Geschichte der deutschen Literatur. Band 5

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Geschichte der deutschen Literatur. Band 5
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Geschichte der deutschen Literatur

Band 1. Humanismus und Barock

Band 2. Aufklärung

Band 3. Goethezeit

Band 4. Vormärz und Realismus

Band 5. Moderne

Gottfried Willems

Geschichte derdeutschen LiteraturBand 5

Moderne

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN · 2015

Gottfried Willems war Inhaber des Lehrstuhls für Neuere undNeueste deutsche Literatur an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

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© 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar WienUrsulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.comAlle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzesist unzulässig.

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld

Druck und Bindung: Pustet, Regensburg

Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier

Printed in the EU

UTB-Band-Nr. 4249  |  ISBN 978-3-8252-4249-7

1 Einleitung

1.1 Moderne Literatur und moderne Welt

Die Erste Moderne

Was ist moderne Literatur, und was ist an ihr das Moderne? Dieser Frage soll im folgenden am Beispiel der deutschen Literatur der Jahre 1885 bis 1930 nachgegangen werden, der Literatur der Zeit, in der auch im deutschen Sprachraum eine moderne Kunst Gestalt angenommen und sich ihren Platz im kulturellen Leben erobert hat. Denn an ihr, der Literatur der „Ersten Moderne“, läßt sich das, was Literatur zu moderner Literatur macht, unter seinen Entstehungsbedingungen studieren, und das erlaubt ebensowohl einen besonders sicheren Zugriff auf die sozial- und kulturgeschichtlichen Entwicklungen, die weltanschaulichen Diskussionen und die kreativen Impulse, aus denen sie erwachsen ist, wie einen besonders klaren Blick auf die Themen und Formen, in denen sie sich realisiert hat. Darüber hinaus sollen im folgenden immer einmal wieder Vorstöße bis in die Gegenwart unternommen werden, um die Befunde zu sichern und das Bild abzurunden.

Die moderne Literatur der Jahre 1885 bis 1930 in den Blick zu nehmen – das heißt vor allem von dem zu handeln, was im Umkreis der literarischen Bewegungen des Naturalismus, Symbolismus, Expressionismus und Dadaismus an Neuem entstanden ist. Denn nicht alles, was seinerzeit geschrieben worden ist, nicht einmal der überwiegende Teil, hat modern sein wollen oder können. Das Gros der Literatur ist älteren Modellen des Schreibens verhaftet geblieben, vor allem denen des Realismus, wie sie sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herangebildet hatten. Zwar ist gerade dieser Realismus von den Verfechtern des Neuen als überholt empfunden und in Grund und Boden kritisiert worden, doch hat er darüber kaum etwas von seiner prägenden Kraft eingebüßt. Die große Masse des Geschriebenen hat sich weiterhin in den Bahnen bewegt, die durch ihn eröffnet worden waren, und dies keineswegs nur in den ersten Jahrzehnten der Moderne, sondern durch das gesamte 20. Jahrhundert hindurch. Noch weite Teile der Buchproduktion der Gegenwart können nicht wirklich modern heißen, lassen sich sehr viel besser von den Traditionen des Realismus her begreifen. Unter dem Titel Symbolismus soll hier auch all das verhandelt werden, was die Literaturgeschichte unter den Begriffen der Décadence, des Fin de siècle, der Jahrhundertwende, der Neuromantik und des Jugendstils verbucht hat, denn was daran modern ist, verdankt sich wesentlich den Modellen des Symbolismus.

Eine Revolution der Kunst

Die Jahre von 1885 bis 1930 sind die heroische Zeit der modernen Kunst. Die Welt der literarischen Formen gerät in einem Maße in Bewegung, das die Geschichte noch nicht gesehen hat. Eine Innovation jagt die nächste, ein Experiment löst das andere ab, ja es werden immer wieder Revolutionen ausgerufen, die auf die gesamte Verfassung des kulturellen Lebens zielen, und sie folgen in immer schnellerem Rhythmus aufeinander. Dabei werden die Projekte der Autoren immer kühner; ein Wettbewerb beginnt, bei dem einer den anderen an Radikalität zu überbieten sucht. So kommen nach und nach alle Formen und Elemente der literarischen Rede, alle Konventionen der literarischen Kommunikation und alle Institutionen und Praktiken des literarischen Lebens auf den Prüfstand – kein Stein bleibt auf dem anderen.

