stel­len nicht bis zur Gren­ze des Er­laub­ten ge­gan­gen bin, so glau­be ich mich trotz­dem nicht am Ur­text ver­sün­digt zu ha­ben, der mir hei­lig ist. Die fran­zö­si­sche Spra­che hat – ganz ab­ge­se­hen da­von, dass es fran­zö­si­sche Art ist, al­les viel frei­er, nai­ver und un­ge­schmink­ter her­aus­zu­sa­gen, als es bei uns an­stän­dig wäre – eine Fül­le von Wor­ten, die al­les mög­li­che be­deu­ten kön­nen, wäh­rend die Äqui­va­len­te bei uns – sehr ein­deu­tig sind. Man lese z. B. einen Ro­man von Zola auf Fran­zö­sisch, und man wird ver­hält­nis­mä­ßig we­nig di­rekt An­stö­ßi­ges dar­in fin­den; man lese ihn in »rea­lis­ti­scher« Über­set­zung, und man wird vor­zie­hen, ihn nicht zu Ende zu le­sen. Es heißt dar­um nicht, einen Au­tor fäl­schen, wenn man ihn in ei­ner sol­chen Ab­tö­nung wie­der­gibt, dass die Wir­kung, die er her­vor­ruft, in bei­den Spra­chen die­sel­be bleibt.

Ber­lin, im Juli 1899.

Fried­rich von Op­peln-Bro­ni­kow­ski.

Vater Milon

Seit ei­nem Mo­nat flammt die Son­ne mit Macht über der Land­schaft. Leuch­tend ent­fal­tet sich das Le­ben un­ter die­sem Feu­er­re­gen. Blau spannt sich der Him­mel bis an die Rän­der der Welt. Die nor­man­ni­schen Höfe, die über die Ebe­ne ver­streut sind, se­hen von fer­ne wie klei­ne Wal­dun­gen aus, die ein ho­her Bu­chen­gür­tel um­schlingt. Kommt man nä­her und öff­net das ver­wit­ter­te Hof­tor, so glaubt man in einen Rie­sen­gar­ten zu tre­ten, denn all die al­ten Ap­fel­bäu­me, die so knor­rig wie die Bau­ern des Lan­des sind, ste­hen in Blü­te. Ihre al­ten schwar­zen, ge­krümm­ten und ge­wun­de­nen Stäm­me ste­hen rei­hen­wei­se im Hofe und ent­fal­ten ihre wei­ßen und rosa Blü­ten­wip­fel un­ter dem blau­en­den Him­mel. Der süße Blü­ten­duft mischt sich in die fet­ten Gerü­che der of­fe­nen Stäl­le und die Aus­düns­tun­gen des gä­ren­den Dün­ger­hau­fens, auf dem es von Hüh­nern wim­melt.

Es ist Mit­tag, die Fa­mi­lie sitzt im Schat­ten des Birn­baums vor der Tür, Va­ter, Mut­ter, vier Kin­der, zwei Mäg­de und drei Knech­te. Ge­spro­chen wird nicht, nur ge­ges­sen. Erst die Sup­pe, dann wird die Fleisch­schüs­sel auf­ge­deckt, auf der Kar­tof­feln mit Speck lie­gen. Von Zeit zu Zeit steht eine Magd auf und geht in den Kel­ler, um den Äp­fel­wein­krug zu fül­len.

Der Mann, ein statt­li­cher Vier­zi­ger, dreht sich nach dem Hau­se um und blickt auf ein Wein­spa­lier, das noch ziem­lich kahl ist und sich wie eine Schlan­ge un­ter den Lä­den weg um die Mau­er win­det. End­lich tut er den Mund auf. »Va­ter sein Wein« sag­te er, »schlägt dies Jahr früh aus. Vi­el­leicht wird er was tra­gen.«

Die Frau dreht sich gleich­falls um und blickt hin, ohne ein Wort zu sa­gen.

Die­ser Wein ist ge­ra­de an der Stel­le ge­pflanzt, wo der Va­ter er­schos­sen wur­de.

*

Es war im Krie­ge 1870. Die Preu­ßen hat­ten das gan­ze Land be­setzt. Ge­ne­ral Faid­her­be stand ih­nen mit der Nor­dar­mee ge­gen­über.

