Anna Knabe - ein "ausgefallenes" Leben

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Anna Knabe - ein "ausgefallenes" Leben
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INHALT

IMPRESSUM 2

VORWORT 3

LAGER PIETERMARITZBURG 5

RÜCKKEHR NACH LÜDERITZBUCHT 44

RINGSTRASSE NACH RÜCKKEHR 47

ANKUNFT IN NIEGRIPP 70

NEUANFANG: BERLIN-STEGLITZ 79

GERDAS VERLOBUNG 95

RÜCKFAHRT GROSSGLOCKNER-NIEGRIPP-BERLIN 100

HOCHZEIT HEINZ UND GERDA 1939 108

SOLDATENEHE 114

REISE IN DAS LIPPERLAND 1950 159

IMPRESSUM

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2022 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99131-286-4

ISBN e-book: 978-3-99131-287-1

Lektorat: Laura Oberdorfer

Umschlagfoto: Günther Kücke

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

VORWORT

Dieses Buch besteht aus Erinnerungen an die Gespräche mit meiner Großmutter Anna Knabe geb. Ohk. Sie sind entstanden nach Aufforderungen namibischer, südafrikanischer Freunde und Farmnachbarn, die von uns wissen wollten: „Warum kommt ihr immer wieder nach Südafrika und kennt euch in Namibia so gut aus?“ Dann war unsere Antwort immer: „Wollt ihr die kurze Form hören, dass ist diese: Wir wollen in einem wunderschönen Land, in der Nähe des Indischen Ozeans bei schönem Wetter mit freundlichen Nachbarn dem deutschen Winter entfliehen.“ „Wenn ihr aber Zeit habt, dann wollen wir gerne die ganze Geschichte von den Großeltern ausführlich erzählen, die erst nach Swakopmund und dann nach Lüderitzbucht im früherem Deutsch-Südwestafrika dem heutigem Namibia kamen, um dort ihre Familie zu gründen.“ So hörten die Jüngeren interessiert zu, um neues aus ihrer eigenen Geschichte zu erfahren. Die Älteren hatten zum Teil selbst Wurzeln in Südwestafrika oder sie hatten dort schöne Urlaubserinnerungen. Fast immer saßen wir dann lange beieinander. Am Schluss der Geschichte hieß es immer: „Warum schreibst du diese Geschichte nicht auf?“ … Da saß ich dann vor einigen Jahren an regnerischen Tagen im eigenen, selbst erstellten Haus auf unserer Farm in der East-Cape-Province (Südafrika) mit Kugelschreiber, daneben ein Paket A4 Papier, um die Erzählungen meiner Großmutter und Mutter aufzuschreiben. Auf dem nächsten Flug hatte ich dann schon einen Laptop mit, aber das Schreiben ging für mich nicht schneller, da ungesicherte Daten immer wieder verloren gingen. Um gelöschte Texte im Laptop „wiederzubeleben“, rief ich dann meine Frau zur Hilfe, die dann fragte: „Was hast du denn als Letztes gemacht?“ – Ich wusste es nicht …

Im Laufe der Zeit des Schreibens wurde mir bewusst, dass mein eigener Lebensverlauf wesentlich anders verlaufen wäre, hätte nicht Anna Knabe mit 75 Jahren die resolute Entscheidung getroffen im März 1961 aus Niegripp an der Elbe wieder nach Berlin-Steglitz (West-Berlin) zurückzugehen. Darauf ist meine Mutter Gerda in Begleitung von mir im Juli 1961 ebenfalls nach West-Berlin „umgesiedelt“. Die Aufarbeitung meiner eigenen Geschichte, mit abgeschlossener Ausbildung zum Spitzendreher mit Internatsunterbringung in einem „volkseigenem Großbetrieb“ in Magdeburg, war 1961 Grundlage meines Neustarts in Berlin-Steglitz, Abschluss des Berufes bei der Telefunken AG, Fachschulreifeprüfung, Ingenieurstudium an der Ingenieurschule Beuth Berlin, mit anschließender Berufskarriere in einem Großbetrieb in Ostwestfalen.