Weiten Teilen des Publikums ist darüber Hören und Sehen vergangen. Nicht nur daß nun alles in Zweifel gezogen wird, woran man gewöhnt ist – sobald man sich halbwegs auf etwas Neues eingestellt hat, wird auch das schon wieder für überholt erklärt. Bei vielen ist die Verunsicherung bald größer als die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen, und wo sie nicht vollends resignieren und aus der Schule laufen, da verschafft sich ihre Verstörung in Formen von Widerstand Luft, die den aggressiven Gesten und schrillen Tönen der neuen Kunst in nichts nachstehen. Doch was immer dieser von Seiten eines verunsicherten Publikums, irritierter, um ihre Stellung bangender Größen des kulturellen Establishments und einer besorgten Obrigkeit an Steinen in den Weg gewälzt wird – sie läßt sich davon nicht aufhalten. Selbst ein Ereignis wie der Erste Weltkrieg kann sie nicht davon abbringen, auf dem einmal eingeschlagenen Weg weiter voranzuschreiten. So ist schließlich trotz aller Widerstände und Gefahren jener Kosmos neuer Themen und Formen geschaffen und im kulturellen Leben verankert, von dem die moderne Literatur bis heute zehrt.

Modernisierung

Wenn in den Jahrzehnten vor und nach der Jahrhundertwende das gesamte Gebäude von Kunst und Literatur auf solche Weise in Bewegung gerät, so entspricht das aufs genaueste dem, was seinerzeit auch überall um sie herum an Dynamik in der Welt ist. Denn in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens bestimmt inzwischen der Fortschritt das Gesetz des Handelns. Sind die treibenden Kräfte der Modernisierung, Wissenschaft und Technik, bereits früher im 19. Jahrhundert schon in eine führende Rolle hineingewachsen, so werden sie nun vollends zu einer alles bestimmenden Macht. Was immer sie an neuen Erkenntnissen und Ideen in die Welt setzen und an neuen Optionen des Handelns und der Lebensgestaltung eröffnen, wird alsbald in alle Bezirke der Gesellschaft getragen. Ob es sich um die Formen handelt, in denen die Gesellschaft wirtschaftet und Güter produziert, ob um das Verkehrs- und Kommunikationswesen, die Sphäre der Politik und des staatlichen Verwaltungshandelns oder die Lebenssphäre des Einzelnen, die Art und Weise, wie die Menschen wohnen, sich kleiden, sich ernähren, für ihr Wohlergehen sorgen und ihre Beziehungen gestalten – alles unterliegt nun einem Wandel, dessen Richtung und Geschwindigkeit Wissenschaft und Technik vorgeben.

Avantgardismus

Wo aber so viel um die Menschen herum in Bewegung ist, da kann es nicht ausbleiben, daß sie sich nach einem ruhenden Pol umsehen, nach etwas Bleibendem, an das sie sich in all dem Wandel halten könnten. Am Ende des kunstgläubigen 19. Jahrhunderts richtet sich der suchende Blick gerade auch auf Kunst und Literatur. „Was bleibet aber, stiften die Dichter“ (Hölderlin) – was sollte sich in dem Kulissenwirbel der Moderne als ein Hort bleibender Werte bewähren, wenn nicht die Kunst? Der konservative Teil der literarischen Intelligenz ist dieser Erwartung nach Kräften entgegengekommen, nicht jedoch die Protagonisten der Moderne, und es ist vor allem dies, womit sie sich die Gefolgschaft des breiten Publikums verscherzt haben. Für sie steht fest, daß nur eine Kunst eine Zukunft hat, die mit der Dynamik der Modernisierung mithält, und nicht nur mithält, die sich an die Spitze der Bewegung setzt und als revolutionärer Vorreiter alles wahrhaft Neuen dem Fortschritt die Richtung vorgibt. Von der modernen Literatur der Jahre 1885 bis 1930 zu sprechen heißt, von lauter selbsternannten Avantgardisten zu sprechen.

