Schwarzwalddavos

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Aus der Reihe: Lindemanns #214
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Schwarzwalddavos
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Gottfried Zurbrügg

Schwarzwalddavos

Roman


Gottfried Zurbrügg, geb. 1945 in Bielefeld. Studium der Chemie, Biologie, Pädagogik. Bis 2002 Realschullehrer und Lehrerfortbildner. Arbeitet als freier Schriftsteller und Prädikant. Bisher erschienen „In einem fernen Land“ (1998, Spiess-Verlag, Berlin), „Gottes Ohren hören anders“ (2002, Brunnenverlag Gießen), „Wellenreiter“ (2003, 2011 Drey-Verlag, Gutach i. K.), „Eine Uhr für die Ewigkeit: Carl-Julius Späth, Uhrmacher und Genie“ (2006, Casimir Katz Verlag, Gernsbach), „Der nackte Mann von Pforzheim“ (2006, Info Verlag, Karlsruhe), „Westwärts, Wellenreiter“ (2009, Lindemanns Bibliothek, Karlsruhe), „Von Erde bist du genommen“ (2011, Lindemanns Bibliothek, Karlsruhe), „Gottes Ohren hören anders“ (2011, Fromm-Verlag, Saarbrücken), „Die Zehn“ (2012, Engelsdorfer Verlag, Leipzig), „Von Herzen – Predigten aus dem Alltag“ (2013, Engelsdorfer Verlag, Leipzig) und „Nest der Störche – Geschichten zwischen Elbe und Oder“ (2013, Engelsdorfer Verlag, Leipzig).

Lindemanns Bibliothek, Band 214

herausgegeben von Thomas Lindemann

Titelgestaltung unter Verwendung des

Gemäldes „Landschaft im Schwarzwald“,

43 x 53 cm, Öl auf Leinwand, 1886,

von Hans Thoma (1839 – 1924)

© 2014 · Info Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten.

Nachdruck ohne Genehmigung

des Verlages nicht gestattet.

ISBN 978-3-88190-812-2

www.infoverlag.de

Vorwort

Schwarzwalddavos? Vor vielen Jahren hat man Nordrach so genannt, denn wie Davos war auch Nordrach durch seine Lungenheilstätten sehr bekannt. Die Entwicklung dazu hatte im Jahr 1896 begonnen, als Dr. Walther mit seiner Frau Dr. Hope Adams die erste Lungenheilstätte in Nordrach-Kolonie gründete. Bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein war Nordrach geprägt von den bekannten Sanatorien, dann wurde die Tuberkulose durch bessere Untersuchungsmethoden und Antibiotika weitgehend besiegt und die Kliniken übernahmen andere Aufgaben. Noch heute erinnern sich viele Menschen an die Kranken, die aus Nordrach kamen und die umliegenden Ortschaften aufsuchten. Man begegnete ihnen mit Vorsicht und Zurückhaltung, denn man wusste ja um die Ansteckungsgefahr. Andererseits waren die Kurgäste wichtige Kunden für das abgelegene Tal.

Das Buch beschäftigt sich mit der Geschichte der Tuberkulose, jener Krankheit, die Deutschland in der Mitte des letzten Jahrhunderts sehr geprägt hat. Viele berühmte Ärzte und Forscher hatten sich dem Kampf gegen die Seuche verschrieben. Robert Koch fand den Tuberkelbazillus, und viele andere Mediziner arbeiteten an Möglichkeiten, die Krankheit zu heilen.

Dr. Walther und Dr. Hope Adams waren zwei von ihnen. Ihre ungewöhnlichen Methoden und ihr großer Einsatz machten sie zu Vorreitern im Kampf gegen die Tuberkulose, die weit über den Schwarzwald hinaus bekannt wurden.

Weniger bekannt ist, dass beide auch engagierte Pazifisten und Europäer waren. Sie hatten gute Kontakte zu Pazifisten wie Bertha von Suttner und dem Friedensnobelpreisträger Frederik Bajer aus Dänemark. Dessen Tochter Ragnhild wird später die zweite Frau von Dr. Walther.

Für Dr. Walther war das scheinbar abgelegene Schwarzwalddorf der Mittelpunkt der Welt, denn dort trafen sich Menschen aus ganz Europa. Sie kamen aus England, Russland oder Frankreich, um im Schwarzwald Heilung zu finden.

In Nordrach wurden die großen Ideen vom Weltfrieden und der Internationalen gelebt. Menschen aus aller Herren Länder kamen zusammen, suchten Heilung und Hilfe. Dr. Walther und Dr. Hope Adams legten größten Wert auf Völkerverständigung und sahen in ihrer Arbeit einen wichtigen Beitrag dazu. Was in Nordrach damals bereits gelebt wurde, konnte in Europa erst im 20. Jahrhundert Wirklichkeit werden.

