Berliner Leichenschau

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Berliner Leichenschau
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Horst Bosetzky / Gunther Geserick

Berliner Leichenschau

Kleines Einmaleins des Mordens

Jaron Verlag

Prof. Dr. Horst Bosetzky alias -ky lebt in Berlin und gilt als »Denkmal der deutschen Kriminalliteratur«. Im Jaron Verlag veröffentlichte er eine Vielzahl von Krimis und anderen Büchern. Horst Bosetzky feiert im Februar 2013 seinen 75. Geburtstag.

Prof. Dr. Gunther Geserick, ebenfalls 1938 in Berlin geboren, ist Rechtsmediziner und emeritierter Universitätsprofessor. Von 1987 bis 2003 leitete er das Institut für Rechtsmedizin der Humboldt-Universität Berlin. U. a. erschien von ihm »Zeitzeuge Tod. Spektakuläre Fälle der Gerichtsmedizin«.

Originalausgabe

1. Auflage 2013

© 2013 Jaron Verlag GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin, unter Verwendung

eines Fotos der Bildagentur iStockphoto

Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

ISBN 9783955521806

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Es begann am Seziertisch …

Der Hakenmann von Krampenburg

Wie vom Blitz getroffen

Hang down your head, Tom Dooley

Friede seiner Asche

Ein seltener Fall von Bolustod

Im Gleisbett

Ohne Krimi geht die Kimmi nie ins Bad

Madenfraß

Keine Liebe ohne Leiche

Kennt Prof. Schwarz Tag und Stunde?

Es begann am Seziertisch …

von Horst Bosetzky

Es geschah am 11. April 2008 in München, und im Nachhinein könnte man meinen, der bayrische Horst habe dem Berliner Horst aus der Solidarität derer heraus, die mit diesem Vornamen geschlagen sind, ein kleines Geschenk machen wollen. Tatsache ist, dass mich Münchner Kolleginnen und Kollegen zu einer Lesung ins Institut für Rechtsmedizin an der Ludwig-Maximilians-Universität eingeladen hatten. Thema der Veranstaltung: Krimi-Autoren auf dem Seziertisch. Neben mir lasen zwei weitere Autoren. Gemeinsam waren wir vorher durch die Räumlichkeiten des Instituts geführt worden. Schön, so was kannten wir aus dem Fernsehen – neu für uns aber waren die ortsüblichen Gerüche. Am meisten Eindruck jedoch hinterließ der gerade fertige Anbau mit Kühlfächern für »dicke Leichen«. Mit meinen 71 Kilogramm hatte ich allerdings keine Chance, dort zu landen, also unterließ ich es, mich in München ermorden zu lassen.

Führung und Moderation oblagen Prof. Dr. Matthias Graw. Ich hatte beim Lesen seines Namens gedacht, er sei Engländer oder Amerikaner, aber dann hörte ich, dass man ihn »Herr Graf« nannte. Wie ein Pathologe sah er wirklich nicht aus, man hätte ihn eher für einen einfühlsamen Cellisten gehalten. Und außerdem ist ein Rechtsmediziner kein Pathologe, sondern wesentlich mehr, wie ich bald von Matthias Graw erfahren sollte.

Er war bei allem so amüsant, dass mir schon nach wenigen Minuten der Gedanke kam, ihn Helge Schätzel, dem Cheforganisator der jährlich stattfindenden Reinickendorfer Kriminacht, als Gaststar der 16. Veranstaltung vorzuschlagen. Unter der Überschrift Prof. Graw obduziert die Leichen des Herrn -ky wollte ich kurze Passagen aus einem meiner Romane oder einer Kurzgeschichte vorlesen – und Matthias Graw sollte dann darlegen, wie ein Rechtsmediziner die Kripo auf die richtige Spur bringt. Beispiel: Jemand wird erst mit einem Auto totgefahren und dann ins Wasser geworfen, um einen Badeunfall vorzutäuschen – wie kommt da später durch den Rechtsmediziner die Wahrheit ans Licht?