Demgemäß hat sich die Literatur hier in ein einziges großes Experimentierfeld verwandelt, in eine Art Laboratorium, in dem unentwegt neue Ideen ausgedacht und erprobt werden. Nicht umsonst haben bereits die ersten Naturalisten den Begriff des Experiments aus den Wissenschaften und den der Revolution aus der Politik übernommen, um ihre literarische Arbeit zu kennzeichnen. So nennt die Leitfigur des europäischen Naturalismus, der französische Autor Emile Zola, seinen Roman einen „Experimentalroman“, und der deutsche Naturalist Arno Holz spricht von einer „Revolution des Dramas“ und einer „Revolution der Lyrik“. Die Literatur wird experimentell; sie beginnt, mit den literarischen Formen und den Praktiken des literarischen Lebens, ja mit der Sprache selbst zu experimentieren.

 
1885–1930

Dabei ist in der Tat ungemein viel Neues entstanden, vielfach grundstürzend Neues, in der Literatur nicht weniger als in den anderen Künsten. Man kann das Ausmaß des Wandels unschwer erfassen, indem man sich vor Augen stellt, was um 1885 an Neuem geschaffen worden ist und was um 1930. In der Architektur dominieren um 1885 noch immer die Formen des Historismus, wie sie mit Säulenordnungen und ornamentalem Baudekors im Stil einer Neugotik, einer Neurenaissance, eines Neubarock oder Neurokoko letztlich noch immer von der Baukunst der Antike und des Mittelalters zehren; um 1930 hat bereits die Bauhaus-Ästhetik ihren Siegeszug angetreten, um mit den letzten Resten des Historismus tabula rasa zu machen und eine Baukunst zu etablieren, die ganz auf die Geometrie des Baukörpers und die Materialität von Baustoffen wie Beton, Stahl und Glas setzt. In der Malerei feiern um 1885 die Münchner und Düsseldorfer Realisten ihre großen Erfolge, mit farbenfrohen Landschaften, Genreszenen und Porträts, mit denen sie selbst die Fotografie an „Lebensechtheit“ zu übertreffen suchen; um 1930 hat sich bereits eine abstrakte Malerei etabliert. Und was die Musik anbelangt, so komponieren um 1885 noch die großen Spätromantiker Johannes Brahms, Anton Bruckner und Richard Wagner; um 1930 beherrschen Neutöner wie Arnold Schönberg und Igor Strawinsky die Szene.

Nicht anders steht es um die Literatur. Um 1885 sind noch immer einige der namhaften Realisten aktiv, etwa Theodor Fontane, Conrad Ferdinand Meyer und Wilhelm Raabe, ja Fontane hat sich gerade erst angeschickt, die lange Reihe von Romanen zu konzipieren, mit denen er in Erinnerung geblieben ist. Und noch angesehener sind beim breiten Publikum Männer wie Paul Heyse und Emanuel Geibel, Autoren, die von den Neuerern Epigonen genannt werden, weil sie, noch hinter den Realismus zurückgreifend, aus dem Erbe von Klassik und Romantik schöpfen. Und um 1930 sind es Autoren, die wir heute unter die Klassiker der Moderne rechnen, sind es Heinrich und Thomas Mann, Rainer Maria Rilke und Gottfried Benn, Bertolt Brecht und Alfred Döblin, deren Werke die literarische Öffentlichkeit beschäftigen, und das größte aller Experimente, der Dadaismus, steht bereits abgeschlossen vor den Augen des Publikums – eine andere Welt!

