Der Kampf um die Polnische Post

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Der Kampf um die Polnische Post
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Günter Grass

Der Kampf um die Polnische Post

Steidl

Die Polnische Post

Ich schlief in einem Wäschekorb voller Briefe, die nach ŁódŹ, Lublin, Lwow, Toruń, Kraków und Częstochowa hinwollten, die von Lodz, Lublin, Lemberg, Thorn, Krakau und Tschenstochau herkamen. Ich träumte aber weder von der Matka Boska Częstochowska noch von der schwarzen Madonna, knabberte weder träumend an Marszałek Piłsudskis in Krakau aufbewahrtem Herzen noch an jenen Lebkuchen, die die Stadt Thorn so berühmt gemacht haben. Nicht einmal von meiner immer noch nicht reparierten Trommel träumte ich. Traumlos auf Briefen in rollbarem Wäschekorb liegend, vernahm Oskar nichts von jenem Wispern, Zischeln, Plaudern, von jenen Indiskretionen, die angeblich laut werden sollen, wenn viele Briefe auf einem Haufen liegen. Mir sagten die Briefe kein Wörtchen, ich hatte keine Post zu erwarten, niemand durfte in mir einen Empfänger oder gar Absender sehen. Selbstherrlich schlief ich mit eingezogener Antenne auf einem Berg Post, der nachrichtenträchtig die Welt hätte bedeuten können.

So weckte mich verständlicherweise nicht jener Brief, den irgendein Pan Lech Milewczyk aus Warschau seiner Nichte in Danzig-Schidlitz schrieb, ein Brief also, alarmierend genug, um eine tausendjährige Schildkröte wecken zu können; mich weckte entweder nahes Maschinengewehrfeuer oder die fernen, nachgrollenden Salven aus den Doppeltürmen der Linienschiffe im Freihafen.

Das schreibt sich so leicht hin: Maschinengewehre, Doppeltürme. Hätte es nicht auch ein Platzregen, Hagelschauer, der Aufmarsch eines spätsommerlichen Gewitters, ähnlich jenem Gewitter anläßlich meiner Geburt, sein können? Ich war zu verschlafen, derlei Spekulationen nicht mächtig und folgerte, noch die Geräusche im Ohr bewahrend, treffend und wie alle Verschlafenen die Situation direkt beim Namen nennend: Jetzt schießen sie!

Kaum aus dem Wäschekorb geklettert, noch unsicher in den Sandalen stehend, besorgte Oskar sich um das Wohl seiner empfindlichen Trommel. Mit beiden Händen grub er jenem Korb, der seinen Schlaf beherbergt hatte, ein Loch in den zwar locker, aber verschachtelt geschichteten Briefen, ging jedoch nicht brutal vor, indem er zerriß, knickte und gar entwertete; nein, vorsichtig löste ich die miteinander verfilzte Post, trug jeder der zumeist violetten, mit dem »Poczta Polska«-Stempel bedachten Briefe, sogar Postkarten Sorge, gab acht, daß sich kein Kuvert öffnete; denn selbst angesichts unabwendbarer, alles ändernder Ereignisse sollte das Postgeheimnis immer gewahrt bleiben.

Im selben Maße, wie das Maschinengewehrfeuer zunahm, weitete sich der Trichter in jenem Wäschekorb voller Briefe. Endlich ließ ich es genug sein, bettete meine todkranke Trommel in dem frisch aufgeworfenen Lager, bedeckte sie dicht, nicht nur dreifach, nein, zehn- bis zwanzigfach auf ähnliche Art verzahnt mit den Umschlägen, wie Maurer Ziegel fügen, wenn es gilt, eine stabile Wand zu errichten.

Kaum hatte ich diese Vorsichtsmaßnahme, von der ich mir Splitter- und Kugelschutz für mein Blech erhoffen durfte, beendet, als an der Fassade, die das Postgebäude zum Heveliusplatz hin begrenzte, etwa in Höhe der Schalterhalle die erste Panzerabwehrgranate detonierte.

Die Polnische Post, ein massiver Ziegelbau, durfte getrost eine Anzahl dieser Einschläge hinnehmen, ohne befürchten zu müssen, daß es den Leuten der Heimwehr gelänge, kurzes Spiel zu machen, schnell eine Bresche zu schlagen, breit genug für einen frontalen, oft exerzierten Sturmangriff.

