Nest der Störche

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Nest der Störche
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Gottfried Zurbrügg

NEST DER STÖRCHE

Geschichten aus dem weiten Land zwischen Elbe und Oder

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Coverfoto © muc_buidlmacher - Fotolia.com

ISBN 9783957440822

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Das Storchennest

In der Altmark nahe bei Wittenberge, das Tagebuch einer Dienstreise

Im niederen Fläming

Ein Segen aus schwindelerregender Höhe

Die ganze Liturgie in einem Stück!

Glocken über Petkus

Der Strukturwandel fordert ganz neue Ideen: das Tropical

Nasenbären-Naherholung

W – wie Weihnachten vor fünfzig Jahren

Wenn Ihr nicht werdet wie die Kinder …

Wir haben immer schon sonntags geöffnet

Der Engel von Waltersleben

Die Kirche zu den Menschen bringen!

Schrippen im Schwarzwald

Nachwort

Das Storchennest

„Die Störche kommen jedes Jahr wieder!“, sagt Börnecke mit einem leichten Lächeln um seinen Mund, den der schwarze Bart fast ganz verdeckt. Börnecke ist eins der liebenswerten Geschöpfe, die in diesem weiten Land entstehen. Er ist für mich sichtbar und spürbar, als sei er ein Mensch, der mit uns die Landschaft und ihre Bewohner erlebt. Vielleicht entstehen solche Geschöpfe in den vielen leeren Häusern, die es hier gibt, in denen eigentlich Menschen wohnen könnten, aber nur noch Erinnerungen die Fenster öffnen. Börnecke ist mir sehr hilfreich, um die Landschaft und ihre Menschen verstehen zu können. Seine Kommentare sind stets sehr deutlich, denn im Gegensatz zu einem Pfarrer braucht er kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Wir stehen unter einem Storchennest, das kunstvoll auf einem Wagenrad, das auf einen hohen Pfahl gesteckt wurde, gebaut ist. Viele Meter hoch türmt sich der Haufen aus Reisig und oben stehen die Jungstörche bereit zum ersten Start in das neue Leben. „Sie werden bald losfliegen“, sage ich. „Sie lernen es mit dem Wind umzugehen.“ Eine Windböe zerzaust den Jungstörchen das Gefieder und sie schlagen aufgeregt mit den Flügeln, wagen aber noch nicht den Absprung vom sicheren Nestrand. „Und Sie, werden Sie auch wiederkehren?“ Die Frage gilt mir, als sei ich auch einer von den Jungstörchen und bereits dabei fortzufliegen. „Ich bleibe noch ein paar Tage“, versichere ich und weiß, dass ich damit die Frage nicht beantwortet habe. Börnecke schaut mich durch die kleinen runden Brillengläser prüfend an. Es ist schwer diesem Blick zu widerstehen. „Ja“, antworte ich nun doch, „ich werde wiederkehren in das Land, in dem die Störche noch zu Hause sind, in das Land, wo der Wind in den Windrädern braust, in das Land, wo der Horizont so unendlich weit ist.“ Eben kommt eine neue Windböe und diesmal wagen sie es. Der Wind nimmt die Jungstörche mit hoch in die Luft und sie segeln über die Stoppelfelder, als hätten sie nie etwas anderes getan. „Noch ein paar Tage“, meint Börnecke und seine Worte betreffen mich ebenso wie die Jungstörche. Er muss nicht weitersprechen. Ich weiß auch, dass mein Auftrag hier zuende geht und ich heimkehren werde in den Schwarzwald, wo ich heimisch geworden bin. „Sie hauen auch ab?“, so hat mich am Morgen die Angestellte im Bäckerladen gefragt, und man hörte zu deutlich, wie gern auch sie mit in den Süden davongezogen wäre. „Nein“, habe ich geantwortet, „nein, ich fahre nach Hause, denn meine Zeit hier ist um.“ Sie hat mich nur angesehen mit einem Blick, der mir hier oft begegnet ist, einer Mischung aus Sehnsucht und Neid. „Ich komme wieder.“ Es klang wie ein Versprechen und ich habe es auch so gemeint, auch wenn sie mich zweifelnd ansah. „Die Störche kommen auch wieder, jedes Jahr“, habe ich gesagt. „Ja, die Störche …“, meinte sie, ohne den Satz zu vollenden. „Wir sollten hineingehen, die Frauen warten auf uns“, sagt Börnecke und geht voraus in das alte Pfarrhaus, in dem schon lange kein Pfarrer mehr wohnt. Es ist ein großes Haus, aus schwarzen Fachwerkbalken gebaut, das Fachwerk mit Ziegeln gefüllt, darüber ein riedgedecktes Dach. „Mein Großvater war Pfarrer in Brandenburg“, sage ich und merke, dass ich mich wiederhole. Wie oft habe ich in den letzten Wochen diesen Satz gesagt, um zu begründen, dass ich aus dem Schwarzwald, dem Land, von dem so viele Menschen träumen, hierher gekommen bin. Braucht es eine Begründung, weshalb jemand kommt? Ist es nicht ein wunderbares Land mit den weiten Feldern, den alten Baumbeständen und den vielen Störchen? Vielleicht brauche ich diese Erklärung, denn ich will mich hier heimisch fühlen, ich will ausdrücken, wie sehr ich doch auch hier Wurzeln spüre. Meine Großväter sind ausgewandert, wie viele Menschen auch hier, der eine aus der Schweiz nach Norddeutschland, der andere aus Brandenburg in den Westen. Wir wohnen nun im Schwarzwald und sind selber umgezogen von Bielefeld in den Schwarzwald. Keine weiten Strecken, kein Amerika, kein Australien und doch haben sie und wir die Heimat verlassen.