Von der Ersten zur Zweiten Moderne

Fast alles, was sich die moderne Kunst und Literatur an neuen Möglichkeiten erschlossen hat, hat sie sich in den ersten fünf Jahrzehnten ihrer Geschichte erobert. Spätere Generationen haben dem nur wenig Neues hinzufügen können, jedenfalls nur wenig Neues von grundlegender Bedeutung, sind die frühen Modernen in ihrer Radikalität doch fast überall bis ans Ende des Möglichen gegangen. So hat sich die Kunst und Literatur des 20. Jahrhunderts weithin im Kreis der von ihnen eröffneten Optionen bewegt, was einige Beobachter geradezu von einem Prozeß der „Kristallisation“ (Arnold Gehlen) sprechen ließ. Jedenfalls kann man bereits an der Literatur der Jahre 1885 bis 1930 studieren, was Moderne heißt, und kann man es hier vielfach besser studieren als an späterer Literatur, da sich in der Konstituierung und Formierung des Neuen seine Grundlagen und Grundformen besonders deutlich zeigen, deutlicher jedenfalls als dort, wo die Errungenschaften der Moderne bereits als gegeben vorausgesetzt und lediglich benutzt werden. Und darum kann das Studium der frühen Moderne auch bei der Beschäftigung mit jüngerer Literatur weiterhelfen, bis hin zur Literatur der Gegenwart.

Gegen Ende der zwanziger Jahre, also noch bevor der Nationalsozialismus in Deutschland die Macht an sich reißt und seine Hand auf das kulturelle Leben legt, läßt die Dynamik der Modernisierung allmählich wieder nach, nicht nur in Deutschland, sondern in allen Ländern, die an der Entwicklung der modernen Kunst und Literatur teilhaben. Man scheint fürs erste genug der Avantgarden gesehen zu haben, scheint der Revolutionen und Experimente überdrüssig zu sein und geht wieder auf stabilere Strukturen und klarere Konturen aus. Dabei scheuen sich auch die Protagonisten der Moderne nicht vor Rückgriffen auf vormoderne Formen; selbst ihre Werke nehmen nun vielfach die Züge eines Neorealismus, ja eines Neoklassizismus an.

Zugleich sucht sich das Bemühen um festere, transparentere Formen in Philosophie und Wissenschaft eine Stütze zu geben. Das zeigt sich etwa in einer neuen Blüte des literarischen Essays und einer neuen Offenheit des literarischen Texts für theoretische Diskurse; man denke nur an die großen Romane von Robert Musil und Hermann Broch oder an das Theater von Bertolt Brecht. Die Literaturgeschichte verhandelt diese Phase der Geschichte der Moderne meist unter dem Titel der Neuen Sachlichkeit, eine Wendung, die auf die zeitgenössische Theorie der Bildenden Kunst zurückgeht und mit der diese auf den Neorealismus und dessen Rückkehr zu konsistenteren Formen der Gegenständlichkeit zielt.

In der Zeit des Dritten Reichs, unter der Knute des Nationalsozialismus muß die moderne Kunst und Literatur dann ins Exil ausweichen oder sich in einer „inneren Emigration“ verkriechen. Darüber geht ihr der revolutionäre Elan fast völlig verloren. Exil und „innere Emigration“ sind avantgardistischen Konzepten wenig günstig; wer um seine geistige Selbstbehauptung, ja um das Lebensnotwendige zu kämpfen hat, der sucht vor allem etwas von dem festzuhalten, was er sich bereits errungen hat, dem steht der Sinn nicht nach Experimenten, zumal er nun auch den Resonanzraum einer demokratischen Öffentlichkeit entbehren muß, ohne den das künstlerische Experiment eine Totgeburt bleibt.

Denn die moderne Kunst ist auf die moderne Öffentlichkeit angewiesen; sie kann sich nur dort entfalten, wo sie jene Form des öffentlichen Lebens vorfindet, die zu einem demokratisch verfaßten, zumindest von dem Streben nach Demokratie durchpulsten Gemeinwesen dazugehört, jene mediale Öffentlichkeit, die an allem interessiert ist, worüber sich kontrovers diskutieren läßt, die von immer neuen Aktualitäten, immer neuen Events lebt, um nicht zu sagen: von Provokation und Skandal. Das zeigt sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Hitler-Diktatur besonders deutlich. In eben dem Maße, in dem die westdeutsche Gesellschaft zu demokratischen Verhältnissen zurückfindet und sich ein entsprechendes öffentliches Leben gibt, können Kunst und Literatur zu modernen Formen zurückkehren, können sich erneut Avantgarden heranbilden, kann das Spiel der künstlerischen Revolutionen und Experimente noch einmal von vorn beginnen – die Zweite Moderne. Im Osten Deutschlands hingegen, in der DDR, bleiben die Möglichkeiten einer modernen Kunst und Literatur wegen der Staatsdoktrin des „Sozialistischen Realismus“ und einer auf diese Doktrin eingeschworenen Zensur lange Zeit eng begrenzt.

