Geschichte der deutschen Literatur. Band 3

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Geschichte der deutschen Literatur. Band 3
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Geschichte der deutschen Literatur

Band 1. Humanismus und Barock

Band 2. Aufklärung

Band 3. Goethezeit

Band 4. Vormärz und Realismus

Band 5. Moderne

Gottfried Willems

Geschichte der

deutschen Literatur

Band 3

Goethezeit

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN · 2013

Gottfried Willems ist Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und

Neueste deutsche Literatur an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

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© 2013 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien

Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld

Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion GmbH, Großburgwedel

Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier

Printed in Germany

UTB-Band-Nr. 3734 | ISBN 978-3-8252-3734-9

Inhaltsverzeichnis

Cover

Impressum

1 Einleitung

2 Probleme der Klassik-Doktrin

2.1 Germanistik und Klassik-Mythos

2.2 Das Epochenschema der germanistischen Tradition

2.3 Geschichtlich-gesellschaftliche Rahmen-­bedingungen der literarischen Entwicklung

2.4 Revision des Epochenschemas

2.4.1 Sturm und Drang und Aufklärung

2.4.2 Das „klassische Jahrzehnt“

2.4.3 Jenaer Frühromantik und Weimarer Klassik

3 Literarische Einzelgänger

3.1 Generationen und literarische Bewegungen

3.2 Die literarischen Einzelgänger

3.2.1 Friedrich Gottlieb Klopstock

3.2.2 Karl Philipp Moritz

3.2.3 Jean Paul

3.2.4 Friedrich Hölderlin

3.2.5 Heinrich von Kleist

4 ­Goethe und das literarische Leben seiner Zeit

4.1 ­Goethe und seine Zeit

4.1.1 ­Goethe als Einzelgänger

4.1.2 ­Goethe als Mittelpunkt des literarischen Lebens

4.2 ­Goethe und die literarischen Bewegungen

4.2.1 ­Goethe und die Dichter des Sturm und Drang

4.2.2 ­Goethe und die Dichter der Spätaufklärung

4.2.3 ­Goethe und Schiller

4.2.3.1 Schillers Weg zu ­Goethe

4.2.3.2 Weimarer Klassik

4.2.4 ­Goethe und die Frühromantiker

4.3 Genie-Kult und „Kunstreligion“

4.4 ­Goethe und die literarischen Einzelgänger

4.4.1 ­Goethe und Jean Paul

4.4.2 ­Goethe, Schiller und Hölderlin

4.5 Heine und ­Goethe

5 Die Literatur der ­Goethezeit und die Gefahren der Moderne

5.1 Moderne, Aufklärung und Gegenaufklärung

5.2 Die Gefahren der Moderne

5.3 Blicke in den Abgrund

5.3.1 ­Goethes „Werther“

5.3.2 Schillers „Räuber“

5.3.3 Hölderlins „Hyperion“

5.3.4 Jean Pauls „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab“

5.3.5 Novalis’ „Die Lehrlinge zu Sais“ und „Die Christenheit oder Europa“

5.3.6 Kleists Briefe aus Paris

5.3.7 „Nachtwachen von Bonaventura“

6 ­Goethes „Faust“

6.1 Entstehung, Handlung und Aufbau des „Faust“

6.2 „Faust“ als Spiegel der ­Goethezeit

6.3 Mephisto und die Gefahren der Moderne

6.4 Der Mensch in der Moderne

Anhang

Siglen

Literaturhinweise

Personenverzeichnis

Rückumschlag

1 Einleitung

Klassik, Romantik, ­Goethezeit

Seitdem es in Deutschland ein Interesse an der Geschichte der deutschen Literatur gibt, ist die Zeit von 1770 bis 1830 meist als ein einziger, mehr oder weniger fest umrissener epochaler Zusammenhang gesehen worden, als eine Epoche überdies, die für die deutsche Kultur von besonderer Bedeutung wäre. Denn die Jahre, in denen ­Goethe und Schiller, Klopstock, Herder und Lenz, Novalis und Tieck, Hölderlin und Kleist, E. T. A. Hoffmann und Eichendorff schrieben, galten und gelten vielfach noch immer als die große Glanz- und Blütezeit der deutschen Literatur, als eine Periode, in der mehr Autoren von Rang hervorgetreten und mehr große Kunstwerke entstanden wären als in den Jahrhunderten zuvor und danach – mit einem Wort: sie galten als der klassische Höhepunkt ihrer Geschichte, und so hat man sich mit ihrer Literatur seit jeher besonders intensiv beschäftigt und alles dafür getan, um sie in Erinnerung zu halten.