Mittlerweile sind wir in dem großen Saal angekommen, in dem die Frauen den Tisch sorgfältig mit Kuchen, Torten und belegten Broten, wie es hier üblich ist, gedeckt haben. Um den langen Tisch sitzen Frauen im Alter zwischen fünfzig und achtzig Jahren und sehen mich erwartungsvoll an. Ich schaue mich nach Börnecke um, aber er ist verschwunden, wie immer in den letzten Wochen. Er begleitet mich, er stellt Fragen, er weist mich an, aber dann ist er verschwunden und ich stehe allein der Aufgabe gegenüber.

Man weist mir den Platz am Kopf des Tisches zu. „Dort sitzt immer der Pfarrer“, sagt eine nette alte Dame, die sicher seit vielen Jahren diesen Kreis leitet. „Dort hat er immer gesessen“, will ich antworten, „dort könnte auch mein Großvater gesessen haben, oder mein Vater, der auch Pfarrer war.“

„Die Störche haben das Nest verlassen“, sage ich, wie zur Entschuldigung. „Sie haben alle das Nest verlassen.“ Ein einfacher Satz, der alles umschreibt. Das trifft die Situation hier. Die Jungen haben das Nest verlassen, sind nach Süden gezogen. „Die Störche kehren jedes Jahr zurück“, ergänzte ich, um den Satz in seiner Bitterkeit zu entschärfen.

„Die Störche …“, antwortet eine Frau wie die Bäckerin.

„Mein Großvater war Pfarrer in Brandenburg“, höre ich mich erklären und dann spreche ich über das herrliche, weite Land, das mich so begeistert, über die vielen schönen Erfahrungen, die ich gemacht habe, über die Menschen, die ich kennen gelernt habe. „Werden Sie wiederkommen?“ Die Frage kommt so regelmäßig, wie meine Erklärung, warum ich hier bin.

„Ja“, sage ich und meine es ganz ehrlich. „Ja, ich werde wiederkommen. Im Schwarzwald bin ich zuhause, aber ich habe das Land zwischen Elbe und Oder schätzen und lieben gelernt. Ich werde wiederkommen, um mehr zu erfahren, wie die Menschen hier mit den schwierigen Bedingungen fertig werden, wie sie ihre Kirchen renovieren und ihren Glauben leben, wie sie neue Wege finden, die alten Dörfer neu zu besiedeln, wie sie mit den Kindern umgehen und ihnen den Glauben nahe bringen, wie sie es schaffen, Hoffnung zu haben.“

In der Altmark nahe bei Wittenberge, das Tagebuch einer Dienstreise

Die Kirche ist das Zentrum des Dorfes!

23.7.