Im Bezirksamt Reinickendorf war man schnell von meiner Idee überzeugt, und am 12. November 2008 muss Matthias Graw und mir eine so überzeugende Performance gelungen sein, dass mich Helge Schätzel zweieinhalb Jahre später fragte, ob man das Ganze nicht wiederholen könne. Er habe da einen berühmten einheimischen Rechtsmediziner im Auge, Prof. Dr. Gunther Geserick, Nachfolger des legendären Otto Prokop als Leiter des Instituts für Rechtsmedizin an der Humboldt-Universität zu Berlin. Gunther Geserick war mir vor allem durch eine seiner vielen Veröffentlichungen recht vertraut ( Zeitzeuge Tod – Spektakuläre Fälle der Berliner Gerichtsmedizin, mit Klaus Vendura und Ingo Wirth, Leipzig 2001), und ich war begeistert. Seit der jahrelang erprobten Zusammenarbeit mit meinem Freund und Kollegen Jan Eik weiß ich, dass man die Seele Berlins nur richtig erfassen kann, wenn man die Sichtweisen der alten Ost- und der alten West-Berliner zusammenbringt. Und Gunther Geserick kam aus der Hauptstadt der DDR.

Zur Vorbereitung unseres gemeinsamen Auftritts bei der 19. Reinickendorfer Kriminacht am 12. November 2011 haben wir uns Ende September in einem kleinen Café in der Nähe des Bundesplatzes getroffen, denn ein erstes Telefongespräch hatte ergeben, dass wir beide in Wilmersdorf wohnen und derselbe Jahrgang sind, 1938 nämlich. Es war Sympathie auf den ersten Blick, und wir haben uns seither immer eine Menge zu erzählen. Ich schätze seine Profession, er meine, und außerdem üben Menschen, die sozusagen mit dem Tod auf Du und Du stehen, eine gewisse Faszination auf mich aus. Für mich war dieses Treffen ein ganz besonderer Glückstag, denn nun kann ich mir ganz sicher sein, nicht selbst ermordet zu werden: Jeder meiner potentiellen Mörder müsste ja damit rechnen, dass Gunther Geserick mich obduziert und der Kripo jene berühmten zweckdienlichen Hinweise liefert, die zu seiner Ergreifung führen.

Wer nun denkt, wir hätten an diesem Tage ganz spontan die Idee zur Berliner Leichenschau gehabt, der irrt, die hatte erst unser sehr verehrter Verleger Dr. Norbert Jaron, als er uns auf der Bühne in der Tegeler Humboldt-Bibliothek agieren sah. Unsere Zustimmung zu diesem Projekt kam spontan. Mein Part war es nun, ein Ermittlerteam zu entwickeln (den Ersten Kriminalhauptkommissar Gunnar Granow und seine Assistentin Theresa Marotzke) und zehn Kurzgeschichten auszubrüten, und Gunther Geserick hat dann, nachdem ich ihm die ersten Teile zugeschickt hatte (Tatbegehung und Erster Angriff der Kriminalbeamten), als Prof. Schwarz den Obduktionsbericht verfasst. Mit seiner Hilfe kommen nun Gunnar Granow und Theresa Marotzke dem Täter auf die Spur, und hat der dann ein Geständnis abgelegt, folgt am Schluss Gunther Geserick mit einer fachlichen Plauderei aus dem reichen beruflichen Erfahrungsschatz eines Rechtsmediziners. Die geneigten Leserinnen und Leser werden schnell erkennen, wer von uns beiden was geschrieben hat, um aber jeglichen Zweifel auszuräumen, sind die einzelnen Teile durch Sternchenzeilen abgetrennt.

Gunther Geserick und ich hoffen, dass Sie beim Lesen dieselbe Freude und dasselbe hohe Maß an Erkenntnisgewinn haben wie wir beide beim Schreiben.

Der Hakenmann von
Krampenburg

Peter Reinhalter hatte über vierzig Jahre lang in verschiedenen Berliner Finanzämtern Einkommensteuerbescheide bearbeitet und Tag für Tag von seinem Ruhestand geträumt. Nun war er Pensionär und konnte sich voll und ganz seiner großen Leidenschaft widmen: dem Wassersport. Was hatte er die Bücher von Herbert Rittlinger verschlungen! Der war mit seinem Faltboot auf der Rhône, der Drau, dem Euphrat und sogar auf dem Amazonas unterwegs gewesen. Reinhalter hingegen musste sich mit der Spree, der Dahme und dem Gosener Graben begnügen. Aber das Glück war auch hier zu Hause – und ertrinken konnte man hier genauso, wenn man nicht Obacht gab. Er war schon immer ein schlechter Schwimmer gewesen, doch als alter Seefahrer eine Schwimmweste umzubinden, empfand er als peinlich. Was hätten seine Enkel da gelästert! Um ihn zu warnen, erzählte seine Frau ihm immer wieder die Geschichte von einem Paddlerfreund, der wie einst Rittlinger alle wichtigen Flüsse der Welt befahren hatte, dazu die deutschen Boddengewässer und die halbe Ostsee – und der dann auf einem Dorfteich in Mecklenburg gekentert und ertrunken war. Nun, ihm würde das bestimmt nicht passieren!