Die Jahreszahlen 1770 und 1830 sind also als Epochengrenzen bestens eingeführt, aber warum gerade diese beiden Daten? Nicht nur daß sie zu der Einteilung in Jahrhunderte quer liegen, derer sich die Geschichtsschreibung ansonsten so gerne bedient – sie stimmen auch mit keiner der Jahreszahlen überein, an denen in anderen Bereichen der Kultur die epochalen Einschnitte und Umbrüche der geschichtlich-gesellschaftlichen Entwicklung festgemacht werden, wie sie übrigens auch in der Geschichte anderer europäischer Literaturen keine Rolle spielen. Das letzte große politische Drama, der Siebenjährige Krieg (1756–1763), liegt 1770 bereits sieben Jahre zurück, und das ­nächste, die Französische Revolution (1788–1794), wird noch achtzehn Jahre auf sich warten lassen. Und das Jahr 1830 ist fast gleich weit von den epochemachenden Umbruchsphasen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, von der Zeit der sogenannten Befreiungskriege und des Wiener Kongresses (1813–1815) und von der Revolution von 1848 entfernt. Warum also gerade 1770 und 1830?

 

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Dafür scheint es nur einen einzigen Grund zu geben, einen Grund, der niemandem gefallen kann, der sich mit der Maxime „Männer machen Geschichte“ schwertut – und die moderne Geschichtsschreibung ist nicht müde geworden zu zeigen, wie problematisch sie sei – sie bezeichnen die Jahre, in denen ­Goethe als Autor aktiv war. Schon für die Zeitgenossen war ­Goethe die alles überragende Gestalt des literarischen Lebens, und erst recht für die Nachgeborenen. So hat man bereits in ­Goethes letzten Lebensjahren begonnen, von der Zeit seit seinem ersten Auftreten als der „­Goetheschen Kunstperiode“ zu sprechen, eine Formulierung, die sich bei keinem geringeren als Heinrich Heine findet, und in einer Arbeit, die als ein erster Versuch zu einer umfassenden Darstellung der Epoche gelten kann, in seiner „Romantischen Schule“ von 1836 (HS 5, 360). Das Konzept der „­Goethezeit“ lag also schon in den zwanziger, dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts in der Luft. Daß sich die Literaturgeschichtsschreibung bei ihren ersten Versuchen, die Konturen der Epoche herauszuarbeiten, weithin an den entsprechenden Kapiteln von ­Goethes Autobiographie „Dichtung und Wahrheit“ orientierte, tat ein übriges, um die Fokussierung auf ­­Goethe und die Eckdaten seines Schriftstellerlebens weiter zu befestigen.

Es dauerte allerdings noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, bis zu Hermann August Korff und seiner fünfbändigen Epochenmonographie „Der Geist der ­Goethezeit“ (1929–1957), bis der Begriff der „­Goethezeit“ als Name für die Epoche in Gebrauch kam. Bis dahin hatte man sich vor allem an die Begriffe „Klassik“ und „Romantik“ gehalten. Verwirrenderweise hat man sich dieser sowohl bedient, um die gesamte Epoche zu benennen, als auch um vom Neben-, Gegen- und Nacheinander ihrer beiden wichtigsten literarischen Gruppierungen, der „Weimarer Klassik“ und der verschiedenen Zirkel von Romantikern zu handeln.