Dr. Walther war überzeugter Sozialdemokrat und die Geschichte der SPD streift auch den Schwarzwald. Der kleine Ort Hinterohlsbach war einst Zufluchtsort der Sozialdemokraten. Selbst Willi Brand war später Gast auf dem Brandeck in der Villa Strehlen.

Nordrach scheint abgelegen hoch im Schwarzwald zu liegen, aber seine Geschichte hat viel mit Europa zu tun. Nordrach ist zwar nicht der Mittelpunkt der Welt, wie Dr. Walther es empfand, aber bis heute ein sehenswerter Kurort mit eindrucksvoller Geschichte mitten im Schwarzwald.

Hope

Das Märchenschloss

Mein Name ist Frieder und ich wohne in einem Ort, den es eigentlich gar nicht gibt. Er heißt Stab Nordrach Kolonie. Es heißt, niemand wollte uns haben, als Europa neu geordnet wurde. Das Kloster Gengenbach, zu dem wir einmal gehörten, wurde damals aufgelöst und bei der neuen Grenzziehung hat man uns einfach ausgeklammert. Vater sagt, das sei nicht schlimm und erzählt Geschichten von den Glasern, die damals am Dörrenbach gearbeitet haben. Noch immer findet man blaue Glasperlen im Bachbett. Es ist herrlich hier oben. Die Luft ist klar und auch in den Herbstmonaten immer nebelfrei.

Unser Heckenlehrer hat uns das Märchen von Dornröschen erzählt: „Durch einen Fluch fällt ein ganzes Schloss in einen tiefen Schlaf. Eine Rosenhecke wächst um das Schloss herum und es wird einfach vergessen.“ Ich meine, unserer Kolonie ginge es genauso. Ich kenne mich aus, denn ich bin hier aufgewachsen und war schon oft bei den alten Ruinen. Oben in den Wäldern steht noch die Marienkapelle aus dem Jahr 1776. Den Grundstein habe ich selber gesehen, denn natürlich kann ich lesen und schreiben. Unser Lehrer hat uns viel beigebracht. Er war ein lustiger, junger Bursche, der davon träumte, einmal in einer eigenen Schule unterrichten zu können und nicht mehr in den Stuben der Bauernhöfe. Meine Schule waren der Wald und unser Hof. Dort habe ich gelernt, was für unser Leben wichtig ist: mit den Kühen umzugehen, den Wald zu verstehen, die Früchte zu kennen, die man im Herbst holen kann, die Tiere zu belauschen und die Baumarten zu unterscheiden, den Boden zu bearbeiten und ihm zu geben, was er braucht.

Ich gehöre zur Familie Spitzmüller. Das ist eine große Familie rund um Nordrach. Man sagt, der Stammhof sei eine Mühle ganz oben im Nordrachtal. Von dort kamen die Spitzmüller und wurden eine große und erfolgreiche Familie. Wir haben zwar nur einen kleinen Besitz, aber trotzdem komme ich mit meinen Vettern und Nichten, Onkeln, Tanten und Cousinen oft zusammen.

Manchmal kommen Männer zu uns herauf, die in den Wäldern jagen wollen. Wir holen sie von Nordrach ab und fahren hinauf bis in die Höhen. Vater und ich warten dann, bis sie mit ihrer Jagdbeute zurückkehren.

Mein Traum ist aber etwas anderes: Nicht weit von unserem Hof steht eine alte Fabrik. Es sieht aus, als seien die Arbeiter eben erst fortgegangen und hätten nur vergessen abzuschließen. Man kann hineingehen und die wenigen Geräte betrachten, die sie zurückgelassen haben. In dem Haus war einmal eine Farbenfabrik, die der Abt zu Gengenbach gegründet hatte. Dort stellten fleißige Menschen Farbpulver her und aus dem verwunschenen Erz, wie wir das nennen, dem Kobalterz, wurde blaue Farbe für die Keramik. Das passt zu meinem Märchen vom verwunschenen Schloss. In einem der Schuppen steht ein schwarzer Kutschwagen, wie man ihn heute noch fährt. Auch wenn Vater verboten hat, die alte Fabrik zu betreten, bin ich gerne dort und habe schon oft auf dem Kutschbock gesessen und davon geträumt, zwei Pferde einzuspannen und ins Tal oder in die weite Welt zu fahren. Ich halte die Peitsche in der rechten Hand und in der linken Hand die Leinen. Meine Pferde, Max und Moritz, laufen um die Wette, denn ein Prinz hat unser Märchenschloss erlöst.