Gemächlich paddelte er am Seddinwall vorbei, sah dann links die Gosener Berge, auf deren Gipfel früher eine Warte gestanden hatte und in deren Tiefen sich Markus Wolf einen Bunker hatte bauen lassen, der auch einer Atombombe widerstanden hätte – so hieß es jedenfalls. Ein Stückchen dahinter lag der endlose Schlauch des Oder-Spree-Kanals. Vor Reinhalter tauchten die beiden Inselchen auf, die Schmöckwitz von Seddinsee abschirmten, und er entschied sich, vom Seddinsee rechts in den Langen See einzubiegen, die Verbreiterung der Dahme. Nach einigen Paddelschlägen kam Krampenburg in Sicht, eine Halbinsel auf der Landzunge zwischen der Großen Krampe und dem Langen See. Gegenüber lag Schmöckwitz, mit dem Krampenburg durch eine Fähre verbunden war.

 

Müde vom stundenlangen Paddeln, ließ Peter Reinhalter sein altes Pouch-Faltboot mit dem Heck voran in den ansehnlichen Schilfgürtel gleiten. Das war zwar aus Gründen des Umweltschutzes verboten, doch er liebte es, seinen »Binsenbummler« auf diese Art zu parken, denn die Halme hielten das kipplige Gefährt so fest, als steckte es in einer Schraubzwinge. So konnte er sich lang ausstrecken, um zu dösen und zu träumen. Die paar Schrammen an der blauen Gummihaut, die dadurch entstanden, nahm er billigend in Kauf. Er war gerade dabei sich auszustrecken, als ein Schrei ihn hochfahren ließ.

»Hilfe, mich zieht jemand unter Wasser!«

Reinhalter griff sofort nach seinem Paddel, doch es vergingen einige Sekunden, ehe er sein Boot aus der Umklammerung des Schilfs befreit hatte. Sein Blick ging zu den beiden kleinen langgestreckten Inseln hinüber, die Schmöckwitz vorgelagert waren und die Namen Weidenwall und Werderchen trugen. Von Werderchens Spitze musste der Schrei gekommen sein. Seltsamerweise standen nirgendwo am Ufer Menschen, um Ausschau zu halten, weder auf den Grundstücken und vielen Stegen in Schmöckwitz noch am bewaldeten Ufer auf seiner Seite, also zur Gosener Landstraße hin, wo viele Zelte standen. Da sollte niemand etwas gehört haben? Reinhalter griff nach seinem Handy, zögerte aber noch, die Notrufnummer zu wählen. War er eben eingedöst und hatte nur geträumt, es würde jemand um Hilfe rufen? Er sah sich um. Nirgends gab es Kreise auf dem Wasser, und im Umkreis von gut zweihundert Metern war kein Sportboot zu sehen. Er gab sich einen Ruck. Nein, er war kein Spinner und hatte sicherlich keine Halluzinationen, er war ein durch und durch rationaler Mensch – und absolut nüchtern war er auch. Also wählte er die 110.

Gunnar Granow, 49, seines Zeichens Erster Kriminalhauptkommissar bei einer der acht Berliner Mordkommissionen, hatte als einfacher Schutzpolizist angefangen, war seinen Vorgesetzten durch besondere Leistungen, aber auch durch seine Aktivitäten in der Polizeigewerkschaft immer wieder aufgefallen und von ihnen zum Studium an die Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege, der heutigen Hochschule für Wirtschaft und Recht, geschickt worden, nachdem er sein Abitur an der Abendschule nachgeholt hatte. Er war stolz auf seine Lebensleistung und wollte gern zum Berliner Bildungsbürgertum gezählt werden. Er las viel, wobei die deutsche Geschichte sein Spezialgebiet war, und ging regelmäßig in die Oper oder ins Schauspiel, weil das ungemein schmückte. Er war verheiratet, hatte drei Kinder mittleren Alters und drückte sich gern vor deren Erziehung und jeder anfallenden Hausarbeit. Da seine Frau als Grundschullehrerin bis auf die Jahre des Mutterschutzes auch immer gut verdient hatte, waren sie vor einigen Jahren in der Lage gewesen, sich ein Reihenhaus in Kladow zu kaufen. Ihre Straße hieß An der Bastion, was Granow in seiner Preußenbegeisterung recht passend fand.