Daß die Begriffe der „Klassik“ und „Romantik“ nicht nur gebraucht worden sind, um unterschiedliche Bestrebungen innerhalb der Groß­epoche kenntlich zu machen, sondern auch, um dieser als ganzer einen Namen zu geben, ist zunächst kaum zu verstehen. Auch wer sich mit der Literatur der ­Goethezeit nur wenig auskennt, wird im allgemeinen mitbekommen haben, daß sie in sehr unterschiedliche, ja geradezu diametral entgegengesetzte Richtungen weisen. „Klassik“ läßt an eine Kunst denken, die sich um klare, strenge Formen, um letzten Ernst und höchste Verbindlichkeit bemüht, „Romantik“

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hingegen an eine verspielte und verträumte, sich ganz der Phantasie überlassende Kunst; wie sollen sie sich da auf das gleiche Korpus von Texten anwenden lassen! Aber in Deutschland war und ist es durchaus üblich, von „Deutscher Klassik“ zu sprechen, wenn man nicht nur die „Weimarer Klassik“ – ­Goethe und seinen Kreis – sondern auch die „Klassiker der Romantik“ – Novalis, Tieck, Arnim, Brentano, ­Hoffmann, Eichendorff – meint. Und außerhalb Deutschlands, etwa in Frankreich und England, wird die gesamte Epoche bis heute im allgemeinen unter „Romantik“ abgebucht, einschließlich der „Weimarer Klassiker“ ­Goethe und Schiller.

Dieser verwirrende Begriffsgebrauch ist der Niederschlag eines ständigen Ringens zwischen zwei verschiedenen Perspektiven auf die Epoche. Während für die einen die epochalen Gemeinsamkeiten im Vordergrund stehen, wie sie sich aus den großen geschichtlich-gesellschaftlichen Entwicklungen ergeben – wobei hier wiederum zwischen denen zu unterscheiden ist, die die „innere Einheit“ der Epoche eher auf „klassische“ oder eher auf „romantische“ Prinzipien zurückführen – denken die anderen zunächst und vor allem an das Widerspiel von „klassischer“ und „romantischer“ Kunst. Als Korff seinen „Geist der ­Goethezeit“ schrieb, hatte die Germanistik gerade eine Phase hinter sich, in der sie sich besonders energisch um die Abgrenzung von „Klassik“ und „Romantik“ bemüht hatte, so daß Korff es für nötig hielt, den inneren Zusammenhang der Epoche neuerlich zur Geltung zu bringen. Und dieser innere Zusammenhang hieß für ihn eben ­Goethe, so wie schon für Heine und die anderen frühen Literarhistoriker.

­Goethe und die ­Goethezeit

Johann Wolfgang ­Goethe – seit 1782 „von ­Goethe“ – ist 1749 geboren und 1832 gestorben. Bekannt wurde er vor allem durch zwei Werke, durch das Drama „Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand“ (1773) und den Roman „Die Leiden des jungen Werthers“ (1774), und nicht nur bekannt – er wurde durch sie mit einem Schlag zur zentralen Figur des literarischen Lebens in Deutschland. Schon der „Götz“ war eine literarische Sensation, und erst recht der „Werther“. Dieser entwickelte sich zu einem Bucherfolg, wie ihn ein deutscher Autor bis dahin noch nicht erlebt hatte. Wer immer auf sich hielt, wer auf der Höhe der Zeit sein und mitreden wollte, las ­Goethes Roman. Die jungen Leute kleideten sich wie Werther und seine geliebte Lotte,

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gaben sich und redeten wie sie, und die alten Leute schüttelten darüber den Kopf und verstanden die Welt nicht mehr. Es entstand eine regelrechte Werther-Mode, das sogenannte „Werther-Fieber“,1 ein kultureller Hype, der in manchem schon an das moderne Fanwesen und den Rummel um „Kultfilme“ und „Kultstars“ erinnert. Der „Werther“ war übrigens nicht nur eine deutsche, sondern auch eine europäische Sensation. So hat der französische Kaiser Napoleon einmal ­Goethe gegenüber bekannt, daß er seinen Roman siebenmal gelesen habe.