Nach fast 1.000 Kilometern angekommen! Die Fahrt war erstaunlich problemlos und ohne viele Staus. In Stendal haben wir eine lange Pause gemacht und uns die Marienkirche genau angesehen. Sie hat eine berühmte astronomische Uhr. Ein Uhrmacher entwarf sie in der Reformationszeit und baute sie für die Kirche. Doch dann erkannte er, dass er dabei war das Universum darzustellen und das Handwerk des Schöpfers nachzuahmen. Entsetzt über diese Anmaßung zerstörte er das Uhrwerk. Erst jetzt gelang es die Uhr wieder herzustellen. Heute sieht niemand mehr im Bau einer Uhr eine Blasphemie. Mehr und mehr versucht man dem Schöpfer auf die Hände zu sehen und seine Schöpfung nachzuahmen. Von Stendal aus ging es bei Wittenberge über die Elbe, durch die Elbmarschen nach Perleberg und dann nach Berge. Überall stehen Windräder und geben dem Land ein ganz besonderes Aussehen. Endlos scheinen die Felder, sind aber immer wieder unterbrochen durch Alleen und kleine Wälder rund um Seen und Teiche, die wohl Todeislöcher aus der letzten Eiszeit sind.

 

Berge liegt in der Altmark, ein Zipfel von Brandenburg zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt. Man ist stolz darauf, ein Brandenburger zu sein. Das zeigen die roten Adler auf jedem Grenzstein. Vielleicht hatte das einmal eine ganz große Bedeutung, die sich mir nicht gleich erschließt. Für mich ist es toll im Land der Rundlinge zu sein und sich dort wohl zu fühlen und zu arbeiten.

In Pirow, einem der echten Runddörfer oder Rundlinge, waren wir abends noch zu Gast bei Lorenzo im Pinocchio. Zum Glück, denn einen Tag später wäre er in Urlaub gewesen und wir hätten seine Gastfreundschaft nicht mehr genießen können.

Am späten Abend kamen wir in Berge am Pfarrhaus an. Es ist ein langgestreckter Bau aus Fachwerk und roten Ziegeln. In dem großen Haus werden wir nun ganz alleine wohnen, denn das Pfarrerehepaar ist schon zu einer Rundreise nach Schweden aufgebrochen.

24.7.

Früh morgens vom Gesang der Vögel erwacht! Das Pfarrhaus liegt wunderschön zwischen hohen alten Bäumen. Viele alte Häuser sind so gebaut. Zum Anwesen gehören Scheunen und eine Feldsteinkirche. Der Sockel solcher Kirchen ist immer aus Feldsteinen gebaut und darüber stehen die Mauern aus Ziegeln.

Ich habe heute Morgen den Seniorenkreis vorbereitet. Es wird hoffentlich ein interessanter Nachmittag, denn ich habe gar keine Vorstellung, was da auf mich zukommt. Vor allem aber freue ich mich auf die Menschen und die gemeinsame Zeit mit ihnen.

In Tangendorf gab es dann auch eine Überraschung für uns. Wir machten einen Spaziergang durch das Dorf, das nur aus einem Kreis Häuser um eine Wiese bestand, und auf dem Weg gesellten sich nach und nach ältere Frauen zu uns. Nach dem Rundgang hatten wir den Frauenkreis beisammen! Wir gingen gemeinsam in die kleine Kapelle, die 1953 gebaut worden war. Diese Frauen treffen sich einmal im Monat in der Kirche zum Gemeindenachmittag, aber sie halten auch sonst zusammen, denn in vielen Häusern lebt nur noch eine alte Frau als Rest einer großen Familie. Die Kinder sind fortgezogen, weil sie keine Arbeit fanden, und sie kommen auch nicht mehr wieder, denn sie sind an anderen Orten heimisch geworden. Was wird aus den Rundlingen einmal werden?

Das wird nicht einfach sein für die Gegend der Prignitz, die doch wunderschön ist.

In den alten Bäumen rauscht der stetige Wind, die weiten Kornfelder sind abgemäht. Über die Stoppeln fliegen Kraniche und Kornweihen im Tiefflug. Auf einem Storchnnest standen vier verregnete, ganz offensichtlich unglückliche Jungstörche hoch auf einem Gerüst. Die Natur holt sich überall die alten Häuser zurück, indem sie zuwachsen und sicher irgendwann einmal unter der Last der Pflanzen zusammenbrechen werden.

In der Kapelle war eine festliche Tafel mit Kuchen und belegten Broten aufgebaut. Thema des Nachmittags war die Tageslosung. „Der Herr will gesucht werden“, das war der Kern der Losung. Wir sind aufgefordert, Jesus zu suchen, von ganzem Herzen zu suchen, dann wird er sich herrlich zeigen und uns Mut und Kraft für das Leben geben. Wird das so sein? Es war mir, als stünde Börnecke neben mir und nicke mir zu.