So begeisterungsfähig man beim Schreiben auch wird, so überlegt man auch, ob diese Geschichte auch andere Personenkreise interessieren könnte. Für mich persönlich ist es eine Genugtuung der Herausforderung nachgekommen zu sein, aufgeschrieben zu haben, wie die jeweilige politische Macht der deutschen Politik bis in die kleinste Zelle der Familie, besonders in die der Knabes und der Kückes, hineinregierte, mit deren Schicksal spielend …

LAGER PIETERMARITZBURG

Was fliegt einem im Kopf herum, wenn man 70 Jahre alt geworden ist und die Mutter mit 101 Jahren das Zeitliche gesegnet hat und 2013 verstorben ist. Da fällt mir ein, dass mit ihr auch die Geschichte ihrer Mutter, also meiner Großmutter, verloren geht. Ihre Geschichte aber ist viel zu interessant, um nicht erzählt zu werden. So will ich ihren Lebenslauf schildern, der auch den meinen vorbereitete.

Der 1871 beendete Krieg gegen Frankreich war für die deutschen Kleinstaaten mit einem Erfolg beendet worden. Die Franzosen hatten Reparationen zu erbringen, die Gefangenen waren billige Arbeitskräfte. Der Preußenkönig wurde zum Kaiser aller Deutschen ausgerufen und die sogenannte Gründerzeit begann, ohne sich selbst so zu benennen. Die in Deutschland vorhandenen Bodenschätze begannen mehr und mehr in den Fokus der Begehrlichkeit zu gelangen. Gießereien für Industrieerzeugnisse und Denkmäler hatten einen großen Hunger an Steinkohle, was wiederum ersatzweise der Braunkohle für minderwertigere Zwecke zum Erfolg verhalf. Dampf betriebene Bagger- und Förderanlagen ließen den Bedarf an Flächen in den Braunkohletagebauen südlich von Helmstedt schnell wachsen. An Sedantagen und Heldengedenktagen fuhr der Herzog von Braunschweig in seiner Kutsche zu den Feierlichkeiten, diesmal auch in die kleine Gemeinde Reinsdorf und bescherte den Kindern schulfrei. Unter Hochrufen der Schulkinder fuhr der Herzog durch das Spalier weiß gekleideter, mit einem Eichenlaubkranz geschmückter Mädchen und unternehmungslustig aussehender Schuljungs, die ihre bebänderten Matrosenmützen übermütig in die Höhe warfen. Doch zum Schwarz-Weiß-Rot geschmücktem Kriegerdenkmal, an dem jedes Jahr „Heil dir im Siegerkranz“ intoniert und gesungen wurde, ging Anna Sophie Elise Ohk diesmal nicht. Sie hatte als Älteste den Auftrag, ihre ein Jahr jüngere Schwester Hermine und die beiden noch jüngeren Brüder Franz und Otto nach der Huldigung nach Hause zu begleiten. Zum Feiern gab es für die Ohks keinen wirklichen Grund. Im Frühjahr starb unerwartet der Ehemann, Vater und Ernährer, im Sommer wurde es öffentlich, dass das Haus der Ohks zu denen gehört, die in Reinsdorf dem südlichen Tagebaugebiet von Helmstedt weichen müssen. Der Umstand des Jahrhundertwechsels von 1899 auf das Jahr 1900, der bevorstand, war angesichts der privaten Sorgen sehr überschaubar, das Geld für die Entschädigung reichte für die Anmietung einer Wohnung in Büttenstedt, aus der dann dem Alter nach alle vier Kinder aus der Heimat zogen und ihr Lebensglück in anderen Regionen machten.

Anna, meine spätere Großmutter, ging als Erste mit 14 Jahren „in Stellung“. Sie ging, um die feine Küche zu lernen, in einen Gastbetrieb in das aufstrebende Bad Helmstedt. Von hier aus konnte man mit der Verabredung mit transportierenden Fuhrwerken dann auch mal zur Mutter nach Büttenstedt kommen. Dicke anspruchsvolle Kochbücher waren bald ihre Wegbegleiter, in denen alle paar Seiten Zettel mit Notizen eingehängt waren, die bestimmte Hinweise auf Verbesserungen oder selbst gemachte Erfahrungen enthielten. Ihre Einigkeit von Handeln und Tun zu brillieren, war wohl auch dem Dienstherren aufgefallen, ein sehr gut zubereitetes Mal aus der Küche servieren zu lassen. Der dankte dann auch dafür, mit einer überaus freundlichen Empfehlung für den nächsten Dienstherren. Anna war mittlerweile 18 Lenze alt und ging einer Anzeige nach, in der eine versierte Wirtschafterin mit Kochkenntnissen gesucht wurde. Dies kam ihrem Wunsch nach Veränderung sehr entgegen. Sie musste nur die Region wechseln von der Braunschweiger Seite in die Börde nach Preußen.