In solchen neuen Formen des Umgangs mit Literatur werden tiefgreifende Wandlungen faßbar, Wandlungen nicht nur des literarischen Lebens, sondern des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens überhaupt, und sie sind für die Zeitgenossen wesentlich mit dem Namen ­Goethes verknüpft. Eine immer größere Zahl von Menschen bringt der Literatur ein immer höheres Maß an Interesse entgegen, und ein immer vitaleres, persönlicheres, existentielleres Interesse; und dieses richtet sich gerade auch auf die zeitgenössische Literatur, sucht sie eben um ihrer Zeitgenossenschaft willen. Die Literatur gewinnt so einen neuen Stellenwert im Gefüge der gesellschaftlichen Institutionen, und damit wiederum neue Möglichkeiten, um in die Gesellschaft hineinzuwirken. Zugleich werden hier Wandlungen des gesellschaftlichen Lebens überhaupt greifbar. Daß die Literatur einen solchen Bedeutungszuwachs erfährt, setzt ja doch voraus, daß sich die Gesellschaft auf eine bestimmte Weise öffnet, daß sie nämlich jener medialen Öffentlichkeit, in der die Literatur zuhause ist, immer mehr Raum gibt und sie mehr und mehr zu dem Ort macht, an dem sich ihre Steuerdiskurse formieren.

Dies alles sind Entwicklungen, die sich schon früher im 18. Jahrhundert abzuzeichnen beginnen, die nämlich bereits von der Aufklärung auf den Weg gebracht worden sind, die aber nun, in der ­Goethezeit, immer stürmischere Formen annehmen, so daß hier das gesamte soziokulturelle Gefüge ein anderes wird, in das Kunst und Literatur eingestellt sind, und damit auch diese selbst. Kunst und Literatur

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werden institutionell autark und ideologisch autonom, ja mancherorts werden sie nun geradezu zu einer Art Religionsersatz, zum Kultobjekt einer „Kunstreligion“.

Jeder Künstler, der sich der Erinnerung der Menschen einprägen und in das kulturelle Gedächtnis eingehen will, muß wenigstens einmal im Leben eine Sensation gewesen sein, muß einmal ein Rendezvous mit dem Zeitgeist gehabt, einmal den Nerv der Zeit getroffen haben. So war es bei ­Goethe im Fall des „Götz“ und des „Werther“. Wohl haben einzelne seiner Werke auch später noch ein gewaltiges Echo gehabt, etwa das Drama „Iphigenie auf Tauris“ (1779 / 1787), der Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (1795–1796), die epische Idylle „Hermann und Dorothea“ (1797), die Tragödie „Faust“ (1808 / 1833) und die Autobiographie „Dichtung und Wahrheit“ (1811–1813 / 1833), von seinen Gedichten ganz zu schweigen. Und einige von diesen Werken haben womöglich noch entschiedener und nachhaltiger auf die Entwicklung der Literatur eingewirkt als der „Götz“ und der „Werther“. So begann mit der „Iphigenie“ das Reden von einer klassischen deutschen Dichtung, begann mit „Wilhelm Meisters Lehrjahren“ das Nachdenken über romantische Kunst, und der „Faust“ wurde nach Heine gar zu einer Art „Bibel der Deutschen“ (HS 5, 400), um es 150 Jahre lang zu bleiben. Aber einen solchen allgemeinen Aufstand wie mit dem „Götz“ und dem „Werther“ hat ­Goethe nie wieder erlebt.

In den frühen siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts also ist ­Goethe zur zentralen Figur des literarischen Lebens in Deutschland geworden, und er ist es bis zu seinem Tod geblieben. Zwar waren bis dahin schon zwei Generationen von jungen Autoren aufgetreten, die ­Goethe als überholt empfanden und sich alle Mühe gaben, ihn und sein Werk als veraltet zu brandmarken – eine erste Generation hatte sich in den neunziger Jahren zu Wort gemeldet, die Generation der Frühromantiker, der Brüder Schlegel, der Tieck und Novalis, und eine zweite in den zwanziger Jahren, die Generation Heines und der Jungdeutschen – aber sie hatten dessen Position letztlich nicht erschüttern können, ja diese hatte sich angesichts ihrer Angriffe eher weiter befestigt. So wurde ­Goethes Tod 1832 allgemein als das Ende einer Epoche erlebt, auch von seinen Gegnern, und zwar als das Ende einer besonders glanzvollen Epoche, als Schlußpunkt hinter dem Besten, was die deutsche Literatur bis dahin gesehen hatte.