Der Beitrag der Literatur zum Verständnis der Moderne

So sollen denn im letzten Band dieser Einführung in die Geschichte der deutschen Literatur Grundlagen, Grundfragen und Grundformen der modernen Literatur erkundet werden, soll gefragt werden, was die sozial- und kulturgeschichtlichen Rahmenbedingungen waren, unter denen sie entstanden ist, was die weltanschaulichen Diskussionen, die Fragen von Welt- und Menschenbild, mit denen sie konfrontiert war, und was die formalen Lösungen, die sie dafür gefunden hat. Der Kernbereich dessen soll ausgeleuchtet werden, was die moderne Literatur umtreibt und was ihre Eigenart begründet. Damit sollen nicht nur Wege zum Verständnis moderner Texte eröffnet werden, sondern auch Wege zum Verständnis der modernen Welt. Beides soll gemeinsam in Angriff genommen werden, und kann wohl auch nur gemeinsam geschehen.

Denn wer sich mit Literatur beschäftigt, der bekommt es nie mit Literatur allein zu tun, der ist dabei immer auch mit dem konfrontiert, wovon sie redet. Und das ist ja auch der Grund dafür, daß er sie sucht; er will sich von ihr etwas sagen lassen. Wer sich mit moderner Literatur auseinandersetzt, der geht dabei in der Regel nicht nur auf ein selbstgenügsames ästhetisches Erleben aus, der will zugleich in Erfahrung bringen, was sie ihm über die moderne Welt und über sein Leben in dieser modernen Welt zu sagen hat. Insofern kann man sich nicht auf die moderne Literatur einlassen, ohne zugleich in ein Nachdenken über die moderne Welt einzutreten.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, nichts sei leichter als dies. Denn der Weg in die Moderne ist mit Theorien der Moderne gepflastert. Die verschiedensten Wissenschaften, etwa die Philosophie, die Geschichtswissenschaft, die Soziologie und die Politikwissenschaft, haben sich unausgesetzt an Analysen der modernen Welt versucht, so daß man glauben könnte, der Literarhistoriker bräuchte hier nur zuzugreifen. Aber eine Literaturwissenschaft, die sich selbst und ihren Gegenstand ernst nimmt, wird ihre Begriffe von Moderne nicht einfach von anderen Wissenschaften übernehmen wollen, so wichtig ihr der Dialog mit diesen auch sein mag; sie wird versuchen, ihre Vorstellung von den modernen Verhältnissen bei ihrer Auseinandersetzung mit der Literatur auf eigene Hand zu entwickeln.

Denn die Literatur ernst zu nehmen heißt, ihr zuzugestehen, daß sie etwas Eigenes, Eigenständiges zum Bild der Welt beizutragen habe, etwas, das durch nichts anderes, durch keine andere kulturelle Aktivität und insbesondere durch keine Wissenschaft zu ersetzen sei. Wer die moderne Literatur ernst nimmt, der wird davon ausgehen, daß jede Theorie der Moderne unvollständig bleiben, ja hohl und schief werden müßte, die den Beitrag der Literatur zum Bild der modernen Verhältnisse nicht zu würdigen verstünde. Dieser Beitrag gründet bekanntlich vor allem darin, daß sie bei allem, was sie zur Darstellung bringt, zugleich zu erkennen gibt, „wie den Menschen zumute ist“ (Goethe); daß sie stets mit bezeugt, wie die Menschen die Gegebenheiten, von denen die Rede ist, erleben, wie sie sie empfinden, bewerten und beurteilen, und daß sie dem auf eine Weise Geltung verschafft, die keiner anderen Art des Redens, keiner anderen kulturellen Aktivität und schon gar keiner Wissenschaft gegeben ist.