Neuwegersleben war ein kleiner aufstrebender Ort, der nach den Wüstungen im späten Mittelalter wieder Landwirte gefunden hatte, die den Wert des Bördebodens für die Nutzung wiederentdeckt hatten, worauf diese sich um den vorhandenen Gutshof wieder ansiedelten. Einen direkten Gleisanschluss an die Bahn gab es nicht, aber die vorhandene Telegrafenstrecke mit den verstellbaren Zeigern, die dann Buchstaben und Zahlen wiedergaben, um so eine Nachrichtenverbindung mit vielen Stationen zwischen Berlin und Koblenz übermittelten. Dies war Grund genug einen Stolz der Neuwegersleber hervorzurufen und entsprechend den zugehörigen Beamten ihrerseits einen Bonus an Respekt zu zollen. Schließlich waren sie diejenigen, die aus den „geheimnisvollen Stellungen“ der Zeiger die übermittelten Nachrichten kannten.

Ohne eine Vorankündigung fuhr Anna mit Zeitungsanzeige, zwei Koffern und viel Selbstvertrauen mit der Bahn nach Oschersleben, um am gleichen Nachmittag mit einem Fuhrwerk nach Neuwegersleben zu kommen. Im dortigen Gasthof konnte sie eine Unterkunft bekommen, somit konnte sie gleich die Atmosphäre im Gastraum kennenlernen, die für sie in einigen Jahren noch vertrauter werden sollte. Für sie gab es aber nur ein Ziel, am nächsten Morgen ausgeschlafen zur Vorstellung für ihre Anstellung auf dem Gutshof aufgeweckt zu erscheinen. Der Verwalter übernahm das Einstellungsgespräch gut gelaunt, worauf er dann das Küchenpersonal vorstellte, für das Anna nun die Führung übernehmen sollte. Der Verwalter verließ die Küche im Untergeschoss, offensichtlich hatte er die Order erhalten, bei einer positiven Entscheidung das Gepäck von der Gaststätte zu holen und Anna konnte sich in dem ihr zugeteilten Zimmer einrichten. Der Hofknecht wartete bereits vor den Stallungen des Vierseitenhofes, der ursprünglich als Vorwerk diente, die Hofeinfahrt lag genau gegenüber des imposanten Wohnhauses. Beim Rundgang mit dem Knecht durch die Stallungen gesellte sich auch der Verwalter zu den beiden und rundete das Tätigkeitsgebiet Annas dahingehend ab, dass es auch bei anstehenden Schlachtfesten ihre Aufgabe sein würde, den momentanen und späteren Bedarf der Küche vorauszuplanen in Abstimmung mit dem jeweils ausführenden Schlachter. Das war ein neues Tätigkeitsfeld für Anna, aber von dieser Minute an waren der Anblick eines Kalbes, Rindes oder Schweines sofort mit den Zerlege-Tafeln aus ihrem Kochlehrbuch überzogen.

 

Es war aber zunächst erst einmal Herbst, jetzt ging es darum Frühstück, Mittagbrot und Abendbrot zuzubereiten aus den Vorräten, die der Vorgänger hinterlassen hatte. An frischem Fleisch kam für die geladenen Gäste und dem als Gastgeber fungierenden Gutsherren nun Wildbret von den vorangegangenen Jagden auf den Tisch. Die Zubereitung von Fasanen, Rehrücken oder deftigem Wildschweinbraten müssen legendär gewesen sein, denn die Lobgesänge des Gutsherrn darüber haben Anna bei Erzählungen bis ins hohe Alter begleitet. Der Gutsbesitzer lebte als Junggeselle auf dem Hof, was die Selbständigkeit in Bezug auf die Küchenführung wesentlich erleichterte. Die Formung zur selbstbewussten Persönlichkeit meiner Großmutter führe ich auf diese Zeit zurück.

Weihnachten stand vor der Tür, die Gästeliste wurde besprochen, Anna war wie inzwischen selbstverständlich für die Menüfolge verantwortlich. Der Speiseplan und die Folge wurden festgelegt, die Wahl für das Hauptgericht fiel auf gebratenen Puter. Es waren im Wesentlichen Männer geladen, die wie der Gutsherr selber auch, bei dem Garderegiment der Ulanen in Potsdam dienten oder gedient hatten.