Im Frühjahr 1887 saß ich wieder einmal auf dem Kutschbock der schwarzen Kutsche und träumte mich fort. Eigentlich war ich aus dem Märchenalter heraus, aber die alte Fabrik ließ mich irgendwie nicht los. Wenn einmal jemand käme und unsere Siedlung aus dem Dämmerschlaf wecken würde, so dass es wieder Leben hier oben gäbe und alles anders würde ... Prinzen gab es, das wusste ich, aber ob sich ein Prinz bis hierhin verirren würde, wo doch in Nordrach die Welt zu Ende war?

Ging da nicht eine Tür? Meine Träume endeten jäh und ich erschrak. Ich lauschte. Da machte sich doch wirklich jemand an dem alten Gebäude zu schaffen, jemand, der sich nicht auskannte. Ich sprang vom Bock und schlich zur Tür, öffnete und schaute hinaus. Ein großer Mann mit rötlichen Haaren und einem kräftigen Kinnbart rüttelte an dem alten Tor. Sollte ich weglaufen oder mich melden, überlegte ich, aber ehe ich mich entscheiden konnte, hatte er mich schon gesehen.

„Sie da! Wohnen Sie hier?“, rief er mir zu. Es war zu spät, mich zu verstecken und warum auch. Mein Vater hatte mich gelehrt, Fremden gegenüber höflich zu sein.

„Nein“, antwortete ich und trat aus der Tür.

„Wohnt hier überhaupt jemand?“, fragte der Mann interessiert und kam näher. Ich schüttelte den Kopf. „Ich weiß ja, dass ihr Schwarzwälder nicht viel redet“, fuhr er fort, „aber wie heißt dieser Ort? Wo bin ich?“

Ich zögerte, dann antwortete ich leise: „Nordrach Kolonie“. Warum kann ich nicht sagen, aber ich schämte mich in diesem Augenblick für meinen Ort. Wir gehörten nirgendwo hin, wie sollte ich das einem Fremden erklären?

„Aber Sie wohnen sicher in der Nähe? Können Sie mich da hinführen? Ich bin von Hinterohlsbach über den Mooskopf hierher gewandert und müde und hungrig.“

Jetzt, wo er das sagte, bemerkte ich, wie erschöpft der Mann war. „Kommen Sie“, sagte ich und lief ihm voran.

 

Zu unserem bescheidenen Bauernhof war es nicht weit. Man musste nur den Hang hochsteigen, wo unsere zwei Kühe weideten, an den munteren Ziegen vorbei, dann sah man schon unser kleines Haus, das in den Hang hinein gebaut war. Vor dem Haus stand ein Brunnen. Mutter war eben dabei, Wasser zu holen, bemerkte uns natürlich sofort und stellte den Eimer ab. Sie wartete, bis wir bei ihr waren, dann fragte sie mich: „Wen bringst du uns da?“

Der Fremde verbeugte sich und sagte: „Gnädige Frau, Ihr Sohn war so nett, mich herzubringen. Mein Name ist Dr. Walther. Ich bin über den Mooskopf gewandert und hungrig und müde.“

Ich musste unwillkürlich lachen. So hatte noch niemand meine Mutter angeredet. Sie schüttelte den Kopf und sagte nur: „Sie sind aber nicht von hier. Kommen Sie rein.“

So betraten wir die Stube. Ich setzte mich wie gewohnt an den großen Tisch. Dr. Walter sah sich um und bestaunte alles. „Hier wohnen Sie?“, fragte er ganz unnötig.

„Setzen Sie sich!“, sagte Mutter abweisend. Sie mochte es gar nicht, wenn man sich zu sehr umsah.

„Alles sieht genauso aus, wie man es von Bildern kennt: Das Rauchhaus mit der hohen Decke, darunter der Schwarzwälder Schinken und Würste. Der große Tisch, an dem die Familie sitzt. Ein Stuhl in der Ecke für die Großmutter und in der anderen der Herrgottswinkel ...“, zählte Dr. Walther auf.

„Trinken Sie“, sagte Mutter und stellte einen Krug mit frischem Wasser auf den Tisch und drei Becher dazu. „Oder wollen Sie einen Schnaps?“

„Da würde ich nicht nein sagen“, antwortete Dr. Walther.

„Möchten Sie etwas essen, Brot, Schinken oder Wurst? Sie müssen schon den Mund aufmachen“, forderte Mutter ihn auf.