Wenn einmal nicht so viel zu tun war, wie heute etwa, las er am liebsten historische Kriminalromane – bevorzugt aus den Serien »Es geschah in Berlin« und »Es geschah in Preußen« –, wobei er die Taschenbücher jeweils aufgeschlagen in seiner Schreibtischschublade liegen hatte. Kam jemand zur Tür herein, konnte er sie schnell mit dem Bauch zudrücken, ohne dass derjenige etwas mitbekam. Fast alle Kolleginnen und Kollegen mochten keine Kriminalromane. Die waren ihnen zu wirklichkeitsfremd.

Gunnar Granow gegenüber saß die Kriminalassistentin Theresa Marotzke, 29 Jahre alt, blitzgescheit und geborene Neuköllnerin, was nicht zu überhören war. Allerdings beherrschte sie das meisterlich, was Soziologen code switching nannten, das heißt, sie konnte übergangslos vom restringierten in den elaborierten Code wechseln, also am Anfang eines Gesprächs furchtbar berlinern, um wenig später ein geradezu lupenreines Hochdeutsch zu sprechen. Vor einiger Zeit war sie wegen ihrer Lebensgefährtin nach Marzahn gezogen. Beide spielten Fußball beim 1. FC Neukölln. Theresa studierte gerade den Kicker.

Das Telefon klingelte, und sie seufzten laut ob dieser unverschämten Störung des Dienstbetriebes. Am Apparat war der Koordinator der Berliner Mordkommissionen.

»Setzt euch mal in Bewegung! In Schmöckwitz ist der Teufel los.«

»Wie, brennt’s mal wieder im Reifenwerk?«

»Nein, drüben in Krampenburg könnte einer ertrunken worden sein.«

Granow staunte. »Wie sollte das denn gehen?«

»Ein Paddler hat angerufen, und der will einen Schrei gehört haben: Hilfe, mich zieht jemand unter Wasser!«

»Wohl der weiße Hai von Schmöckwitz!«, spottete Granow. »Oder war es doch das Ungeheuer von Loch Ness, das schnell mal zu uns nach Berlin geschwommen ist?«

»Ist ja gut!«, erwiderte der Kollege und erzählte ihm dann alles, was er wusste. »Gefunden hat man noch niemanden, aber die Feuerwehr ist da, und Taucher suchen alles ab. Fahrt so schnell wie möglich hin! An der Schmöckwitzer Brücke wartet ein Boot der Wasserschutzpolizei auf euch und bringt euch rüber.«

Da es an einem Werktag zur Hauptverkehrszeit nicht ratsam war, von der Keithstraße mit dem Auto nach Schmöckwitz zu fahren, weil man auf den rund dreißig Kilometern nur von einem Stau in den anderen kam und spätestens auf dem Adlergestell in Gefahr geriet, Amok zu laufen, parkten Granow und seine Kollegin Marotzke ihren Wagen am Bahnhof Tiergarten und stiegen dort in die S-Bahn. Da es im Juli keine vereisten Weichen gab und zufällig auch nirgendwo der Strom ausgefallen war, erreichten sie nach 42 Minuten planmäßig den Bahnhof Grünau, wo sie in die Straßenbahn nach Schmöckwitz umstiegen. Die 68 galt als attraktivste Linie Berlins, und die Kommissare genossen den Ausblick auf den Langen See und die Müggelberge.

»Sightseeing im Dienst«, sagte Granow. »Wenn man uns dieses Vergnügen nur nicht vom Gehalt abzieht!«

In Schmöckwitz mussten sie von der Endhaltestelle der 68 bis zur Brücke nur ein paar hundert Meter laufen.

Schwärmend zitierte Granow ein paar Zeilen von Theodor Fontane:

Am Waldessaume träumt die Föhre, Am Himmel weiße Wölkchen nur; Es ist so still, dass ich sie höre, Die tiefe Stille der Natur.

»Abgesehen von den Lastwagen hier auf der Straße und den lärmenden Flugzeugen, die von Schönefeld kommen …«, fügte Theresa Marotzke hinzu.

Links unten vor der Schmöckwitzer Brücke, wo sich einst das legendäre Ausflugslokal »Zur Palme« befunden hatte, wartete das Polizeiboot und brachte sie nach 44 hinüber. Das war die Landzunge zwischen dem Langen und dem Seddinsee, die bei den Einheimischen so genannt wurde, weil hier die Tafel stand, die anzeigte, dass die Wasser der Dahme von ihrem Anfang bis zu dieser Stelle bereits 44 Kilometer zurückgelegt hatten.