„Tangendorf hat eine Zukunft“, flüsterte er. Ich bin froh, dass er mich durch die Altmark begleitet.

Später wurden Geschichten vorgelesen. Ich las: „Der Himmel ist nicht so fern“ und „Katjas persönlicher Engel“. Beide stehen in dem kleinen Buch „Manchmal brauchst du einen Engel“. Das Buch bekam ein Geburtstagkind als Geschenk und hat sich riesig gefreut.

Danach besuchten wir ein älteres Ehepaar. Sie leben in einem kleinen Haus in Wolfshagen nahe bei einem wunderschön restaurierten Schloss. Dort wird eine Ausstellung „Landadel und Porzellan“ gezeigt. Der Landadel war als Arbeitgeber einmal sehr wichtig. Die beiden Alten kamen aus Schlesien, aber sie leben nun schon seit mehr als fünfzig Jahre in Wolfshagen und kennen jeden im Dorf. Sie sind treue Gemeindemitglieder und haben uns aufs Herzlichste aufgenommen, als wir uns vorstellten. „Wir kommen von der Kirchgemeinde!“ Das reichte aus, um mit ihnen gemeinsam einen schönen Abend zu verbringen.

25.7.

In Berge gibt es keinen Laden, deshalb fahren wir nach Karstädt zum Einkaufen, An manchen Tagen kommt auch ein Wagen und versorgt die Leute mit dem Wenigen, was sie brauchen. Aber man muss natürlich wissen, wann der Wagen wo steht. Für uns war es ganz schön schwierig das herauszufinden. Wer ein Auto hat, fährt nach Karstädt oder Perleberg, um dort einzukaufen.

Nach dem Einkauf in Karstädt fuhren wir auf die Ruhner Berge. Auch bei genauem Hinschauen waren für uns Schwarzwälder keine Berge zu entdecken, aber endlose Eichen-Kiefernwälder und weite Ackerflächen. Auf einem Hügel gibt es einen alten Aussichtsturm und von ihm aus kann man weit ins Land gucken. Vogelkundler kommen hier bestimmt auf ihre Kosten. Die Störche stehen noch auf ihren Nestern. Kraniche haben wir auch schon gesehen! Wir haben von Kranichschwärmen gehört, die in Minuten ein ganzes Feld leer fressen sollen!

Am Nachmittag waren wir in Seddin. Der Frauenkreis war ganz anders. Wie Börnecke mir gesagt hatte, brachte jede Frau ihren eigenen Kuchen und ihr eigenes Geschirr mit. Diesmal dauerte es auch länger, bis der Funken übersprang und wir zu einer Gemeinschaft wurden.

Die Zeit mit den Frauen verlief trotzdem sehr positiv und ich glaube, auch Börnecke war zufrieden, denn er gab keinen Kommentar ab. Nach dem Frauenkreis gingen wir zu der großen, grauen Kirche hinüber.

Er wandte sich erst an mich, als ich mir die Kirche von innen ansah. „Sieht man der Kirche von außen gar nicht an, dass sie so schön ist“, meinte er. Die Kirche war lutherisch gebaut, d.h. sie hatte einen sehr langen Chor und dort stand der Altar, weit entfernt von der Gemeinde. „Das wird aber einsam, wenn man dort vor dem Altar Gottesdienst hält, oder?“, meinte Börnecke. „Das kennst du aus den badischen Kirchen sicher nicht.“

„Aber das ist in lutherischen Kirchen so üblich“, habe ich geantwortet und mich gefragt, wie man sich da wohl fühlen wird. „Gott nahe und den Menschen fern“, meinte Börnecke und fand das so ganz in Ordnung.

Nach dem Frauenkreis besuchten wir noch eine Familie in Steinberg bei Gulow. Die Fahrt dorthin über die Feldsteinstraßen war ein Erlebnis. Die Straße war voller Schlaglöcher und mit groben Steinen gepflastert. Sie war so gewölbt, dass ich am Rand fahren musste, um nicht meinen Auspuff zu beschädigen. Wir waren als Gäste sofort willkommen. Der Ortsvorsteher, ein Polizist und Bauer, war auch dort. Von ihm hörten wir mit Staunen, dass die Prignitz als „entvölkert“ gilt und man die Verwaltung, die Polizei und auch die Pfarrämter deshalb enorm ausgedünnt hat. Entvölkert! Noch leben hier Tausende von Menschen, noch sind die Dörfer intakt und haben ihre Struktur, auch wenn schon viele Häuser leer stehen, aber entvölkert?