Ich sah sie erstaunt an, so kannte ich sie gar nicht, aber wir hatten auch selten Gäste. Wenn wir als Familie beisammen waren, mussten wir nie etwas sagen. Jeder wusste doch, was der andere wollte. Vater kam herein. „So, ein Fremder“, meinte er. „Haben Sie sich verirrt? Sind Sie ein Jäger?“

Dr. Walther stand sofort auf und reichte ihm die Hand. Er war größer als mein Vater. „Setzen Sie sich“, forderte er ihn auf. „Wir haben selten einen Gast bei uns. Mutter hast du an alles gedacht?“ Er hatte nun das Kommando übernommen. Mutter brachte den Schnaps und stellte noch einen Krug Most dazu. Dann zog sie sich zurück und wir drei saßen allein am Tisch. Dr. Walther wartete, bis wir den Schnaps getrunken hatten, dann erzählte er: „Ich bin Wanderer. Meine Frau und ich wohnen zur Zeit auf dem Brandeck in Hinterohlsbach. Wir kommen aus Frankfurt und wollen uns hier im Schwarzwald erholen.“ Vater nickte, als habe er alles verstanden. „Wanderer sind Sie?“, fragte er zurück. „Was bedeutet das? Erkunden Sie die Wege für Jagdgesellschaften?“

Dr. Walther lachte. „Nein, ich bin kein Jäger und erkunde auch kein Waldgebiet für irgendwelche Herrschaften. Ich wandere, weil es mir gut tut.“

„Haben Sie denn keinen Beruf?“, fragte Vater, nun doch etwas misstrauisch geworden.

„Doch, ich bin Arzt“, erklärte Dr. Walther. „Ich heile kranke Menschen, wenn es geht.“

„So Gott will“, brummte Vater. „Also Arzt sind Sie und was suchen Sie bei uns? Pflanzen und Kräuter?“

„Luft und Wasser“, antwortete Dr. Walther.

„Das haben wir hier reichlich genug, das brauchen Sie nicht zu suchen“, meinte Vater.

Mutter brachte uns Holzteller und stellte einen weiteren mit einem Stück Speck auf den Tisch. Dann schnitt sie von dem großen Brotlaib für jeden eine Scheibe ab. Vater schnitt den Speck in ganz dünne Scheiben, spießte sie mit dem Messer auf und reichte jedem von uns eine davon.

„Sie haben meinen Buben im Wald getroffen?“, fragte Vater. Ich wurde knallrot. Ich wusste doch, dass Vater es nicht gerne sah, wenn ich in der alten Fabrik war.

„Durch Zufall kam ich an ein großes Gebäude“, erzählte Dr. Walther. „Ich wollte es mir näher ansehen, aber die Türen waren geschlossen. Da hörte ich jemanden und rief. Ihr Sohn kam heraus und brachte mich auf meine Bitte hierher zu Ihnen.“

„Warst du wieder in der alten Fabrik? Hast gar wieder auf dem Bock der schwarzen Kutsche gesessen und geträumt?“ Vater sah mich streng an und ich nickte beschämt.

„Mein Sohn möchte einmal Kutscher werden. Er träumt davon, Pferde vor die alte Kutsche zu spannen, die in der Fabrik steht, und dann über Land zu fahren. Aber das wird es nicht geben. Früher gab es hier eine Fabrik und eine große Glasersiedlung. Hier lebten und arbeiteten Flößer und Glaser, aber sie mussten alle fort, als der Wald gerodet war. Sie sind über den Mooskopf nach Frankreich gezogen und dann nach Amerika gefahren. Wir sind jetzt die Letzten und ganz auf uns gestellt. Niemand fühlt sich für uns verantwortlich, weder Nordrach noch Gengenbach.“

„Wer ist der Bürgermeister? Könnte man das alte Fabrikgebäude gar erwerben?“

„Sie stellen Fragen“, meinte Vater. „Möchten Sie den alten Schuppen kaufen?“ Er kam aus dem Staunen nicht heraus. „Was wollen Sie damit machen?“

„Ich möchte Menschen heilen“, erklärte Dr. Walther. „Es gibt Kranke, die eine geschädigte Lunge haben. Die brauchen frische Luft, gutes Wasser und gute Nahrung. Hier findet sich alles, was zur Heilung notwendig ist.“

Mutter hustete erschreckt und Vater sah sich nach ihr um. Sie winkte nur ab. Dann wandte er sich an Dr. Walther. „Verstehe ich Sie richtig? Sie wollen kranke Menschen aus der Stadt in unser Tal bringen, damit sie gesund werden? Aus der Fabrik wollen Sie ein Haus für die Kranken machen?“

„Ja“, sagte Dr. Walther erfreut. „Sie haben mich verstanden. Meinen Sie, dass so etwas möglich wäre?“

„Möglich ist alles“, meinte Vater. „Kommen Sie in den nächsten Tagen wieder. Ich werde mich umhören. Soll mein Sohn Sie ein Stück begleiten, damit Sie sich nicht verirren? Ihr Weg ist noch weit und der Wald ziemlich dicht.“

„Ich würde gerne mitgehen“, warf ich ein und stand auf.