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Die Daten 1770 und 1830 lassen sich übrigens auch auf ein Hauptwerk ­Goethes beziehen, auf seinen „Faust“. Denn während all dieser Jahre – um genau zu sein: von 1772 bis 1831 – hat ­Goethe immer einmal wieder an ihm gearbeitet, und er ist darüber zu einem Werk herangewachsen, das man wohl das große Buch der Epoche nennen darf. Nicht nur daß seine Entstehungszeit die gesamte Epoche umfaßt und daß es von allem, was seinerzeit geschrieben wurde, die größte Wirkung gehabt hat, eben jene Wirkung, die es zur „Bibel der Deutschen“ werden ließ – dank seiner langen Entstehungsgeschichte ist auch ungewöhnlich viel von dem in es eingeflossen, was die Menschen in diesen sechzig ereignisreichen Jahren beschäftigt hat, ist es zu einer Art Extrakt ihrer geschichtlichen Erfahrungen und ihrer theoretischen und praktischen Versuche geworden, sich mit dem geschichtlichen Wandel ins Benehmen zu setzen. So kommt man bis heute kaum am „Faust“ vorbei, wenn man sich ein Bild von der ­Goethezeit machen will.

Zum Aufbau dieses Bands

Im folgenden soll zunächst der Vorstellung von der ­Goethezeit als der klassischen Blütezeit der deutschen Literatur nachgegangen werden. Es soll gefragt werden, wie es zu ihr gekommen ist und was sie besagt, um sie einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Denn es handelt sich bei ihr um eine durchaus problematische Vorstellung, um eine historische Bürde, die den Zugang zur Literatur der ­Goethezeit eher schwerer als leichter macht, zumal für einen Leser von heute. Daß diese Literatur im Strahlenkranz des Klassischen in das kulturelle Gedächtnis eingegangen ist, mag ihr zwar ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit sichern, läßt jedoch zugleich ihre Konturen auf eine Weise verschwimmen, die ihrem Verständnis nicht zuträglich ist. So besteht die erste Aufgabe für uns darin, uns Rechenschaft von der Klassik-Doktrin zu geben und diese, soweit sie zu einer Hürde des Verstehens geworden ist, aus dem Weg zu räumen.

Zu diesem Zweck soll zunächst das Epochenschema rekapituliert werden, das von der frühen Literaturgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert konstruiert worden ist und das von ihr aus in das kulturelle Gedächtnis eingegangen ist, das Schema Aufklärung – Sturm und Drang – Klassik – Romantik – Epigonenzeit. Seine Analyse wird einerseits zum Begriff des Klassischen als dem Herzstück des Konstrukts führen, und damit zu Fragen der Antike-Rezeption; denn „klassisch“ meint hier noch immer jene besonderen Qualitäten, die Werke der

 

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Kunst durch die Schulung an Vorbildern der klassischen Antike erreichen sollen. Und sie wird andererseits zum Begriff der „Nationalliteratur“ führen, wie er um 1800 unter dem Vorzeichen eines neuartigen Nationalismus Kontur annahm; unter Klassik wird hier nämlich die Blütezeit einer „Nationalliteratur“ verstanden.

Dabei wird auch auf die geschichtlich-gesellschaftlichen Rahmen­bedingungen einzugehen sein, die die Basis und den Hintergrund für die Entwicklung der Literatur bilden. Das aber heißt vor allem: es wird von der Französischen Revolution zu handeln sein. Nichts hat die Welt in der ­Goethezeit heftiger durcheinandergewirbelt, nichts die Menschen intensiver beschäftigt als sie, einschließlich all derer, die schrieben. Die Geschichte setzte sich mit ihr auf eine Weise in Bewegung, riß die Gesellschaft durch sie in eine Dynamik hinein, über der noch dem versiertesten Zeitdiagnostiker Hören und Sehen verging – ein spektakulärer Modernisierungsschub, der sich in den Augen der meisten Zeitzeugen allerdings bald schon zu einer großen Modernisierungskrise auswuchs. So erblickten denn auch die Autoren seither ihre erste und vornehmste Aufgabe darin, eine Literatur zu schaffen, die vor dieser Herausforderung bestehen könnte.