Ich bin gespannt auf den Sonntag – wie die Gottesdienste sein werden.

26.7.

Heute liegt der Frauenkreis in Reetz an. Wieder ein ganz anderes Dorf! Natürlich werden wir unser mittlerweile bewährtes Programm mit Andacht, Kaffee und Engelbert weiterführen.

Am Vormittag sind wir auf den Aussichtsturm auf den Ruhner Bergen gestiegen. Ganz so flach waren die Hügel dann doch nicht. Man sah über das weite schöne Land mit Feldern und vielen Wäldern. Das Wort „entvölkert“ geht mir noch nicht aus dem Sinn. Hier gab es einmal große Güter und viele Menschen hatten Arbeit und Brot.

Auf dem Rückweg kamen wir an ein Schild, das an das ehemalige Dorf Ruhn erinnert, dass 1982 abgerissen wurde, weil niemand mehr dort lebte. Wird es den Dörfern, die wir jetzt kennen lernen, genauso gehen? Was wird dann hier entstehen? Mitten in Deutschland!

In Tangendorf hatten wir den Eindruck, dass die Leute das kennen, als sie sagten: „Wenn wir nicht mehr sind, dann kommen die Planierraupen und machen alles platt.“ Ja, das ist tatsächlich denkbar, dass wunderschönes Kulturland hier völlig verschwindet und mit ihm all die schönen Feldsteinkirchen, die ihren ganz eigenen Ausdruck haben und die Kultur in jedem Dorf widerspiegeln.

Am Nachmittag hatten wir Frauenkreis in Reetz in einem Gemeindehaus, das so sehr nach DDR Improvisation aussah. Es war ein netter Frauenkreis. Die Tageslosung war diesmal sehr gut. Es ging um Dank und Gebet und ließ sich wunderbar darstellen. Die älteren Frauen sprachen sehr eifrig miteinander und hörten auch gut zu, aber wir waren Gäste.

Wir sind dann noch in die kleine Kirche gegangen, die mehr einem Feuerwehrhaus aus rotem Backsteinfachwerk ähnlich sah. Aber innen war sie wunderbar restauriert. Die Kanzel steht über dem Altar! Eine eigenartige, wenn auch durchaus sinnvolle Anordnung. Ich habe auf der Kanzel schon einmal Probe gestanden. Börnecke musste natürlich kommentieren. „Probestehen! Wo gibt es denn so etwas! Überhaupt, wer geht denn heute noch auf die Kanzel!“, brummte er.

Nach dem Frauenkreis fuhren wir nach Groß-Linde, um dort ein altes Ehepaar zu besuchen. Den beiden alten Leuten ging es relativ gut und wir erfuhren viel über die Geschichte des Dorfes. Es hat eine große Junkerkirche, die einmal ein stattliches Gut repräsentierte. Aber heute gehören fünf Menschen zur Gemeinde. Trotzdem findet noch Gottesdienst in der Kirche statt. Eine neue Gemeinde wird kaum entstehen, denn es gibt keine jungen Leute und keine Arbeit im Dorf. Wie lange wird die Kirche noch erhalten bleiben? Sie ist neugotisch gebaut und wirklich sehenswert.

Ja, Landpfarrer zu sein, ist ganz schön anstrengend.

27.7.

Ein freier Tag! Heute liegen keinerlei Termine an und ich bin sehr froh darüber. Wir wollen nachher in das Storchendorf Rühstädt fahren, wo auf fast jedem Haus ein Storch nistet. Das regnerische Wetter hat dieses Jahr weniger Störche groß werden lassen als sonst. Jedenfalls beklagen alle hier den deutlichen Rückgang dieser Vögel, die hier noch als Frühlingsboten herzlich willkommen geheißen werden.

Nach einem schönen Frühstück fuhren wir nach Rühstädt. Die Straßen waren holperig und schwer zu fahren, aber wir sind gut hingekommen und haben viele Störche gesehen.