„Na dann“, sagte Dr. Walther und erhob sich ebenfalls. So ganz nebenbei legte er ein Goldstück auf den Tisch. Meine Eltern sahen es und ich merkte, wie sehr sie sich darüber freuten.

Dornröschen, dachte ich, Märchenschloss hast du deinen Prinzen gefunden?

Dr. Walther schritt so zügig, dass ich kaum mitkam, obwohl ich doch gewohnt war, weite Strecken zu laufen. Er merkte, dass ich keuchen musste, und blieb stehen. „Gehe ich zu schnell?“, fragte er und lachte. „Ihr Bergbauern seid es doch gewohnt, über die Berge zu laufen.“

„Wenn wir Heu machen oder Holz schlagen, aber wir laufen nicht zum Spaß die Hänge hoch“, antwortete ich und holte tief Luft. „Bekommst du schlecht Luft?“, fragte der Doktor. „Bist du kurzatmig. Musst du oft husten?“ Ich verneinte, ich bekam schon genug Luft, aber so wie Dr. Walther war ich es nun doch nicht gewohnt, durch den Wald zu rennen.

„Wir werden etwas langsamer gehen“, sagte er, „denn ich will mit dir reden. Bist du oft in der alten Fabrik?“

„Nur wenn ich mal Zeit habe“, antwortete ich.

„Und dann sitzt du auf einem Kutschbock und träumst davon in die weite Welt zu fahren?“

„Wer möchte das nicht?“, fragte ich.

„Wohin willst du denn?“, fragte er weiter.

„Sehen, was hinter den Bergen haust“, antwortete ich. „Manchmal schaue ich hinüber zu den Bergen, die aus der Ferne blau herüberschimmern. Wer wohnt dort? Wie mag es da aussehen?“

„Du bist jung. Die Welt steht dir offen“, meinte Dr. Walther und schaute mich nachdenklich an.

Wir blieben stehen, Dr. Walther blickte sich um und schrieb etwas in ein kleines Heft. Ich nahm an, er wisse den Weg nicht mehr. „Wir können den Wagenspuren folgen“, sagte ich deshalb, „sie führen in Richtung Mooskopf.“

„Das weiß ich“, sagte er und schwenkte sein Notizbuch. „Ich habe mir Markierungen notiert, um mich in der Gegend zurechtzufinden. Schau!“ Er winkte mich zu sich und zeigte mir die eng beschriebenen Seiten. Kleine Zeichnungen vervollständigten seine Notizen. Ich sah eine Tanne mit einer besonderen Krone. „Solch eine Krone nennt man Storchennest. Diese steht am Mooskopf und ist ein Richtungsweiser, wenn ich z. B. zu euch ins Tal will“, erklärte er. „Diese dicke Eiche wächst am Katzenstein und das ist die Heidenkirche bei Oberharmersbach. Die Felsen geben mir den Hinweis, dass ich im falschen Tal bin.“ Er lachte und ich stimmte fröhlich mit ein. „In dieser Richtung liegt Zell am Harmersbach“, fuhr er fort und zeigte nach Südosten. Über den Bergen sah man eine schwarze Rauchfahne.

„In der Stadt gibt es große Fabriken“, sagte ich. „Eine stellt ganz bekannte Keramik her und wir Nordracher beliefern sie mit Holz für die Brennöfen. In den Fabriken arbeiten viele Menschen.“

„Arbeiter“, sagte Dr. Walther und irgendwie klang seine Stimme eigenartig. „Es gibt einen reichen Fabrikherrn und viele Arbeiter, die ihre Arbeitskraft an ihn verkaufen. Er hat den Gewinn und die Arbeiter geben ihre Gesundheit für die Fabrik.“

Ich merkte, wie er sich in Ärger hineinredete. „Aber das ist doch so“, sagte ich. „Wie soll es sonst gehen? Wir arbeiten auch, um leben zu können. Wir brauchen Nahrung und deshalb arbeiten wir im Wald, auf dem Feld und im Garten. Nur hin und wieder kommt man dazu, sich einmal auszuruhen. Nur wer arbeitet, kann auch leben.“

„Das ist ja richtig“, sagte Dr. Walther und beruhigte sich schnell wieder. „Kommst du noch ein Stück mit oder willst du lieber zurückgehen?“

„Vater gab mir den Auftrag, Sie zu begleiten“, antwortete ich.