Das preu­ßi­sche Stab­s­quar­tier be­fand sich just in die­sem Hofe. Va­ter Mi­lon, der Be­sit­zer, mit Vor­na­men Pier­re, hat­te den Feind gut auf­ge­nom­men und nach bes­ten Kräf­ten un­ter­ge­bracht.

Die preu­ßi­sche Avant­gar­de lag seit ei­nem Mo­nat hier in Beo­b­ach­tungs-Stel­lung. Die Fran­zo­sen stan­den zehn Mei­len ent­fernt, ohne sich zu rüh­ren, und doch ver­schwan­den all­nächt­lich Ula­nen.

Alle ein­zel­nen Rei­ter, die auf Pa­trouil­le ge­schickt wur­den, auch wenn sie zu zweit oder zu dritt rit­ten, ka­men nie wie­der.

Man fand sie am nächs­ten Mor­gen im Fel­de, am Ran­de ei­nes Ge­höfts oder Gra­bens tot. Selbst ihre Pfer­de la­gen an den Stra­ßen hin­ge­streckt; ein Sä­bel­hieb hat­te ih­nen die Keh­le zer­schnit­ten.

Die­se Mord­ta­ten schie­nen im­mer von den­sel­ben Leu­ten ver­übt zu wer­den, die man nicht ent­de­cken konn­te.

Das Land wur­de ein­ge­schüch­tert, Bau­ern auf ein­fa­che De­nun­zia­ti­on hin er­schos­sen, Wei­ber ge­fan­gen ge­setzt. Aus den Kin­dern such­te man durch Dro­hun­gen et­was her­aus zu pres­sen. Es kam aber nichts her­aus.

Doch da lag ei­nes Mor­gens Va­ter Mi­lon im Stall auf der Streu und hat­te einen klaf­fen­den Hieb im Ge­sicht.

Zwei Ula­nen mit auf­ge­schlitz­tem Lei­be la­gen etwa drei Ki­lo­me­ter vom Hofe ent­fernt. Der eine hielt sei­ne blu­ti­ge Waf­fe noch in der Faust; er hat­te sich ge­wehrt und ge­kämpft.

So­fort wur­de ein Kriegs­ge­richt auf dem Hofe un­ter frei­em Him­mel ab­ge­hal­ten und der Alte vor­ge­führt.

Er war achtund­sech­zig Jah­re alt, von klei­ner Sta­tur, ma­ger, et­was ge­beugt, und hat­te große Hän­de wie Krebs­sche­ren. Sein Haar war ge­bleicht, spär­lich und zart wie der Flaum ei­ner jun­gen Ente; über­all ließ es die Kopf­haut durch­schim­mern. An der brau­nen, run­ze­li­gen Haut des Hal­ses quol­len di­cke Adern her­vor, die un­ter dem Kinn ver­schwan­den und an den Schlä­fen wie­der zu Tage tra­ten.

Man stell­te ihn zwi­schen vier Sol­da­ten und an den her­aus­ge­zo­ge­nen Kü­chen­tisch setz­ten sich fünf Of­fi­zie­re so­wie der Oberst ihm ge­gen­über.

Die­ser er­griff das Wort auf Fran­zö­sisch.

– Va­ter Mi­lon, sag­te er, seit wir hier sind, ha­ben wir uns über Euch nie zu be­kla­gen ge­habt. Ihr seid im­mer ge­fäl­lig und so­gar auf­merk­sam ge­gen uns ge­we­sen. Aber heu­te las­tet eine furcht­ba­re An­kla­ge auf Euch, und die Sa­che be­darf der Auf­klä­rung. Wo­her habt Ihr die Wun­de, die Ihr da im Ge­sicht tragt?

Der Bau­er ant­wor­te­te nicht.

– Euer Schwei­gen ver­dammt Euch selbst, Va­ter Mi­lon, fuhr der Oberst fort. Aber ich wün­sche, dass Ihr ant­wor­tet, ver­steht Ihr mich. Wisst Ihr, wer die bei­den Ula­nen ge­tö­tet hat, die heu­te Mor­gen am Kru­zi­fix ge­fun­den wur­den?

Der Alte sag­te laut und deut­lich:

– Das bin ich ge­we­sen.