Der Einsatzleiter der Feuerwehr begrüßte sie, konnte aber nur vermelden, dass man trotz aller Bemühungen noch niemanden gefunden habe.

»Und wo ist der Mann, der den Schrei gehört haben will?«, wollte Granow wissen. »Es ist der ältere Herr dort mit dem Faltboot. Reinhalter heißt er.«

Sie ließen sich von Peter Reinhalter erzählen, was er gehört hatte. Sein Bericht klang etwas merkwürdig, und sie gaben sich auch keine Mühe, ihre Skepsis zu verbergen.

Reinhalter zeigte sich leicht gekränkt. »Ich bin Beamter, das sollte Ihnen alles sagen. Und ich lese weder Kriminalromane, noch schreibe ich selber welche«, gab er zu Protokoll.

Granow lächelte. »Aber es gilt nun mal die alte Weisheit: Ohne Leiche kein Mord.«

Vom Spielplatz der Zeltstadt drang Kindergeschrei zu ihnen herüber. Theresa Marotzke fixierte Reinhalter. »Und Sie meinen nicht, dass die lieben Kleinen da Weißer Hai gespielt haben könnten?«

Der Finanzbeamte schüttelte den Kopf. »Nein, es war eine Männerstimme.«

»Es könnte ein Vater gewesen sein«, gab Granow zu bedenken. »Einer, der hier draußen mit seiner Familie Urlaub macht.«

»Ich habe aber keine Familie baden sehen, als ich aus dem Schilf raus bin.« Reinhalter blieb bei seiner Version.

Granows Handy dudelte. Es war abermals der Leiter der Berliner Mordkommissionen. »Eben hat mich die Vorsitzende des Ortsvereins Schmöckwitz angerufen – und weißt du, was die mir erzählt hat?«

»Nein, wie denn? Ich bin nicht vom Verfassungsschutz, ich höre nicht mit, wenn du telefonierst«, feixte Granow.

»Sie sagt, dass es in diesem und im letzten Sommer eine Reihe von Badeunfällen in und um Schmöckwitz gegeben hat, in der Großen Krampe, im Langen, im Zeuthener und im Seddinsee. Daraufhin habe ich bei der Zeitung angerufen. Das Ergebnis: Bislang sind drei Männer und zwei Frauen mit einem plötzlichen Aufschrei im Wasser versunken und Tage später tot am Ufer aufgefunden worden. Als Ursachen für ihr Ertrinken wurden genannt: überhitzt und nach üppiger Mahlzeit ins Wasser gegangen, Kreislaufschwäche, plötzliche Unterzuckerung und Überschätzung der Schwimmkünste.«

»Da siehst du mal«, sagte Granow, »nicht nur Rauchen kann tödlich sein!« Er beendete das Gespräch und berichtete seiner Kollegin von dem, was er eben gehört hatte.

»Dann fragen wir doch mal die Leute, die hier zelten, ob sie was gehört oder gesehen haben!«, entgegnete Theresa Marotzke eifrig.

Granow hatte keine Lust auf diesen kleinen Spaziergang, viel lieber wäre er zu Reinhalter ins Boot gestiegen und hätte sich ein wenig durch die Gegend paddeln lassen. Immer auf der Suche nach der Wasserleiche natürlich. Aber Theresa allein losziehen zu lassen, brachte er nicht über sich. Also machten sie sich gemeinsam auf den Weg und fragten alle, die sich unter ihren Vorzelten blicken ließen. Doch niemandem war etwas aufgefallen. Allerdings standen ihre Stoffdatschen auch nicht direkt am Wasser.

Keiner der Urlauber schien sich sonderlich für ihr Problem zu interessieren, und auch keiner machte den Eindruck, als würden ihm Berichte von Menschen, die in dieser Gegend rätselhaft ertrunken waren, Angst machen. Einige der Befragten machten sich sogar noch lustig über sie, so etwa ein Student, der das studierte, was früher Volkskunde hieß, und gerade dabei war, für seinen Bachelor eine Arbeit über Aberglauben zu schreiben. »Vielleicht war da ein Hakenmann am Werke«, erklärte er Granow.