„Du bist ein aufgeweckter Bursche“, sagte Dr. Walther und ich wurde rot wie ein Schulbub.

In der Ferne kollerte ein Auerhahn. „Hören Sie den Auerhahn? Hin und wieder kommen Jagdgesellschaften in unsere Berge, die auf den Auerhahn pirschen wollen. Dann gehen alle aus unserer Kolonie mit und begleiten die Herrschaften. Nach der Jagd gibt es gutes Essen und Getränke“, erzählte ich.

„Und das gefällt dir?“

„Natürlich“, sagte ich. „Es sind immer interessante Männer dabei, die aus der großen Welt berichten.“

„Und du hörst ihnen genau zu?“

Ich nickte. „Die Männer kommen aus Berlin, München, Straßburg, aus Frankreich und sogar England ...“ Ich redete mich in Begeisterung. „Manchmal nehmen auch fürstliche Herren an der Jagd teil, die man nicht ansprechen darf, die mit Durchlaucht angeredet werden. Ich glaube, dann ist sogar ein Prinz dabei.“ Ich konnte nicht verhindern, dass ich wieder rot wurde, und an meine Träume dachte.

Dr. Walther lachte, dass die Berge widerhallten. „Prinzen und Könige auf der Jagd! Das klingt alles wie im Märchen. Sicher gibt es auch Hexen und Spukgestalten hier in den Wäldern.“

„Ja“, bestätigte ich. „Auf den Bergen gibt es den Moospfaff. Er sieht aus wie ein Geistlicher, aber er führt die Menschen in die Irre. Man muss nur das Kreuz schlagen, wenn man ihn sieht, und darf nicht mit ihm sprechen.“

„Wer dem Teufel den kleinen Finger reicht, dem nimmt er gleich die ganze Hand. Weißt du, was das bedeutet?“, fragte Dr. Walther und hielt seine Hand hoch. Ich schüttelte den Kopf und sah interessiert zu. „Jeder Finger hat eine besondere Bedeutung“, erklärte er. „Der kleine Finger steht für das Ohr. Wer dem Teufel sein Ohr leiht, ihm also zuhört, den hat er bald an der ganzen Hand, wie Euer Moospfaff.“

Gern hätte ich ihm widersprochen, denn unser Moospfaff war doch ein Geistlicher, aber vielleicht hatte er ja Recht.

„Ich muss weiter“, sagte Dr. Walther. „Unsere Gespräche halten mich doch zu sehr auf. Ich melde mich. Grüß den Vater!“

Damit wandte er sich ab und eilte mit schnellen Schritten den Weg entlang. Ich winkte ihm noch nach und wartete, bis er hinter der Biegung verschwunden war.

Ob er wirklich das alte Fabrikgebäude kaufen würde? Die alte Farbenfabrik sollte ein Haus für Kranke werden? Nun man würde ja sehen, was geschah.

Nachdenklich schlenderte ich nach Hause und gab einem Stein einen Tritt, dass er weit ins Gebüsch flog. „Es gibt keine Märchenprinzen und keinen Moospfaff“, rief ich so laut, dass meine Stimme vom Waldrand widerklang. Und wenn es doch so wäre? Wenn der Moospfaff gar der leibhaftige Teufel wäre, wie Dr. Walther gesagt hatte, was dann? Ich schwieg doch lieber und lauschte. War da nicht jemand? Plötzlich war ich sicher, dass mir jemand folgte. Ich sah mich um, konnte aber niemanden entdecken, doch das Gefühl blieb: Du wirst beobachtet!

Ich war froh, als ich wieder an unserem kleinen Hof ankam und die Eingangstür öffnete. Da saß ein Polizist in Uniform an unserem Tisch. Er hatte seine Pickelhaube vor sich liegen und sah mich streng an. Sein Schnurrbart zitterte vor Aufregung, als er fragte: „Ist er das?“

 

„Ja“, sagte Vater und schaute mich an. Er saß dem Polizisten gerade gegenüber. Mutter stand am Herd und hatte ein Taschentuch vor den Augen. „Dass ich das noch erleben muss“, schimpfte Vater, „die Polizei in meinem Haus! Wir Spitzmüllers haben nie etwas Unrechtes getan. Am Sonntag gehen wir nach Nordrach in die Kirche. Wir halten unser Morgen- und Abendgebet. Wir verehren den Kaiser in Wien.“

„Berlin“, verbesserte der strenge Polizist und korrigierte den Sitz seiner blauen Uniform. „Spitzmüller, seit 1871 haben wir den Kaiser Wilhelm in Berlin. Das sollten Sie aber wissen!“

Dann wandte er sich an mich. Ich war mitten in der Stube stehen geblieben. „Wen hat er begleitet?“ Er nahm ein Notizbuch aus seiner Tasche.