Eben um die Erkundung dessen, was die Literatur aufgrund ihrer besonderen Fühlung mit dem Zumutesein des Menschen aus Eigenem zum Bild der modernen Welt und zum Selbstverständnis des modernen Menschen beizutragen hat, soll es im folgenden gehen. Deshalb kann es hier nicht genügen, auf bereits durch andere Wissenschaften ausgearbeitete Theorien der Moderne als fertige, vorab feststehende Theorien zurückzugreifen und von ihnen aus an die Darstellung der modernen Literatur zu gehen. Vielmehr soll versucht werden, die sozial-, kultur- und geistesgeschichtlichen Rahmenbedingungen, die bei der Annäherung an sie mit zu bedenken sind, so weit wie möglich in der Auseinandersetzung mit der Literatur selbst zu entwickeln, als etwas, dessen Konturen auch von ihr aus und gerade von ihr aus kenntlich werden. Andernfalls hätte sich das Unternehmen vorab bereits um seinen möglichen Ertrag gebracht. Denn wozu sollte man noch die Literatur befragen, wenn schon anderweit festgestellt wäre, was Sache ist.

Die Literatur als kritischer Zeuge der Modernisierung

Und zu einem solchen Vorgehen gibt die moderne Literatur selbst allen Anlaß. Für sie ist nämlich keineswegs schon ausgemacht, was die Moderne ist. Wie die Literatur zu keiner Zeit nur eine Widerspiegelung von geschichtlichen Entwicklungen und gesellschaftlichen Diskursen gewesen ist, wie sie immer schon mehr und anderes war als nur ein Dokument, ein historisches Zeugnis neben anderen, nämlich ein kritischer Zeuge, so auch die moderne Literatur. Mitten in der modernen Welt stehend und sich nach Kräften auf sie einlassend und ihrer Dynamik aussetzend, hat sie sich doch an nichts anderem versucht als daran, diese moderne Welt auf Distanz zu stellen und einem kritischen Blick zu unterwerfen. Die moderne Literatur läßt sich geradezu als ein einziger großer kritischer Kommentar des Prozesses der Modernisierung lesen. Dieser kritischen Zeugenschaft gilt es Rechnung zu tragen.

Die moderne Literatur ist in der modernen Welt zugleich zu Hause und fremd. Sie will nirgendwo anders sein als in ihr und kann doch in ihr nicht aufgehen. Insofern hat sie denen, die Nietzsche „Bildungsphilister“ nennt, also denen, die sich gegenüber der Dynamik der Moderne in einer rückwärtsgewandten Bildungswelt verschanzen, ebensowenig zu bieten wie dem Widerpart des „Bildungsphilisters“, dem „Modernisierungsphilister“, dem die Teilhabe an der Modernisierung immer schon verbürgt, unterwegs zur besten aller Welten zu sein, und der deshalb um jeden Preis modern sein will. Mit beiden gleichermaßen steht die moderne Literatur auf Kriegsfuß.

 

Und wie sollte es anders sein, da sich die Literatur der modernen Welt mit Mitteln der Kunst nähert. Denn die Kunst wendet sich der Welt auf eine Weise zu, für die Alexander Gottlieb Baumgarten, der Vater der modernen Ästhetik, schon im 18. Jahrhundert den Begriff der ästhetischen Thaumaturgie gefunden hat. Sie gründet in einer Art Handwerk des Staunens (griechisch: thaumazein); nichts ist ihr selbstverständlich, alles wird ihr zum Gegenstand der Verwunderung, auch das und gerade das, worüber ihre jeweiligen Zeitgenossen als etwas Bekanntes und Vertrautes hinweggehen. Insofern fühlt sich die Literatur in der Welt, in der sie sich vorfindet, immer mehr oder weniger fremd, hat ihre Arbeit an der Darstellung von Welt immer etwas mit „Verfremdung“ zu tun, auch dort, wo sie sich nicht geradezu auf den Begriff der Verfremdung beruft, wie wir das etwa von Bertolt Brecht her kennen. Statt von Thaumaturgie und Verfremdung könnte man mit Robert Musil auch vom „Möglichkeitssinn“ der Literatur sprechen: was immer ihr an Wirklichkeit in den Blick kommt, nimmt sie in dem Gedanken wahr, daß alles auch ganz anders sein könnte.