Ich verließ meinen sicheren, fensterlosen, von drei Büroräumen und dem Korridor der ersten Etage eingeschlossenen Lagerraum für Briefsendungen, um nach Jan Bronski zu schauen. Wenn ich nach meinem mutmaßlichen Vater Jan Ausschau hielt, suchte ich selbstverständlich und fast mit noch größerer Begierde den invaliden Hausmeister Kobyella. War ich doch am Vorabend mit der Straßenbahn, auf mein Abendessen verzichtend, in die Stadt, zum Heveliusplatz und hinein in jenes mir sonst gleichgültige Postgebäude gekommen, um meine Trommel reparieren zu lassen. Wenn ich also den Hausmeister nicht rechtzeitig, das heißt vor dem mit Sicherheit zu erwartenden Sturmangriff fand, war an eine sorgfältige Befestigung meines haltlosen Bleches kaum noch zu denken.

Oskar suchte also den Jan und meinte den Kobyella. Mehrmals durchmaß er mit auf der Brust gekreuzten Armen den langen gefliesten Korridor, blieb aber mit seinem Schritt alleine. Zwar unterschied er einzelne, sicher vom Postgebäude aus abgegebene Gewehrschüsse von der anhaltenden Munitionsvergeudung der Heimwehrleute, aber die sparsamen Schützen mußten in ihren Büroräumen die Poststempel gegen jene anderen, gleichfalls stempelnden Instrumente ausgetauscht haben. Im Korridor stand, lag oder hielt sich keine Bereitschaft für einen eventuellen Gegenangriff bereit. Da patrouillierte nur Oskar, war wehrlos und ohne Trommel dem geschichtemachenden Introitus einer viel zu frühen Morgenstunde ausgesetzt, die allenfalls Blei, aber kein Gold im Munde trug.

Auch in den Büroräumen zum Posthof hin fand ich keine Menschenseele. Leichtsinn, stellte ich fest. Man hätte das Gebäude auch in Richtung Schneidemühlengasse sichern müssen. Das dort liegende Polizeirevier, durch einen bloßen Bretterzaun vom Posthof und der Paketrampe getrennt, bildete eine so günstige Angriffsposition, wie sie nur noch im Bilderbuch zu finden sein mag. Ich klapperte die Büroräume, den Raum für eingeschriebene Sendungen, den Raum der Geldbriefträger, die Lohnkasse, die Telegrammannahme ab: Da lagen sie. Hinter Panzerplatten und Sandsäcken, hinter umgestürzten Büromöbeln lagen sie, stockend, fast sparsam schießend.

In den meisten Räumen hatten schon einige Fensterscheiben Bekanntschaft mit den Maschinengewehren der Heimwehr gemacht. Flüchtig besah ich mir den Schaden und stellte mit jenem Fensterglas Vergleiche an, das unter dem Eindruck meiner diamantenen Stimme in ruhig, tief atmenden Friedenszeiten zusammengebrochen war. Nun, wenn man von mir einen Beitrag zur Verteidigung der Polnischen Post forderte, wenn etwa jener kleine, drahtige Doktor Michon nicht als postalischer, sondern als militärischer Direktor der Post an mich heranträte, um mich vereidigend in Polens Dienste zu nehmen, an meiner Stimme sollte es nicht fehlen: Für Polen und Polens wildblühende und dennoch immer wieder Früchte tragende Wirtschaft hätte ich gerne die Scheiben aller gegenüberliegenden Häuser am Heveliusplatz, die Verglasung der Häuser am Rähm, die gläserne Flucht an der Schneidemühlengasse, inklusive Polizeirevier, und, fernwirkender als je zuvor, die schöngeputzten Fensterscheiben des Altstädtischen Grabens und der Rittergasse binnen Minuten zu schwarzen, Zugluft fördernden Löchern gemacht. Das hätte Verwirrung unter den Leuten der Heimwehr, auch unter den zuguckenden Bürgern gestiftet. Das hätte den Effekt mehrerer schwerer Maschinengewehre ersetzt, das hätte schon zu Anfang des Krieges an Wunderwaffen glauben lassen, das hätte dennoch nicht die Polnische Post gerettet.

Oskar kam nicht zum Einsatz. Jener Doktor Michon mit dem polnischen Stahlhelm auf dem Direktorenkopf vereidigte mich nicht, sondern gab mir, als ich die Treppe zur Schalterhalle hinunterhastete, ihm zwischen die Beine lief, eine schmerzhafte Ohrfeige, um gleich nach dem Schlag, laut und polnisch fluchend, abermals seinen Verteidigungsgeschäften nachzugehen. Mir blieb nichts anderes übrig, als den Schlag hinzunehmen. Die Leute, mithin auch der Doktor Michon, der schließlich die Verantwortung trug, waren aufgeregt, fürchteten sich und konnten als entschuldigt gelten.

Die Uhr in der Schalterhalle sagte mir, daß es zwanzig nach vier war. Als es einundzwanzig nach vier war, konnte ich annehmen, daß die ersten Kampfhandlungen dem Uhrwerk keinen Schaden zugefügt hatten. Sie ging, und ich wußte nicht, ob ich diesen Gleichmut der Zeit als schlechtes oder gutes Zeichen werten sollte.