Die Puter wurden geschlachtet, vorbereitet zum Garen, um dann endgültig im Bräter mit entsprechenden Gewürzen perfekt auf der Tafel angerichtet zu werden. So weit war es aber noch nicht, denn während die stolzen Ulanen in ihren wunderschönen Uniformen mit Schleppsäbeln vormittags den Weihnachtsgottesdienst besuchten, war die Gutsküche in höchster Anspannung die vereinbarte Speisefolge zu gewährleisten. Die Nachspeisen standen bereits aufgereiht in einem Vorraum zur Küche, die Vorsuppe köchelte auf dem Herdfeuer bereit in die Terrinen eingefüllt zu werden, Rotkohl und Erbsen mit Möhren waren als Beilagen vorbereitet worden. Ein Puter war bereits in der Backröhre, der zweite sollte in einem weiteren Topf zubereitet werden, der aber nicht ganz so hoch war wie der erste. Anna merkte, dass die beiden Küchenhilfen sich redlich bemühten den zu großen Vogel in den zu kleinen Bräter zu bekommen. Sie wies die beiden zur Seite, schob ihre Ärmel hoch, drückte mit aller Kraft den Brustknochen des Puters nach innen, der mit einem Krachen nachgab. Proportional, wie der Brustumfang des hilflosen Tieres sich verkleinerte, vergrößerte sich der Brustumfang von Anna, worauf ihr weiß berüschtes Küchenkleid vom Kragen bis zum Rückenende mit dem gleichen Geräusch platzte. Wenn sie uns diese Geschichte später erzählte, sehe ich immer noch vor Lachen ihren Bauch hüpfen. Der Diener, der sich zu besonderen Anlässen um die Gäste kümmerte und das Servieren von Getränken und Speisen übernahm, kam aus Neuwegersleben, er aber gehörte nicht zum ständigen Personal. Gleichzeitig aber war er der Verbindungsmann zwischen den Bauern und den nicht so informierten Kreisen der im Gut verkehrenden Herren mit deren Gästen. Also konnte es nicht verkehrt sein, die nun in der unteren Etage bereits belachte Geschichte dem Gutsherren zu zutuscheln. Der nahm die Geschichte sofort auf, um diese zum Besten zu geben. Ein höfliches Gelächter brandete auf, nur Hermann Knabe, dessen Anwesenheit hier nur der Tatsache geschuldet war, dass er vom Gutsherren zu den Ulanen nach Potsdam empfohlen worden war. Er gehörte zu den acht Junggesellen, die auf Einladung gekommen waren. Alle gehörten zum Potsdamer Regiment, wenn auch in unterschiedlichen Ausbildungsrängen, was auch hier im Privatleben seine Fortsetzung fand. So langweilte sich Hermann mit den auch als Gäste geladenen, vier, älteren Ehepaaren. Mit der Geschichte im Ohr ging er unauffällig in den Hof und blickte in die Fenster der Küche, um die Geschichte mit dem zerplatzten Kleid, welche in seiner Fantasie bereits bildhaft vor ihm stand, real werden zu lassen. Obwohl im Dunst der nur sparsam beleuchteten Küche die hin und her eilenden Frauen nur schwer einzeln auszumachen waren, konnte Hermann erkennen, dass nur eine des Küchenpersonals eine Arbeitsschürze normal umgebunden hatte und eine zweite den Rücken bedeckend trug. Dieser gelebte Pragmatismus machte Hermann neugierig, so ging er die Stufen zum Eingang der Küche hinunter, um einzutreten. Die Tür öffnete sich aber gleichzeitig von innen und Anna trat mit einem Eimer Gemüseabfällen heraus, der üblicherweise im Hof in der Nähe des Misthaufens ausgekippt wurde, um am nächsten Tag Nahrung für das Federvieh herzugeben. Sich gegenseitig entschuldigend sahen sich beide an. Die Selbstverständlichkeit von Anna mit Resolutheit in ihrem „Reich der Küche“ nicht einzuknicken vor einem schneidig uniformierten Garde-Ulanen, fand er eindrucksvoll. Die unnötige Frage nach der zweiten Schürze war zwar überflüssig, aber löste den Beginn eines langen Gesprächs aus. So konnte Anna Hermann gegenüber ihre Herkunft nicht verheimlichen, denn im Bereich Schöningen, also auch in Reinsdorf, beginnt sprachlich bereits die Gegend mit dem Dialekt der „sspitzen Ssteine“, welcher auch noch bis ins hohe Alter mit Stolz von ihr so gesprochen wurde. Man stellte sich kurz vor und Anna erzählte ihren Lebensweg bis in die Küche des Gutshauses. Hermann erzählte trocken den seinen und es stellte sich für Anna interessiert heraus, dass er ein Bauernsohn aus Neuwegersleben war, als ältester von zehn Geschwistern die Hoferbfolge aber nicht antreten wollte. Das Gespräch wurde unterbrochen vom Diener, der im Vorbeigehen höflich bat, dass Herr Knabe schon im Schachzimmer bereits erwartet würde, um mit dem Herrn eine Partie Schach zu spielen. Unter vier Augen brachte Hermann das Gespräch zu Ende mit der Feststellung, wenn sie ohnehin alleine ist und der Dienstplan der Küche es möglich machen würde, Silvester bei Knabes im Kreise der Familie zu verbringen. In den Planungsgesprächen zum Dienst waren schon die Einteilungen der Arbeiten über die Feiertage für jeden festgelegt worden. Im Gut würde es ruhig zugehen, da der Herr selbst als Gast auswärts eingeladen war und so musste die Küche nur für die Bediensteten auf „kleiner Flamme“ kochen. Anna hätte Silvester frei. Nach diesem Angebot zu dieser Zeit hätte sie die Augen niederschlagen und errötend das Angebot ausschlagen müssen, sie aber hielt dem Blick ihrer neuen Bekanntschaft stand und sagte spontan zu.