Zur Konzeption dieser Einführung

Das Bild der modernen Welt, das zugleich der Ausgangs- und der Zielpunkt dieser Einführung ist, soll mithin vor allem von der Literatur aus entwickelt werden, als einem kritischen Zeugen der Prozesse, in denen sich diese Welt herangebildet hat. So soll denn die Literatur hier so oft wie möglich selbst zu Wort kommen. Der Leser soll die erörterten Fragen von literarischen Texten aus kennenlernen, er soll sich dabei in die Formensprachen der Moderne einlesen und auf eigene Rechnung ein Bild von ihnen machen können. Das setzt der Systematik der Darstellung natürlich gewisse Grenzen. Die Entwicklung von Problemzusammenhängen wird immer wieder für das Vorstellen und Kommentieren von Textbeispielen zu unterbrechen sein, und da sich literarische Texte nur selten mit einem einzigen Problem befassen, da sie in der Regel eine Vielzahl von Themen gleichzeitig anschlagen, mit denen sie auf die unterschiedlichsten Problemfelder führen – die „Polythematik“ der literarischen Rede – wird sich das, was zu ihrer Erläuterung zu sagen ist, kaum einmal ganz in systematische Überlegungen einbinden lassen.

Daß der Leser so oft wie möglich der Literatur selbst begegnen soll, wird überdies weder für einen schulgerechten Abriß der literaturgeschichtlichen Entwicklung noch für einen Überblick über die einschlägige Forschung genug Raum lassen. Am Ende wird der Leser mithin manche der von der Wissenschaft besonders intensiv diskutierten Fragen, manchen prominenten Autor und etliche der inzwischen als klassisch geltenden Werke zu vermissen haben. Es steht freilich zu hoffen, daß er in eben dem Maße, in dem er sich an den ausgewählten Texten auf exemplarische Weise mit Grundlagen, Grundfragen und Grundformen der modernen Literatur bekanntmachen kann, auch mit den literarhistorischen Fragen, den Autoren und Werken besser zurechtkommen wird, die hier nicht eigens verhandelt werden.

Gottfried Benn: „1886“

So wollen wir uns denn auch für die erste Annäherung an die Moderne von einem literarischen Text an die Hand nehmen lassen. Um die Wende von 1944 zu 1945 schreibt Gottfried Benn (1886–1956)1 ein Gedicht auf sein Geburtsjahr 1886, in dem vom Ende des Entwicklungsbogens aus, der oben skizziert worden ist, der Blick auf die Zeit gerichtet wird, in der alles begann. Es ist ein Blick, der aus dem Staunen darüber lebt, wie sehr sich die Welt in diesen sechs Jahrzehnten verändert hat, im Guten wie im Bösen. Und die Jahre 1944 und 1945 sind böse Jahre, vielleicht die bösesten, die die Moderne bis dahin gesehen hat. Die Vernichtungsmaschinerie des Dritten Reichs und seines Weltkriegs läuft auf Hochtouren, die ganze Welt scheint in Trümmer zu sinken. Von hier aus stellen sich die Verhältnisse des Jahres 1886 als „gute alte Zeit“ dar, und seine Literatur als Ausdruck eines Bewußtseins von geradezu atemberaubender Harmlosigkeit. Unter der Oberfläche ist das Neue freilich schon da, jenes Neue, das eine ganz andere Literatur erfordern wird als die bis dahin gepflegte, und es drängt mit Macht ans Licht.

1Wolfgang Emmerich: Gottfried Benn. Reinbek 2006.