Viele Stunden sind wir von Storchennest zu Storchennest gelaufen und haben uns alles angesehen. Es war sehenswert. Die Jungstörche waren alle kurz vor dem Flüggewerden und flatterten auf den Nestern auf uns ab.

Wir besuchten das Storchenzentrum des Nabu und auch das schönere private Storchenhaus. Per Videokamera konnte man direkt in jeweils ein Nest sehen.

Über Bad Wilsnack ging es zurück nach Berge. Bad Wilsnack war einmal ein ganz berühmter Wallfahrtsort, der die Geschichte so deutlich wiedergibt, wie ich es bisher nie erfahren habe. Bei einem Brand in der Kirche blieben nur drei Hostien auf dem Altar übrig. Auf ihnen waren rote Flecken zu sehen, die als Blut Christi gedeutet wurden. Die Hostien galten als unzerstörbar und erinnerten so besonders an die Ewigkeit. Viele Pilger kamen von weit her um die Reliquien zu sehen.

Besonders erschüttert hat mich das „Bad Wilsnack-Laufen“. Kinder und Jugendliche fanden sich zu Kreuzzügen nach Bad Wilsnack zusammen, um dort um Linderung ihrer Situation zu bitten. Was müssen die Kinder und Jugendlichen gelitten haben! Die Kreuzzüge wurden verboten! Was sollte man auch anders tun?

Der erste evangelische Pfarrer verbot jegliche Wallfahrt zu den „heiligen Oblaten“ und verbrannte die angeblich unzerstörbaren Reliquien. Die Erinnerung an die Pilgerströme wird jetzt mit neuen Wallfahrten gefeiert. Auch Bad Wilsnack braucht neue Anziehungspunkte und neue Kraft, um im allgemeinen Wettbewerb zu bestehen. Wie unterschiedlich doch die Motivationen für das Entstehen einer Wallfahrt sind.

Natürlich spielt das Moorbad auch eine große Rolle und auch wir fahren sicher einmal in das Thermalbad, um uns beim Schwimmen zu erholen. Das Wetter soll wieder regnerisch werden und dann sind Wanderungen ungeeignet und ein Schwimmen wäre das Richtige.

28.7.

Samstagmorgen. Das angesagte Regenwetter blieb aus, und wir sind nach Lenzen an die Elbe gefahren. In Lenzen riss der Himmel dann auf und wir konnten bei Sonnenschein, aber mit drohenden Regenwolken mit der Fähre über die Elbe fahren. Auch hier erstreckten sich wunderschöne Wiesen entlang der Elbtalaue, aber von Wanderweg keine Spur. Deshalb fuhren wir bald zurück in unser Brandenburg und liefen auf dem Elbdeich dort. Man hätte stundenlang auf dem Deich laufen können! In den Elbniederungen sammelten sich die Kiebitze und flogen hin und her. Zuerst hörte ich ihr Rufen, dann entdeckten wir die Schwärme direkt an der Elbe. Ich ging zu einem Teich in die Niederungen hinunter. Kröten, Frösche und eine Ringelnatter flüchteten geräuschlos in das Wasser. Zurück auf dem Deich liefen wir noch eine Stunde und freuten uns an der schönen Landschaft. Auf der Elbe selber war erstaunlich wenig Schiffsverkehr, und das lag sicherlich nicht nur am Samstag. Der Oberlauf der Elbe bei Dresden wird dicht befahren, aber wohl um die Städte dort zu versorgen. Die Elbe von Hamburg aufwärts bis Wittenberge fahren jetzt nur noch wenige Schiffe. Die große Zeit auch des Schiffsverkehrs und der Eisenbahn ist vorbei. Lastwagen transportieren die landwirtschaftlichen Erträge. Über die schier endlosen Felder fahren riesige Schlepper und hohe Lastwagen. Großgrundbesitzer wirtschaften mit wenigen Menschen und vielen Maschinen. Auf den Feldern bleiben die Windkraftwerke zurück, die im Winde rauschen und die manchmal im Abendrot kitschig, aber doch irgendwie schön, rosa leuchten.

 

Nach dem Laufen auf dem Deich fuhren wir zur Burg Lenzen, tranken dort Kaffee, stiegen auf den Turm und informierten uns über die wechselvolle Geschichte der Landschaft. Die DDR-Zeit mit dem folgenden Strukturwandel waren die einschneidendsten Erlebnisse für die Menschen hier im ehemaligen Grenzgebiet. Viele Menschen starben in der Elbe bei dem Versuch hier die innerdeutsche Grenze zu überwinden.