Am Silvesternachmittag holte Hermann sie ab und erklärte ihr das Dorf. Zuhause war die Familie Knabe am Kaffeetisch und Anna wurde vorgestellt, die große Tischrunde nahm die „Beschnupperung“ wohlwollend auf. Die anschließende Hofbesichtigung wurde von dem jungen Paar selbst unternommen und so konnten beide bei der Gestaltung der Unterhaltung gegenseitige Sympathie erkennen lassen. Die Silvesternacht in das Jahr 1904 wurde inmitten der Feiernden zu einem unausgesprochenen Versprechen, sich für die Zukunft zu binden. Am Neujahrstag wurde Hermann mit dem „Zerbster“ Wagen zur Bahn gebracht, da für ihn am 2. Januar der Dienst in Potsdam wieder begann. Als Ulan hatte er seine ein wenig protzige Uniform mit Schleppsäbel an, was aber nicht der einzige Grund war seinen jüngeren Bruder zu Bitten noch am Gut vorbeizufahren, um sich von Anna zu verabschieden. Bei der Gelegenheit wurde ein Treffen beim nächsten Heimaturlaub vereinbart. Der militärische Dienst hatte seine eigenen Gesetze. Die Verbindung bestand vorerst aus Briefen, die mit immer neuen Hoffnungen eines Heimaturlaubs verbunden waren. Anna machte inzwischen die Küche zu ihrer Passion und spickte ihr Kochbuch der feinen Küche mit handgeschriebenen Zetteln, auf denen Erfahrungen, aber auch neue Rezepte standen. Das Wiedersehen mit Hermann gestaltete sich immer schwieriger: Immer, wenn Hermann dienstfrei hatte und eine Bahnfahrt nach Neuwegersleben plante, wurde Anna dringend in der Küche des Gutes gebraucht.

Im deutschen Kaiserreich herrschte zu dieser Zeit Aufbruchstimmung: Die kaiserliche Marine hatte großen Bedarf an Schiffen, die Nachrichten gingen per neu entwickelter Telefonie und Telegrafie schneller um die Welt. Bodenschätze wurden mit Frachtschiffen in das Reich und damit in ihre Industriegebiete geschafft, die Arbeiter zogen der Arbeit nach, das Wachsen der Städte war die Folge. Die deutschen Kolonien trugen seit 1884 mit der Festlegung international anerkannter Grenzen (Berliner Konferenz) ebenfalls dazu bei, das Nationaleinkommen zu vergrößern. Da kam schlechte Kunde aus der Kolonie „Deutsch-Südwestafrika“: Nach Jahren rücksichtsloser Anwendung deutschen Rechts und Gerichtsbarkeit mit zugehöriger Verwaltung, besonders bei den Landvermessungen mit Eintragungen in die Katasterpläne mit anschließender Zuordnung an zahlende, deutsche Eigentümer zur Verwendung als Farmen, war sehr schnell Ausgangspunkt von Konflikten. Jahrhunderte lang waren es die angestammten Völker gewohnt, sich den Gesetzen der Natur unterzuordnen und nicht nur den Jahreszeiten zu folgen. Vielmehr folgten sie den Regenfällen mit dem Gespür des Bedarfes an Wasser für Mensch und Tier, dabei das nachwachsende Gras suchend. Wie sollte ein Hirte, der auf den Pfaden seiner Väter und Großväter seine Rinder hütete, Respekt vor einem ihm nicht bekannten Recht entwickeln, was ihn durch die neuen Eigentümer als Gesetzesbrecher brandmarken, welches durch Polizei oder Selbstjustiz durchgesetzt werden würde. Die Folge davon war, dass zunehmend brutale Überfälle auf Farmer, Polizeiposten und außenliegende Militärstationen der Deutschen Schutztruppe organisiert und durchgeführt wurden. Die beamtete Kolonialführung und die einschlägige Presse nahmen sich dieses Themas an. In Berlin berieten Kaiser und Militärführung wie man dieser Lage begegnen könne. Das Ergebnis war ein Aufruf an das dienende deutsche Militär, sich freiwillig zur Schutztruppe zu melden.