»Ein was?«

»Ein Hakenmann. Ich habe im Rahmen meiner Arbeit ein Referat über Wassergeister gehalten, über den Nix, die Muhme und den Hakenmann, die ihre Opfer auf den Grund von Seen und Flüssen reißen und sie dort in ihren Wohnungen gefangen halten.«

Granow und Theresa Marotzke bedankten sich für diese Nachhilfestunde in angewandter Ethnologie und machten sich auf den Rückweg zum Hauptquartier der Rettungskräfte. Als sie dort ankamen, war immer noch kein Ertrunkener gefunden worden, und so wagte es Granow nun, Reinhalter wegen einer kleinen Bootstour anzusprechen. »Ich war früher selbst mal Paddler und würde mir gern für ein halbes Stündchen Ihr Boot ausleihen, um mich auf dem Wasser umzusehen.«

»Ick bin dabei!«, rief Theresa Marotzke.

Reinhalter hatte zwar ein wenig Angst, dass sie sein Gefährt beschädigen könnten, ließ sich dann aber doch erweichen. So legten sie ab, Theresa Marotzke vorn im Boot, Granow hinten. Und als echter Kavalier schwang nur er das Paddel, während sie sich zurücklehnen und die milde Abendsonne genießen konnte.

»Links haben wir die Kleine Krampe«, sagte Granow, nachdem sie ein paar hundert Meter dahingeglitten waren. »Das ist die kleine Schwester der Großen Krampe.«

»Ich sehe nichts.«

»Das kannst du auch gar nicht, denn die Kleine Krampe ist nach dem Krieg zugeschüttet worden – mit Trümmerschutt.«

»Achtung«, rief Theresa Marotzke plötzlich, »vor uns treibt wat im Wasser!«

»Das wird der Ertrunkene sein!« Doch es war lediglich der Rest eines Schlauchbootes.

»Hier fließt allet Richtung Innenstadt«, sagte die Kriminalassistentin. »Wenn wirklich eener ertrunken sein sollte, dann wird der doch eher in Grünau anlanden als hier.«

»Vielleicht hat er sich an einer Schiffsschraube verfangen«, wandte Granow ein. »Ab und zu kommt ja auch heute noch ein Ausflugsdampfer hier vorbei und fährt Richtung Gosener Kanal und Dämeritzsee.«

»Wie ooch imma, det is ’n schöna Ausflug heute!«, erwiderte Theresa Marotzke und schloss zufrieden die Augen.

 

Als sie auf Höhe des Seddinwalls angekommen waren, wendete Granow und paddelte zur Landzunge 44 zurück. Schon in einiger Entfernung hörten sie, dass es dort inzwischen hoch hergehen musste.

»Sie werden den Gesuchten gefunden haben«, sagte Granow.

Und so war es dann auch. Als sie aus dem Faltboot kletterten, sahen sie den Notarzt neben einem Mann von etwa fünfzig Jahren knien, der nur mit einer Badehose bekleidet war. Eingefunden hatte sich schon eine Vertreterin der Staatsanwaltschaft, die wunderbare Frau Dr. Monique Müller-Linthe. Wer jetzt noch fehlte, war der Rechtsmediziner Prof. Dr. med. Robert Schwarz. Therersa Marotzke griff zu ihrem Handy und wählte die Nummer des geschätzten Kollegen.

***

Prof. Schwarz hatte sich eigentlich auf einige schöne Urlaubstage bei dem herrlichen Sommerwetter gefreut. Es waren Semesterferien, von denen er auch eine Woche für sich nutzen wollte. Endlich müsste er mal nicht um sechs Uhr aufstehen und mit der Autolawine eine gute Stunde vom beschaulichen Wendenschloss nach Mitte zur Charité in sein Institut fahren. Als er am Telefon die muntere Stimme der Kommissarin Marotzke hörte, legte er sein Buch beiseite und kletterte aus dem Liegestuhl. Wenn die 4. Mordkommission anrief, wurde er gebraucht. Den Ansatz zu einem brummigen Hinweis auf seinen Urlaub verschluckte er, weil die Marotzke ungefragt erklärt hatte, dass sein Oberarzt doch zu einer Tagung und die diensthabende Rechtsmedizinerin Frau Dr. Schöneberg in der Kinderklinik bei einem misshandelten Kind sei. »Kann ich nicht gleich über Müggelheim zur Krampenburg fahren?«, fragte Prof. Schwarz, aber die Kommissarin empfahl ihm die Anfahrt über Köpenick und Adlergestell bis zur Fähre in Schmöckwitz. Dort würde er an der Anlegestelle erwartet. Also vertröstete Schwarz seine Frau auf den Abend, griff nach seinem Einsatzkoffer und machte sich auf den Weg. Eine knappe Stunde später war er am Ziel und ließ sich auf dem Polizeiboot von der Kommissarin über die bisherigen Erkenntnisse informieren. Offenbar handelte es sich um einen frischen Leichnam, also würde er heute ohne odor mortis, den fürchterlichen Fäulnisduft in Kleidung und Haaren, nach Hause kommen.