Jedenfalls blieb ich vorerst in der Schalterhalle, suchte Jan und Kobyella, ging dem Doktor Michon aus dem Wege, fand weder den Onkel noch den Hausmeister, stellte Schäden an der Verglasung der Halle fest, auch Sprünge und häßliche Lücken im Putz neben dem Hauptportal und durfte Zeuge sein, als man die ersten zwei Verwundeten herbeitrug. Der eine, ein älterer Herr mit immer noch sorgfältig gescheiteltem Grauhaar, sprach ständig und erregt, während man den Streifschuß an seinem rechten Oberarm verband. Kaum hatte man die leichte Wunde weiß eingewickelt, wollte er aufspringen, nach seinem Gewehr greifen und sich abermals hinter die wohl doch nicht kugelsicheren Sandsäcke werfen. Wie gut, daß ein leichter, durch starken Blutverlust verursachter Schwächeanfall ihn wieder zu Boden zwang und ihm jene Ruhe befahl, ohne die ein älterer Herr kurz nach einer Verwundung nicht zu Kräften kommt. Zudem gab ihm der kleine, nervige Fünfziger, der einen Stahlhelm trug, aber aus zivilem Brusttäschchen das Dreieck eines Kavaliertaschentuches hervorlugen ließ, dieser Herr mit den noblen Bewegungen eines beamteten Ritters, der Doktor war und Michon hieß, der Jan Bronski am Vorabend streng ins Verhör genommen hatte, gab dem älteren blessierten Herrn den Befehl, im Namen Polens Ruhe zu bewahren.

Der zweite Verwundete lag schwer atmend auf einem Strohsack und zeigte kein Verlangen mehr nach den Sandsäcken. In regelmäßigen Abständen schrie er laut und ohne Scham, weil er einen Bauchschuß hatte.

Gerade wollte Oskar noch einmal die Reihe der Männer hinter den Sandsäcken inspizieren, um endlich auf seine Leute zu treffen, da ließen zwei fast gleichzeitige Granateinschläge über und neben dem Hauptportal die Schalterhalle klirren. Die Schränke, die man vor das Portal gerückt hatte, sprangen auf und gaben Stöße gehefteter Akten frei, die dann auch richtig aufflatterten, den ordentlichen Halt verloren, um auf den Fliesen landend und gleitend Zettel zu berühren und zu decken, die sie im Sinne einer sachgemäßen Buchhaltung nie hätten kennenlernen dürfen. Unnütz zu sagen, daß restliches Fensterglas splitterte, daß größere und kleinere Felder Putz von den Wänden und von der Decke fielen. Man schleppte einen weiteren Verwundeten durch Gips- und Kalkwolken in die Mitte des Raumes, dann jedoch, auf Befehl des Stahlhelmes Doktor Michon, die Treppe hinauf ins erste Stockwerk.

 

Oskar folgte den Männern mit dem von Stufe zu Stufe aufstöhnenden Postbeamten, ohne daß ihn jemand zurückrief, zur Rede stellte oder gar, wie es kurz zuvor der Michon für nötig befunden hatte, mit grober Männerhand ohrfeigte. Allerdings gab er sich auch Mühe, keinem der Erwachsenen zwischen die Postverteidigerbeine zu laufen.

Als ich hinter den langsam die Treppe bewältigenden Männern das erste Stockwerk erreichte, bestätigte sich meine Ahnung: Man brachte den Verwundeten in jenen fensterlosen und deshalb sicheren Lagerraum für Briefsendungen, den ich eigentlich für mich reserviert hatte. Auch glaubte man, da es an Matratzen mangelte, in den Briefkörben zwar zu kurze, aber immerhin weiche Unterlagen für die Blessierten zu finden. Schon bereute ich, meine Trommel in einem dieser rollbaren Wäschekörbe voller unbestellbarer Post eingemietet zu haben. Würde das Blut dieser aufgerissenen, durchlöcherten Briefträger und Schalterbeamten nicht durch die zehn oder zwanzig Papierlagen hindurchsickern und meinem Blech eine Farbe geben, die es bisher nur als Lackanstrich gekannt hatte? Was hatte meine Trommel mit dem Blute Polens gemeinsam! Mochten sie ihre Akten und Löschblätter mit dem Saft färben! Mochten sie doch das Blau aus ihren Tintenfässern stürzen und mit Rot nachfüllen! Mochten sie doch ihre Taschentücher, weißen gestärkten Hemden zur gutpolnischen Hälfte röten! Schließlich ging es um Polen und nicht um meine Trommel! Wenn es ihnen schon darauf ankam, daß Polen, wenn verloren, dann weißrot verlorengehe, mußte dann meine Trommel, verdächtig genug durch den frischen Anstrich, gleichfalls verlorengehen?

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