Dieser Aufruf kam auch zu den Garde-Ulanen in Potsdam und bei Hermann Knabe fiel dieser aus zwei Gründen auf allergrößtes Interesse. Im Kasernendienst war der schneidige Soldat mit hellblau strahlenden Augen einem vorgesetzten Leutnant aufgefallen, der auch dem Kreis der geladenen Gäste im Gutshof zu Neuwegersleben angehörte. An der Art und Weise wie er sich Hermann näherte wurde ihm klar, dass dieser Mann auf der Suche nach einem homosexuellen Abenteuer war. Abgesehen davon, dass zu jener Zeit eine Vorstellung von gesetzlichem Ungehorsam im Militärdienst, aber auch eine gedankliche Widerwärtigkeit mit gleichgeschlechtlichen Verkehr verbunden war, kam in Hermann der Verdacht auf, die Überschneidungen der nicht genehmigten Urlaube vom Truppendienst einerseits, mit den Kücheneinsätzen von Anna im Gutshaus andererseits, nicht zufällig waren.

Die Verbindung von Anna zur Familie Knabe hatte sich inzwischen gut entwickelt und so traf man sich sonntags vor oder nach der Kirche. Bei der Gelegenheit erfuhr Anna, dass Hermann Ostern zu Hause sein würde. Sie war zum Osterfest nach Abstimmung mit ihrem Dienstherrn bei Knabes eingeladen. Energisch setzte sie sich durch, um den Ostermontag, an dem im Gut keine Einladungen anstanden, freizubekommen. Am Ostermontag, nach dem Essen, machte die große Familie Knabe einen gemeinsamen Spaziergang durch die Felder. Von Anfang an liefen Hermann und Anna gemächlichen Schrittes hinterdrein. Es lag eine Spannung zwischen den beiden in der Luft, dass sie merkte, es musste ein wichtiges Ereignis bevorstehen. Die Spaziergänger waren längst hinter dem nächsten Hügel verschwunden, da holte Hermann sprachlich weit aus und erklärte ihr der Reihenfolge nach, dass eine Übernahme des Hofes, entgegen dem Wunsch des Vaters, für ihn nicht infrage kommt. Des Weiteren würde er seinen Dienst in Potsdam quittieren, um dem Aufruf zum Eintritt in die Schutztruppe nach „Deutsch-Südwestafrika“ zu folgen. Die Sache wäre der Dringlichkeit halber in Kürze zu entscheiden und er selbst habe die Frist bis Mittwoch nach Ostern einzuhalten, es würde aber jetzt an ihr liegen, ob sie sich mit ihm als verlobt betrachten wolle und ihn nach der Rückkehr aus Afrika heiraten wolle. PUNKT. Anna hatte sich in ruhigen Nächten vieles vorgestellt, aber jetzt war sie überfordert, weder im Stande Ja noch Nein zu sagen. Hermann war geschickt genug das Thema zu wechseln und die schöne, frühlingshafte Natur zu langen Monologen zu nutzen, um am Ende wieder zur Landschaft von Süd-West Afrika zurückzukommen, von denen er selbst nur traumhafte Bilder gesehen hatte. Auch Ansichtskarten als kolorierte Fotos, die von bereits in die Kolonien verlegten Reitern geschickt wurden, hatten ihren Eindruck hinterlassen. Nichts konnte ihn aufhalten … Das sonst so fröhliche Fest bei Knabes verlief im Gegensatz an diesem Ostermontag sehr ernst, aber alle spürten den Willen von Hermann sich bei der Schutztruppe nach „Deutsch-Südwestafrika“ als Reiter zu melden und am späten Abend war jeder mehr oder weniger mit dem nötigen Trost ausgestattet, innerlich und äußerlich zuzustimmen. Den letzten, aber ausschlaggebenden Grund mit dem zudringlichen Vorgesetzten behielt Hermann für sich, schon, um im Dorf nicht Anlass von Gerede zu sein. Der Weg zurück zum Gutshaus wurde von Hermann und Anna schweigend zurückgelegt und endete schlicht und einfach ähnlich der Grundsatzfrage vor dem Traualtar „Anna, willst du auf mich warten?“ Auf dem schweigsamen Teil des Nachhauseweges hatte Anna längst auf eine solche Frage gehofft und antwortete mit einem entschlossenem „Ja“ … Von nun an bekam die Zeit „Flügel“ bis zum Tag der Abreise nach Bremerhaven zum Transportschiff für Truppen, Pferde und Material nach „Deutsch-Südwest“. Im Lauf der Vorbereitungen lief die Zeit sehr schnell. Für die militärische Führung wurde die Lage im Hereroland immer ernster und so drängte man auf Eile. Für Hermann reichte es nur noch zu einem Kurzbesuch in Neuwegersleben. Er hatte seine Reiteruniform der Schutztruppe schon an und sah mit seinen gelbfarbenen Reitstiefeln, den Cordhosen, der mit dem weiß-gefüttertem Stehkragen versehenen Uniformjacke und dem grauen rechts aufgeschlagenem Riesenhut, mit schwarz-weiß-roter Kokarde unübertrefflich aus. Heute würde man diese Uniform nur der fantasievollen Gestaltung eines Kostümbildners zuordnen, damals war sie äußerliche Präsentation vom kaiserlichen Deutschland gegenüber den Völkern, die sich der Einführung des „Deutschen Wesens“ entgegenstellten. Eigenartiger Weise haben Nachahmungen dieser Uniform ausgerechnet bei dem durch das deutsche Kaiserreich so geschundene Volk der Herero überlebt, denn jedes Jahr bis heute werden am Tag der Herero in Okahandja/Namibia Paraden in diesen Ausstattungen durchgeführt.