Am Bergungsort hatte man den kleinen Strandabschnitt abgesperrt und den Toten mit einer Plane bedeckt.

Schwarz führte nun die Leichenschau durch, wie er es schon tausendmal in seinem Leben getan hatte. Er fand eine frische männliche Leiche, geschätztes Lebensalter um die fünfzig Jahre, Körpergröße ungefähr 180 Zentimeter, mit kräftigem, muskulösem Körperbau. Die Zeichen des Todes registrierte er in Form einer leichten, offenbar beginnenden Totenstarre und schwach ausgebildeter violetter Totenflecke. Der Körper wies noch spürbare Restwärme auf, am deutlichsten in den Achselhöhlen. Die rektale Temperaturmessung ergab 32 Grad. Die Totenflecke waren schwach an Gesicht, Hals- und Schultervorderseite sowie Unterschenkeln und Füßen erkennbar, sie waren aber auch spärlich an der Körperrückseite des auf dem Rücken liegenden Toten ausgebildet. An den Finger- und Zehenspitzen war die Haut leicht weißlich verfärbt und gequollen, was Schwarz als beginnende Waschhautbildung festhielt. Alle Befunde sprach er in knappen, routinierten Formulierungen in sein Diktiergerät. Er vermerkte, dass es keine gröberen Verletzungen gab.

Zu seinen diagnostischen Erwägungen über die Ursache des Todes im Wasser gehörte auch die Prüfung eines charakteristischen Geruchs an der Leiche, beispielsweise nach Alkohol. Nachdem er an Mund- und Nasenöffnung geschnuppert hatte, wiederholte er diese Prozedur, wobei er kräftig auf den Brustkorb drückte – doch auch dabei war nichts Auffälliges zu riechen. Es traten jedoch kleine weißliche Schaumblasen aus Mund und Nase heraus, die Prof. Schwarz als »Schaumpilz vorhanden« zusammenfasste. Bei seiner abschließenden Inspektion von Kopf, Rumpf und Gliedmaßen fand er doch noch eine Besonderheit: zirkuläre Hautrötungen oberhalb der Fußknöchel. Sie waren drei bis fünf Zentimeter breit, unscharf begrenzt und von annähernd gleichmäßiger Farbintensität. Bei Lupenbetrachtung waren auch feine Hautabschürfungen zu erkennen, die kopf- wie fußwärts mehrere Zentimeter über die Rötungen hinausreichten.

Schwarz richtete sich auf, um den Kommissaren seine erste Einschätzung vorzutragen. »Wo ist denn Ihr großer Chef?«, fragte er die Marotzke. Doch da erblickte er Granow schon, wie der über den kleinen Strandabschnitt geeilt kam.

Die beiden begrüßten sich herzlich. »Grüß dich, alter Mordermittler!«, rief Schwarz. »Grüß dich, alter Leichenzerteiler!«, rief Granow zurück. Der Rechtsmediziner und der Kommissar waren etwa derselbe Jahrgang. Sie hatten sich trotz unterschiedlicher Biographie schnell verstanden, wozu sicherlich ihre preußische Pflichtauffassung, gepaart mit Berliner Direktheit und einem Hang zu schwarzem Humor, beigetragen hatte.

»Schön, dass du gleich gekommen bist! Jetzt muss ich nicht doppelt predigen«, meinte Schwarz. »Also, eines ist schon jetzt klar: Der Mann ist ertrunken. Der Tod dürfte unter Berücksichtigung einer Wassertemperatur von etwa 20 Grad und der Lufttemperatur von ungefähr 25 Grad vor etwa vier Stunden eingetreten sein.«

»Das deckt sich mit den Angaben unseres Ohrenzeugen Reinhalter«, sagte Granow.