Der Wandel nach der Wende brachte für viele nichts Gutes. Die funktionierenden Betriebe wurden stillgelegt, die Menschen wanderten aus den Dörfern aus und überall blieben die alten Frauen zurück, die mit der Einsamkeit fertig werden müssen. Börnecke war sehr still, als wir zurückfuhren. Er kennt ja die Tragik der Landschaft an der Elbe, aber für mich war alles eine ganz neue Erfahrung.

Auf dem Rückweg fuhren wir noch einmal über die Elbe und dann über Schnackenburg und Lanz mit einer zweiten Fährenfahrt. Die Elbe bei Lanz wirkte hier wie ein Strom und war fast dem Rhein vergleichbar.

Mit einem wunderschönen Abendrot kamen wir zurück nach Berge. Wir hatten Störche, Schwarzstörche und Adler gesehen, eine wunderschöne Landschaft erlebt und doch auch immer wieder erfahren, wie wenige Menschen hier noch leben.

Neue Einwohner versuchen sich mit Tourismus, aber nur wenige Touristen kommen in das Grenzland und die endlose Weite. Vogelbeobachtungen sind hier möglich und man weiß um den Segen des Naturschutzes. Für viele Dörfer wird einmal das Aus vielleicht kommen. Aber noch renovieren die Bewohner ihre Dorfkirchen, noch läuten manchmal die Glocken, und das macht Hoffnung, dass ein wenig von der Dorfstruktur erhalten bleiben kann.

„So ist es!“, bestätigte Börnecke mutig. „Solange noch die Glocken läuten, solange bleiben die Dörfer bestehen.“

29.7.

Heute Morgen hatten wir Gottesdienst im Stundentakt, eine ganz neue Erfahrung für mich.

9.00 Uhr Pirow, 10.00 Uhr Gürlitz, 11.00 Baek! In Pirow wurden wir freundlichst empfangen. Außer sechs alten Damen war sogar ein Kirchenältester da. Ich hatte zwar einen Recorder dabei, um mit einer CD die Orgel zu ersetzen, aber es war viel natürlicher, selber die Lieder anzustimmen und zu singen. Der Gottesdienst lief gut und nach einer guten halben Stunde ging es weiter nach Gürlitz. Die Strecke über Land war ziemlich weit und wir waren sehr froh, dass uns jemand vorausfuhr, damit wir das Dorf einfacher finden konnten. So waren wir pünktlich in Gürlitz, einer wunderschönen neugotischen Kirche, wo zehn alte Damen auf uns warteten. Die Kirche war gut gepflegt und renoviert. Gern wäre ich auf die Kanzel gegangen, doch ein Rednerpult zeigte, dass der Pfarrer von dort predigt. Der Gottesdienst lief gut und die Lieder klangen in der Kirche hoch zum Kirchendach.

In Gürlitz wurde früher Braunkohle gefördert und es war ein reiches Dorf. Nach der Wende kam der Abbau zum Erliegen und Gürlitz verlor sein Einkommen und seine Arbeitskräfte. Börnecke meinte, wir sollten froh sein, dass wir zu jener Zeit hier nicht leben mussten. „Da war doch alles voller Staub und Dreck!“ Vielleicht hat er Recht.

Jedenfalls gefiel uns Gürlitz und die Kirche war wunderschön renoviert worden.

Das fiel uns besonders im nächsten Ort in Baek auf. Nur drei alte Damen erwarteten uns in einer wunderschön restaurierten Kirche. Sonst sind es dort immer sechs Besucher, aber heute fehlten einige aus dem Kreis. Trotzdem hielten wir Gottesdienst ab und erfuhren alle, wie wahr das ist: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen!“ Ja, es war ein Stück Himmelspforte, so wie es in Pirow an der Wand über dem Altar steht. Ein guter Geist war in der leeren Kirche, die so sehr hallte, aber es schien so, als seien alle Reihen besetzt. Selten habe ich so etwas erlebt. Nach dem Gottesdienst hatten wir noch Zeit zu erzählen und die alten Damen sprachen von einer erstaunlichen Begebenheit. Bei der Kirche brach das Dach ein. Plötzlich war die Kirche nur noch eine unbrauchbare Ruine. Aber die gesamte Gemeinde gab viel Geld und freiwillige Helfer arbeiteten viele Stunden, um ihre Kirche zu erhalten. Nein, die Kirche wollte man nicht zu einer Ruine verfallen lassen, auch wenn man am Sonntag nicht in den Gottesdienst gehen konnte. Das waren zwei Paar Schuhe. So erhielt Baek seine gotische Feldsteinkirche mit dem ganz besonderen Turm, der an die reich verzierten Kirchen der großen Reichs- und Hansestädte erinnert. Baek war sicher auch einmal ein bedeutendes Dorf.