 

Anna aber war ein wenig enttäuscht, dass Hermann ihr nur ein in Berlin beim Fotografen gemachtes Foto in der Ulanen-Uniform beim Abschied hinterlassen hatte. Wie viel mehr hätte doch ein Bild mit einem verwegenem Schutztruppenreiter ausgemacht, auf den man wartete. Anna schenkte ihm zum Abschied ein Bild von sich, welches sie eigens für Hermann bei einem Fotografen in Helmstedt anfertigen ließ. Nun hieß es Abschied nehmen. Knabes brachten Hermann mit kleinem, persönlichem Gepäck zur Bahn, die militärische Ausrüstung war bereits von Potsdam aus Richtung Bremerhaven mit der Bahn unterwegs. In Bremerhaven wurden die Reiter zusammengestellt, sodass diese auf die Schiffe kamen, die mit Decks für den Pferdetransport eingerichtet waren. Dadurch kamen diese als Erste an Bord, um sich die besten Kojen-Plätze auszusuchen, die nachrückenden Infanteristen mussten die kleineren, übriggebliebenen Plätze einnehmen. Die Schiffe waren mit Dampfmaschinenantrieb ausgerüstet, hatten aber auch Einrichtungen, um zusätzlich Segel zu setzen. Normalerweise fuhren die Schiffe Teneriffa an, um Kohle für die Weiterfahrt nach Swakopmund zu bunkern und Proviant aufzunehmen. Je nach der Großwetterlage konnte eine Fahrt vier bis fünf Wochen dauern. Hermann war froh Reiter zu sein, ihre Aufgabe war gleichzeitig die ihnen zwar fremden, aber anvertrauten Pferde zu füttern, tränken und in der ungewöhnlichen Situation beruhigend auf diese einzuwirken. Die Infanteristen vertrieben sich die Tage mit Kartenspiel, Stumpfsinn, tranken Bier und Rotwein oder lasen Bücher, die an Bord zur Verfügung gestellt wurden. Hermann hatte eine große, ausziehbare Plattenkamera, die in einer großen Ledertasche verstaut war in seinem Privatgepäck und so machte er sich mit ihr und der Handhabung vertraut. Nach viereinhalb Wochen kamen eines Morgens endlich immer mehr Möwen aus Fahrtrichtung des Schiffes in Sicht, schon wenig später tauchte aus dem tief liegenden Dunst die Küste auf. Es waren einige Steinhäuser zu sehen, aber zum Hafen hin dominierten lange Wellblechhallen, die zum Lagern von angelandeten Gütern dienten, aber auch als Unterkünfte für die Schutztruppler dienen sollten. Der Hafen war bei näherem Hinsehen gar keiner, sondern in angemessener Entfernung ankerte das Schiff auf Reede und die soldatische Ordnung musste wieder Einkehr halten, um ein geregeltes Ausladen und Umsteigen in die kleinen Leichter zu organisieren. Diese hatten seitlich zur Landseite hin festgemacht, die Matrosen mussten nun durch geschicktes Anziehen oder Nachgeben der Leinen den unterschiedlichen Hub von dem Dampfsegler und Kleinschiff ausgleichen. Die Infanteristen waren als Erste angetreten, sie stiegen als Erste aus. An den Bordseiten saßen Hafenarbeiter, die den Kuttern auf dem Weg zum Land mit den Wellen tüchtig Fahrt verliehen. Für die Reiter begann nun das Ausschiffen der Pferde. Zu diesem Zweck machten Fähren ähnliche auf leeren Fässern schwimmende Gerüste mit Bodenplanken