Der Oberst war be­trof­fen. Er schwieg eine Se­kun­de und blick­te den Ge­fan­ge­nen scharf an. Va­ter Mi­lon stand un­ge­rührt in sei­ner schwer­fäl­li­gen Bau­ern­art und senk­te die Au­gen, als ob er vor sei­nem Beich­ti­ger stän­de. Nur ei­nes ver­riet viel­leicht sei­ne in­ne­re Be­we­gung: er schluck­te fort­wäh­rend mit sicht­li­cher An­stren­gung, als ob ihm die Keh­le zu­ge­schnürt wäre.

Sei­ne Fa­mi­lie, d. h. sein Sohn Jean, sei­ne Schwie­ger­toch­ter und die zwei Klei­nen, stan­den zehn Schritt da­hin­ter, ver­stört und in ängst­li­cher Span­nung.

Der Oberst fuhr fort.

– Wisst Ihr auch, wer alle Mel­de­rei­ter un­se­rer Ar­mee um­ge­bracht hat, die seit ei­nem Mo­nat je­den Mor­gen auf den Fel­dern ge­fun­den wur­den?

Und mit der­sel­ben bru­ta­len Gleich­gül­tig­keit ant­wor­te­te der Alte:

– Das bin ich ge­we­sen.

– Ihr? Ihr habt sie um­ge­bracht?

– Frei­lich, ich bin es ge­we­sen.

– Ihr al­lein?

– Ich al­lein.

– Sagt mir doch, wie habt Ihr das an­ge­stellt?

Dies­mal schi­en der Mann be­wegt. Der Zwang, lan­ge re­den zu müs­sen, be­läs­tig­te ihn sicht­lich.

Ich… ich weiß nicht. Ich hab’ das ge­tan, wie sich ’s gra­de mach­te.

– Ich ma­che Euch dar­auf auf­merk­sam, fuhr der Oberst fort, dass Ihr nichts zu ver­schwei­gen habt. Ihr wer­det also gut tun, Euch auf der Stel­le zu ent­schlie­ßen. Wie habt Ihr sie um­ge­bracht?

Der Bau­er warf einen un­ru­hi­gen Blick auf sei­ne An­ge­hö­ri­gen, die hin­ter ihm horch­ten, schi­en noch einen Au­gen­blick zu zau­dern und ent­schloss sich dann plötz­lich, zu re­den.

– Ich kam ei­nes Abends heim, sag­te er. Es war um zehn Uhr, den Tag dar­auf, wo Sie her­ge­kom­men wa­ren. Sie und Ihre Sol­da­ten hat­ten mir mehr als für fünf­zig Ta­ler Fut­ter und eine Kuh und zwei Ham­mel fort­ge­nom­men. Ich habe mir gleich ge­sagt: So viel mal sie mir zwan­zig Ta­ler neh­men, so viel will ich ih­nen heim­zah­len. Und dann hat­te ich noch an­de­re Sa­chen auf dem Her­zen, die will ich Ih­nen nach­her sa­gen. Ich sehe da also einen von Ihren Rei­tern, der sitzt auf mei­nem Gra­ben­rand und raucht sei­ne Pfei­fe hin­ter mei­ner Scheu­er. Ich gehe und neh­me mei­ne Sen­se her­un­ter und schlei­che mich ganz sach­te von hin­ten an ihm ’ran, dass er nur ja nichts merkt. Und mit ei­nem Schla­ge hau’ ich ihm den Kopf ab, wie einen Halm, dass er nicht mal mehr »Uff!« sag­te. Sie brau­chen nur im Moor nach­se­hen las­sen, da wer­den Sie ihn in ei­nem Koh­len­sack fin­den, mit ’nem Feld­stein dran­ge­bun­den.

Ich hat­te so mei­nen Ge­dan­ken da­bei; ich nahm alle sei­ne Sa­chen samt den Stie­feln und der Müt­ze mit und ver­steck­te sie in der Kalk­bren­ne­rei am Mar­tins­wald hin­ter dem Hofe.

Der Alte schwieg. Die Of­fi­zie­re blick­ten sich sprach­los an. Das Ver­hör be­gann von Neu­em und hat­te fol­gen­des Er­geb­nis.