„Herrn Dr. Walther“, antwortete ich. „Ich bin ihm in der alten Fabrik begegnet.“

„Was tut er in der alten Fabrik? Das Betreten des Gebäudes ist verboten. Weiß er das nicht?“

Er klemmte sich ein Monokel in das rechte Auge und betrachtete mich noch genauer. Da trat Vater für mich ein. „Mein Sohn ist nur ganz selten dort. Die viele Arbeit auf dem Hof lässt Müßiggang gar nicht zu. Unsere anderen vier Buben arbeiten in Zell in der Fabrik, unsere Mädchen haben sich auf den Höfen verdingt. Nur der Jüngste ist noch auf dem Hof.“

„So die sind Arbeiter in Zell. Sehr verdächtig! Kennt den Kaiser nicht und hat vier Buben als Arbeiter in der Zeller Fabrik!“ Er machte sich eifrig Notizen. Vater wurde abwechselnd rot und blass. „Aber wir sind gute Christen“, sagte er.

Ich wollte meinem Vater zu Hilfe kommen und sagte: „In der alten Farbenfabrik steht eine Kutsche. Ich möchte einmal Kutscher werden und so sitze ich manchmal auf dem Bock und träume.“

„Dafür hat er Zeit, für Träume! Das ist sehr gefährlich und verdächtig!“ Er wandte sich an meinen Vater. „Spitzmüller, ich denke, Sie werden Ihren Sohn zur Ordnung rufen müssen!“

Wieder richtete er eine Frage an mich. „Woher kennt er Doktor Walther?“

„Ich kenne ihn nicht richtig“, antwortete ich. „Er kam heute in die Fabrik und fragte, ob man sie kaufen könne.“

„Was will Dr. Walther mit dem alten Gebäude?“

„Darin will er kranke Menschen heilen.“

„In der alten Fabrik?“ Der Polizist lachte, dass sein Bauch bebte und der Schnurrbart zitterte. Vorsichtig stimmte ich in das Lachen ein und Vater auch. Für einen Augenblick entspannte sich die Lage. Der Gedanke war auch gar zu lustig, dass jemand in dem staubigen alten Bau Kranke heilen wollte.

„Woher sollen denn die Kranken kommen?“, fragte der Polizist streng. „Hier haben wir keine Kranken!“

Ich dachte an so manchen armen Menschen auf den Höfen, der hustete oder dem der Rücken von der schweren Arbeit weh tat.

„Aus Frankfurt“, sagte ich ganz harmlos. Der Polizist sprang auf. „Hat er das gesagt?“

„Dr. Walther kommt aus Frankfurt“, sagte ich ganz erschrocken. „Jetzt wohnt er auf dem Brandeck in Hinterohlsbach.“

„Junger Mann, er ist erstaunlich gut informiert. Vielleicht sollte man ihn mitnehmen und einsperren“, sagte er zu Vater, der sofort eindringlich bat. „Wir brauchen unseren Frieder. Er ist der Letzte, der uns blieb. Die Heuernte wartet. Er muss morgen auf die Höhen und Wildheu machen. Wer soll uns denn versorgen, wenn Ihr den Frieder mitnehmt.“

Der Polizist setzte sich und murmelte: „Ihr habt ja Recht, Spitzmüller. Wer soll sich um euch kümmern, wenn nicht er. Aber ich habe da doch noch eine Frage an ihn. Über was habt ihr sonst noch gesprochen?“

„Ich habe von den Jagdgesellschaften erzählt, die hier auf den Auerhahn gehen“, antwortete ich.

„Hat sich Dr. Walther Notizen gemacht? Sind Namen gefallen?“

„Er hat sich was aufgeschrieben“, erklärte ich und dem Polizisten fiel das Monokel aus dem Auge. „Er hat sich Notizen gemacht“, wiederholte er. „Sind Namen gefallen?“

„Nein“, antwortete ich, „er hat Tannen und Eichen als Wegzeichen gemalt, um sich nicht im Wald zu verlaufen. Er hat sich den Weg zu uns genau notiert.“

„Dann wird er wiederkommen?“

„Er will doch die Fabrik kaufen“, erklärte ich. „Vielleicht beginnt etwas ganz Neues. Vielleicht bringt er Arbeit hier ins Tal. Vielleicht gibt es Geld zu verdienen.“

„Hat er das gesagt, dass er Arbeiter bringen will?“

„Nein“, sagte ich mutig, „aber ich hoffe auf eine bessere Zukunft, als hier auf dem Höhenhof zu arbeiten. Ich möchte Kutscher werden, ich möchte ...“ Ich brach ab, denn Vater sah mich warnend an.