am Schiff fest, um über eine höhenregulierte Rampe die Pferde unter beruhigendem Zureden so dicht wie möglich zusammengedrängt aufzustellen bzw. anzubinden. Eine Seilwinde zog nun die lebende Fracht Richtung Strand. Die Fähre setzte irgendwann auf Grund auf, die Sperrbäume wurden zur Seite geschoben und die Pferde gingen an der Seite ihrer Reiter mit in die letzten Meter der Brandung, als spürten sie, dass das rettende Ufer so nah war. Die Infanteristen waren bereits abgerückt, die Reiter nahmen ihre zugeteilten Pferde und machten sich auf den Weg zu der Wellblechkaserne, die vom Schiff aus schon so nahe zu sehen war, aber für die Männer noch eine gute Stunde beschwerlichen Weg bedeutete. An der Straße, es gab zu dieser Zeit nur die eine, verschafften sich die Neuankömmlinge einen Überblick. Es gab einige Baustellen auf denen dunkelhäutige Arbeiter Mauersteine auf die Rüstung schleppten. Dabei überwachte ein weißer Polier die Arbeit der mauernden, dunkelhäutigen Beschäftigten. Staunend nahm die Kolonne erste Eindrücke auf. Es war mittlerweile Mittagszeit, alle waren froh das Kasernentor zu durchschreiten, die Pferde verlustlos in der sandigen Koppel an einer langen Tränke locker anzubinden. Für das Fressen hatte man schon lange Krippen mit Hafer gefüllt, wo danach die Pferde von beflissenen, dunkelhäutigen Jungen dort hingeführt wurden. Die Männer hatten inzwischen ihre laute, witzige und anmaßende Art, die auf dem Schiff vorherrschend war, verloren. Jeder war damit beschäftigt, den Schweiß abzuwischen und mit den bereitgestellten Wasserbehältern seinen Durst zu löschen. Auch die Aufforderung, die abseits liegenden Aborte zu nutzen, wurde häufig wahrgenommen. Auf der Südseite des Gebäudes waren dicht an der Wand Tische und Bänke fest aufgebaut. Das erlaubte den Schutztrupplern beim Essen möglichst lange im Schatten zu sitzen, scheint doch die Sonne südlich des Äquators von Norden. Nach einiger Zeit hörte man laute Kommandos, die einem Ochsengespann galten, welches mit großem Getöse den Exerzierplatz erreichte. Geladen hatte es die Privatgepäckstücke der Schutztruppler, die nun angehalten wurden, nach Aufruf ihre Habseligkeiten aus der fernen Heimat entgegenzunehmen. Für viele begann hier ein neues unbekanntes Leben.

Am Nachmittag kam nach einer Ruhepause ein schon lange gedienter Leutnant in die Gruppe und stellte sich vor. Er gab eine Einführung in die allgemeine und die spezielle Lage des damaligen Deutsch-Südwestafrikas. Es kam viel herüber von Durchsetzung von Stolz, Tugenden, Gesetzen, Treue, Deutsches Kaiserreich und die Einzigartigkeit des richtigen Handelns gegenüber denen, die sich dagegen auflehnen und feige aus dem Busche mit Gewalt aufbegehren … (Leider sind uns diese Begriffe in anderen Zusammenhängen im letzten Jahrhundert mehrfach wiederbegegnet, ohne zu merken, dass bei genauem Hinsehen die Lebenslänge des Menschen nicht ausreicht aus Fehlern zu lernen, sondern sie immer zu wiederholen.)