Der Erhalt der Kirchen im Kirchspiel Berge war Verdienst des Ortspfarrers. Das muss an dieser Stelle ausdrücklich gesagt werden. Wie alle Pfarrer musste auch er einen handwerklichen Beruf lernen, um im Arbeiter- und Bauernstaat als Pfarrer arbeiten zu dürfen.

Der Ortspfarrer wurde Bauingenieur und ein begnadeter Baumeister, der auch Arbeiten zu führen weiß. Ohne ihn wäre ganz sicher schon manche der Dorfkirchen eine Ruine.

Als wir auseinander gehen wollten, weinte eine der Frauen plötzlich ganz furchtbar. Aus dieser wunderbaren Gemeinschaft in die Einsamkeit ihres Hauses! Das konnte sie eine Zeitlang nicht verkraften, denn sie ging schwerfällig an einer Krücke und hatte auch schon einen Schlaganfall hinter sich. Sie brauchte lange, bis sie sich so weit erholt hatte, dass sie es wagen konnte, nach Hause zu gehen, denn es gab doch keinen anderen Ort, wo sie hingehörte. Die Kinder wohnten zwar in der Nähe, aber eben nicht im Haus. Die anderen Mitglieder der Großfamilie lebten bei Wismar, aber eben nicht hier.

Die Erfahrung machten wir immer wieder. Gerade für ältere Menschen ist die moderne Mobilität schwer zu ertragen. Zwar gibt es noch die Großfamilie, aber sie lebt eben nicht mehr zusammen im Haus oder im Dorf. So gibt es in den Häusern hier viel Leid und Einsamkeit.

30.7.

Heute haben wir einen freien und dem Anschein nach sonnigen Tag. Da sind wir ganz früh aufgestanden und losgefahren. Über den weiten Himmel zogen Wolken, aber dazwischen gab es immer wieder Wolkenlücken und das ließ uns auf Sonne hoffen. Wir fuhren nach Wismar und weiter nach Poel. Der Ortsname Timmendorf ließ manche Jugenderinnerung wach werden. Wir wollten es gerne wiedersehen.

Poel ist eine Marschinsel wie auch Rügen. Wir kamen nach Timmendorf am Strand, einem ganz kleinen Ort am Rande der Insel, aber dort gab es keine Hotels und keine Uferpromenade und hat es nie gegeben. Erst jetzt wurde mir ganz klar, dass man in den fünfziger Jahren niemals in die DDR gefahren war. Natürlich nicht! Eine Rückfrage bei den Leuten und ein Blick auf die Karte und ich erkannte meinen Irrtum. Timmendorfer Strand ist ein bekannter Badeort an der Ostsee bei Lübeck! Vielleicht fahren wir am Samstag dorthin. Bis dahin ist noch viel zu tun!

Wir gingen trotzdem an den Strand. Regenschauer peitschten über das Land und starker Sturm kam auf. Der Strand wirkte zunächst sehr klein und wir zogen uns lieber in den „Seestern“ zurück, einem Lokal mit einem Obergeschoss, von dem aus wir die sturmgepeitschte Ostsee sehen konnten. Nach einem zweiten Frühstück dort gingen wir dann doch noch einmal an den Strand. Ein Teil der Küste ist Steilküste, wo das Land aus Sand und Geröll immer wieder in die Ostsee abbricht. Der Boden ist Grundmoräne und matschig und rutschig. Ich weigerte mich an der Steilküste entlang zu klettern. Das erschien mit dann doch gar zu gefährlich. Mehr durch Zufall fanden wir dann auf der anderen Seite den Sandstrand und kämpften uns gegen kalten Wind und Regen am Strand entlang. Total durchnässt fanden wieder im „Seestern“ einen Unterschlupf. Zum Mittag gab es Folienkartoffel mit Quark.

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