*

So­bald er den Mord voll­bracht hat­te, hat­te er nur noch den einen Ge­dan­ken: »Tod den Preu­ßen!« Er hass­te sie mit heim­tücki­schem, er­bit­ter­tem Hass, so­wohl als be­ein­träch­tig­ter Bau­er wie als gu­ter Pa­tri­ot. Er hat­te so sei­nen Ge­dan­ken, wie er sag­te, und war­te­te ein paar Tage ab.

Man ließ ihn tun und las­sen, was er woll­te, und aus- und ein­ge­hen, wie er woll­te, so de­mü­tig, un­ter­wür­fig und ge­fäl­lig hat­te er sich ge­gen die Sie­ger be­nom­men. So sah er je­den Abend die Pa­trouil­len ab­rei­ten und merk­te sich die Na­men der Orte, wo­hin sie rei­ten soll­ten. Des Nachts ging er dann hin­aus, nach­dem er im Ver­kehr mit den Sol­da­ten die paar deut­schen Bro­cken ge­lernt hat­te, die er brauch­te.

Er ver­ließ den Hof, schlich in den Wald und er­reich­te die Kalk­bren­ne­rei, schlüpf­te bis an’s Ende des lan­gen Gan­ges und zog sich die Klei­der des To­ten an, die auf der Erde la­gen.

Dann be­gann er quer­feld­ein zu strei­fen, kroch in den Ge­län­de­fal­ten ent­lang, um nicht ge­se­hen zu wer­den, und lausch­te, un­ru­hig wie ein Wild­dieb, auf das lei­ses­te Geräusch.

Als er glaub­te, dass die Zeit ge­kom­men wäre, zog er sich an die Stra­ße her­an, ver­steck­te sich da in ei­nem Strau­che und war­te­te. End­lich, um Mit­ter­nacht, hör­te er den Ga­lopp ei­nes Pfer­des auf der har­ten Stra­ßen­de­cke. Er leg­te das Ohr auf den Bo­den, um sich zu ver­ge­wis­sern, ob auch nur ein ein­zi­ger Rei­ter käme; dann hielt er sich be­reit.

Der Ulan kam im schlan­ken Tra­be da­her; er brach­te Mel­dun­gen zu­rück. Er hielt das Auge wach und das Ohr ge­spannt. Als er bis auf zehn Schrit­te her­an war, schlepp­te sich Va­ter Mi­lon über die Stra­ße hin und schrie plötz­lich »Hil­fe! Hil­fe!« Der Rei­ter mach­te Halt, er­kann­te einen Rei­ter ohne Pferd, und hielt ihn für ver­wun­det. Als er nichts­ah­nend nä­her kam und sich über den Un­be­kann­ten beug­te, stach ihm die­ser mit dem krum­men Sä­bel mit­ten in den Leib, so­dass er ohne To­des­kampf aus dem Sat­tel sank; nur ein letz­tes Zu­cken lief durch sei­nen Kör­per.

Da er­hob sich der alte Bau­er stumm und freu­de­strah­lend und schnitt dem Leich­nam zum Spaß noch die Keh­le durch. Dann zog er ihn nach dem Gra­ben und warf ihn hin­ein.

Das Pferd war­te­te ru­hig auf sei­nen Herrn; Va­ter Mi­lon setz­te sich in den Sat­tel und ga­lop­pier­te da­von.

Nach etwa ei­ner Stun­de er­blick­te er noch zwei Ula­nen, die Schen­kel an Schen­kel ins Quar­tier rit­ten. Er ga­lop­pier­te stracks auf sie zu und schrie wie­der: »Hil­fe! Hil­fe!« Die Preu­ßen lie­ßen ihn, da sie die Uni­form er­kann­ten, ohne ir­gend­wel­ches Miss­trau­en her­an­kom­men. Der Alte platz­te mit­ten zwi­schen sie hin­ein, wie eine Ku­gel, und mach­te sie mit Sä­bel und Re­vol­ver un­schäd­lich.