»Prima«, stellte Schwarz fest, »dann bleibt nur noch die Kleinigkeit zu klären, warum dieser offenbar kräftige und sportliche Mann ertrunken ist. Ich sehe da Befunde an den Unterschenkeln, die mir gar nicht gefallen. Der Mann wird doch nicht gefesselt gewesen sein? Oder wurde bei der Bergung ein Seil um die Füße geschlungen? Die Hautrötungen imponieren allerdings durchaus als vital, also zu Lebzeiten beigebracht.«

»Den Ablauf der Bergung werden wir nochmals prüfen«, meinte Granow. »Aber was machen wir mit Reinhalter und dem angeblichen Hilferuf des Opfers? Wir sind uns doch einig, dass wir mit der Obduktion nicht warten sollten.« Als Schwarz dazu nickte, fuhr Granow fort: »Ich kläre das gleich mit der Staatsanwältin. Wann wollen wir uns treffen?«

Schwarz packte seinen Einsatzkoffer zusammen. »Ich rufe unseren Leichenwagen und alarmiere das Obduktionsteam. Wir sehen uns um 21 Uhr im Sektionssaal!«

Frisch gestärkt durch einen schnellen Imbiss an einer Currywurstbude erreichte Prof. Schwarz das Rechtsmedizinische Institut gegen 20.45 Uhr. Der Sektionsassistent Peter Schulz hatte schon alle Vorbereitungen getroffen, und Frau Dr. Schöneberg stand bereits eingekleidet im Sektionssaal. Mit einer kurzen Begrüßung eröffnete der Professor seine Spätschicht. Die Assistentin legte die Schnitte, der Sektionsassistent half dabei, und Schwarz diktierte akribisch alle Befunde. Wie jedes Sektionsprotokoll bestand auch dieses aus den Abschnitten »A. Äußere Besichtigung«, »B. Innere Besichtigung« und »C. Vorläufiges Gutachten«.

Gegen 22.30 Uhr – Prof. Schwarz diktierte gerade den Zustand der Bauchorgane – trafen die Kommissare Granow und Marotzke ein.

»Ich soll dir einen schönen Gruß von der Staatsanwältin bestellen«, richtete Granow aus. »Sie wird nicht kommen. Ich soll ihr stattdessen das Wesentliche telefonisch übermitteln.«

»Das soll mir recht sein. Kommt näher, ihr habt auch noch nicht viel versäumt«, erwiderte Schwarz.

Kurz nach 23 Uhr war die Sektion beendet, und Prof. Schwarz begann mit dem Diktat des »Vorläufigen Gutachtens«. Zuvor rief er den Kriminalisten zu: »Achtung, ihr könnt jetzt gleich das zusammenfassende Resultat unserer Bemühungen hören!«

I. Sektionsergebnis Leichnam eines unbekannten, ca. 50 Jahre alten, 182 cm großen und 83 kg schweren Mannes. Zeichen des Ertrinkens: hochgradige Überblähung des Lungengewebes (Emphysema aquosum). Schaumige Flüssigkeit in Mund, Nase und Luftröhre. Ertrinkungsflüssigkeit in der Keilbeinhöhle. Dreischichtung des wässrigen Mageninhalts (Wydler’sches Zeichen). Zeichen des Aufenthalts im Wasser: beginnende Waschhautbildung an Finger- und Zehenspitzen. Näher beschriebene zirkuläre Hautrötungen und -abschürfungen beider Unterschenkel, jeweils kräftig unterblutet. Hinweise zur Identifizierung: Zustand nach länger zurückliegender operativer Blinddarmentfernung (Appendektomie). Lückenhaftes Gebiss mit einzelnen Metallkronen (siehe Schema Zahnstatus). Buntgestreifte Badehose der Marke Aquos (siehe Fotomappe). Leichte allgemeine Arteriosklerose mit teils mittelgradiger Sklerose der Herzkranz- und Hirngrundschlagadern. Leichte Leberverfettung.

II. Todesursache: Ertrinken.

III. Ergebnis der Alkoholbestimmung aus Schenkelvenenblut und Urin nach zwei Methoden: Venenblut 0,0 mg/g Ethanol, Urin 0,0 mg/g Ethanol.

IV. Als Todesursache ist eindeutig Ertrinken festzustellen. Eine alkoholische Beeinflussung zum Zeitpunkt des Todes konnte ausgeschlossen werden. Es fanden sich keine wesentlichen vorbestehenden krankhaften Veränderungen, die unmittelbar mit dem Todeseintritt in Zusammenhang stehen könnten. Die näher beschriebenen Hautabschürfungen und -unterblutungen an den Unterschenkeln sind durch eine grobe komprimierende Gewalt zu Lebzeiten entstanden. Zur Verursachung erscheinen sowohl feste Griffe als auch eine Fesselung mit relativ glattem Material geeignet.