Der Polizist stand auf. Er blickte Vater von oben herab streng an. „Ich denke, Spitzmüller, Sie wissen, was Sie zu tun haben. Achten Sie darauf, dass der Bub keine Zeit mehr zum Träumen hat. Träume können einen jungen Menschen leicht ins Gefängnis bringen. Ich möchte Ihren Frieder ungern dort sehen.“

Dann wandte er sich an mich: „Und du, junger Mann, meldest mir, wenn sich dieser Dr. Walther hier je wieder zeigen sollte. Der Mann steht unter Beobachtung und ist sehr gefährlich. Halte dich fern von ihm, mach deine Arbeit, versorge deine Eltern und geh in die Kirche. Bete auch für unseren Kaiser Wilhelm in Berlin!“ Dabei sah er lächelnd auf Vater herab, der zu ihm aufschaute und nun rot wurde wie ein Schulbub. „In Berlin! Da spielt die Musik! Ich hoffe, dass ich nicht noch einmal den weiten Weg zur Kolonie machen muss. Gute Nacht, Spitzmüller, danke für den Schnaps und nichts für ungut!“

Vater und Mutter rührten sich erst, als man den harten Schritt der Stiefel nicht mehr hörte. Dann begann Vater zu schimpfen: „Wen hast du uns denn da ins Haus gebracht? Ein polizeilich beobachteter Gast in unserem Haus! Die Polizei auf unserem Hof! Du gehst mir nicht mehr in die Fabrik oder gar nach Hinterohlsbach! Sozialisten! Wollen die Welt verändern, unseren Kaiser absetzen, wollen mitreden dürfen in der großen Politik. Jede Obrigkeit ist von Gott eingesetzt, mein Sohn, so steht es schon in der Bibel. Wir haben kein Recht, uns gegen die Obrigkeit aufzulehnen. Unser Großherzog regiert das Land und, was er tut, ist recht. Außerdem gibt es auch noch diesen Kaiser ...“

Er stockte und Mutter half. „Kaiser Wilhelm in Berlin. Das sollten wir uns aber merken, Anton. Am letzten Sonntag ließ Pfarrer Balzer auch für ihn beten. Ich dachte mir doch gleich, dass er für unser Land wichtig sei, weil der Pfarrer so ausführlich für ihn und den Fürsten Bismarck gebetet hat. Ja, Bismarck hieß der Fürst. Ich erinnere mich ganz genau. Es ist sicher gut, auch das zu wissen.“

„Was sollen wir denn noch alles kennen?“, fragte Vater ärgerlich. „Wir leben hier in der Kolonie. Niemand will uns, niemand fragt nach uns, aber wir sollen die große Welt verstehen. Kommt die Polizei ins Haus und fragt mich, ob ich den Kaiser kenne. Er hat sich nicht bei mir vorgestellt, wollte ich vorhin sagen, aber du kennst ja den Lehmann.“

Er konnte nicht verhindern, dass er doch lachen musste. „Wenn der im Dienst ist, ist er unausstehlich. Eigentlich kennen wir uns gut. Wir saßen zusammen auf der Schulbank, aber wenn er seine Uniform trägt, ist er ein völlig anderer, dann kennt er niemanden mehr. Hätte unseren Buben am liebsten ins Gefängnis mitgenommen. Mutter gib uns den Brei! Wir haben Hunger. Wir wollen unserem Schöpfer danken, dass wir zu essen haben! Und dann wollen wir diesen Dr. Walther vergessen.“

Mutter stellte uns die Schalen mit dem abendlichen Brei aus Mehl und Wasser hin. Dann holte sie aus der Küche einen kleinen Krug Milch. „Mehr hat die Martha heute Abend nicht gegeben“, sagte sie entschuldigend. Vater nahm die Milch und goss sie über den Brei, dann gab er mir den Krug. Ich reichte ihn an Mutter weiter, aber sie wehrte ab: „Ihr Männer müsst gut essen“, sagte sie lächelnd. „Mir reicht der Brei, wie er ist.“ Ich ließ mir das nicht zweimal sagen und genoss die warme Milch.

In der Nacht kam der Moospfaff in meinen Träumen aus dem dichten Wald, sprach von Arbeitern und Sozialisten, drohte mit der Polizei, dem Gefängnis und dem ewigen Höllenfeuer. Dann erschien der rothaarige Dr. Walther und griff nach ihm. Der Moospfaff flüchtete und Dr. Walther lachte ihm nach. „Ich bin der Prinz“, sagte er zu mir. „Glaub mir das. Ich erlöse deine alte Fabrik. Du musst nur daran glauben.“