Dann schnitt er den Pfer­den – es wa­ren ja deut­sche Pfer­de! – die Häl­se durch, kehr­te in al­ler Ge­müts­ru­he nach sei­nem Kal­kofen zu­rück und ver­barg das Pferd am Ende des dunklen Gan­ges, leg­te sei­ne Uni­form ab, zog sei­ne arm­se­li­gen Bau­ern­klei­der wie­der an, ging heim und schlief bis zum an­de­ren Mor­gen,

Vier Tage lang hielt er sich ru­hig, um das Ende der an­ge­stell­ten Un­ter­su­chung ab­zu­war­ten. Am fünf­ten Tage brach er wie­der aus und tö­te­te noch zwei Sol­da­ten durch die­sel­be Kriegs­list. Seit­dem ging er all­abend­lich auf Men­schen­jagd, durch­quer­te aufs Ge­ra­te­wohl die Ge­gend, schlug die Preu­ßen bald hier, bald dort zu Bo­den und ga­lop­pier­te im Mond­schein als Ulan durch die ver­las­se­nen Fel­der. Hat­te er sei­ne Ab­sicht er­reicht, so ließ er die Lei­chen an den Stra­ßen lie­gen und ver­steck­te Pferd und Uni­form wie­der im Kal­kofen.

Ge­gen Mit­tag ging er dann mit dem ru­higs­ten Ge­sicht von der Welt wie­der hin und brach­te sei­nem Reit­tier Ha­fer und Was­ser in den un­ter­ir­di­schen Gang, wo es an­ge­bun­den war, und füt­ter­te es gut, denn es muss­te ihm viel leis­ten.

An ei­nem der Aben­de je­doch setz­te sich ei­ner der An­ge­grif­fe­nen recht­zei­tig zur Wehr und schlug dem al­ten Bau­ern mit dem Sä­bel ins Ge­sicht.

Er hat­te in­des­sen bei­de ge­tö­tet und war noch bis zu sei­nem Kal­kofen ge­kom­men, hat­te dort sein Pferd un­ter­ge­stellt und sei­ne un­schein­ba­re Klei­dung wie­der an­ge­legt. Dann hat­te er sich nach Hau­se ge­schleppt, war aber un­ter­wegs von ei­ner Schwä­che be­fal­len wor­den, und hat­te nur noch den Stall, nicht mehr das Haus er­reicht.

Dort hat­te man ihn blut­über­strömt auf der Streu ge­fun­den.

*

Als er sei­ne Er­zäh­lung be­en­det hat­te, er­hob er plötz­lich den Kopf und blick­te die preu­ßi­schen Of­fi­zie­re stolz an.

Der Oberst zog an sei­nem Schnur­bart und frag­te:

– Wei­ter habt Ihr nichts zu sa­gen?

– Nein, wei­ter ist’s nichts. Die Rech­nung stimmt. Ich habe sech­zehn ge­tö­tet, kei­nen mehr, kei­nen we­ni­ger.

– Ihr wisst, dass Euch der Tod be­vor­steht?

– Ich habe Sie nicht um Gna­de ge­be­ten.

– Seid Ihr Sol­dat ge­we­sen?

– Zu mei­ner Zeit, ja. Au­ßer­dem habt Ihr mei­nen Va­ter ge­tö­tet, er war Sol­dat un­ter dem ers­ten Kai­ser. Und mei­nen jüngs­ten Sohn François, den habt Ihr ver­gan­ge­nen Mo­nat bei Evreux ge­tö­tet. Was ich Euch schul­dig war, ist nun be­zahlt. Wir sind jetzt quitt.

Die Of­fi­zie­re blick­ten sich an.

– Acht für mei­nen Va­ter, fuhr der Alte fort. Acht für mei­nen Sohn. Nun sind wir quitt. Ich habe den Streit mit Euch nicht ge­sucht. Ich ken­ne Euch nicht. Ich weiß nicht ein­mal, wo Ihr her seid. Ihr seid zu mir ge­kom­men und schal­tet in mei­nem Hau­se, als ob es bei Euch wäre. Ich habe mich für al­les ge­rächt. Ich be­reue nichts.

Der Alte rich­te­te sei­nen stei­fen Kör­per auf und kreuz­te die Arme, wie ein schlich­ter Held.

Die Preu­ßen spra­chen lan­ge mit ge­dämpf­ter Stim­me. Ein Haupt­mann, des­sen Sohn im letz­ten Mo­nat gleich­falls ge­fal­len war, ver­tei­dig­te die­sen ar­men Teu­fel.