Die kritische Revision der Klassik-Doktrin und des überkommenen Epochenschemas soll mit einem Blick auf Autoren fortgeführt und abgerundet werden, die nicht so recht zu den Begriffen des Sturm und Drang, der Klassik und der Romantik passen wollen und die doch das Bild der Epoche wesentlich mit prägen, auf die literarischen Einzelgänger Klopstock, Karl Philipp Moritz, Jean Paul, Hölderlin und Kleist. Von hier aus soll dann auch ­Goethe selbst ins Auge gefaßt und der Stellung ­Goethes im literarischen Leben seiner Zeit nachgegangen werden, also seiner Beziehung zu anderen Autoren und zu den verschiedenen literarischen Gruppen und Bewegungen. Wie steht es um ­Goethes Teilhabe an der Bewegung des Sturm und Drang, wie hat sich sein Verhältnis zu etablierten Größen des Literaturbetriebs wie Klopstock und Wieland entwickelt, und wie das zu jüngeren Autoren wie Schiller, den Frühromantikern, Jean Paul, Hölderlin und Heine? Ein wichtiger Punkt wird hier die Ausbildung und kontroverse Diskussion der „Kunstreligion“ sein, wie sie sich seinerzeit zu einem der großen Konkurrenten der mehr und mehr die Kultur dominierenden „Nationalreligion“ gestaltete.

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Am Schluß soll ein Versuch stehen, so etwas wie die entscheidenden Impulse, die zentralen Fragen und Anliegen der Literatur jener Jahre herauszuarbeiten. Wenn es richtig ist, daß die Klassik-Doktrin und das alte Epochenschema den Blick auf diese Literatur eher verstellen als schärfen, dann muß wohl noch einmal neu und anders gefragt werden, worum es ihr zu tun ist und was sie allenfalls für einen heutigen Leser interessant und bedeutsam machen kann. Die These wird sein, daß es sich bei ihr um eine Literatur handelt, die sich erstmals umfassend von dem Rechenschaft zu geben versucht, was man heute „Modernisierung“ nennt; die sich um eine umfassende Bestandsaufnahme der Moderne bemüht und dabei eingehend mit dem auseinandersetzt, was ihre Autoren vor allem seit der Französischen Revolution an Gefahren der Modernisierung meinen ausmachen zu können.

Mit Modernisierung ist hier der historische Prozeß gemeint, der aus den alten europäischen Gesellschaften jene moderne Gesellschaft gemacht hat, in der wir heute leben, ein Prozeß, der im 18. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Aufklärung, wenn schon nicht begonnen, so doch seine entscheidende Wendung genommen hat. Als zentrale Momente der Modernisierung werden zu vergegenwärtigen sein: die Verwissenschaftlichung der Welt auf der Basis der allmählich sich formierenden modernen Wissenschaft, die Mobilisierung der Menschen im Namen des wissenschaftlichen, technischen und gesellschaftlichen Fortschritts, die Entfaltung eines Pluralismus der Weltanschauungen und Lebensstile und die zunehmende Individualisierung. Und als Gefahren, die die Literatur der ­Goethezeit an solcher Modernisierung hat ausmachen wollen, werden zu verhandeln sein: das Umschlagen des Fortschrittsgedankens in einen totalitären Machbarkeitswahn, die äußere und innere „Entwurzelung“ des Menschen als Folge seiner Mobilisierung für den Fortschritt und die Tendenz des modernen wissenschaftlichen Denkens zu Materialismus und Nihilismus.

Es wird sich zeigen, daß sich die Literatur der ­Goethezeit unausgesetzt an diesen Gefahren abgearbeitet hat, wobei sie sich mit ihnen bald mehr im Sinne der Aufklärung und bald mehr in dem eines Bruchs mit dem aufklärerischen Denken, einer Wendung zur Gegenaufklärung auseinandergesetzt hat. An der Aufklärung hat sich vor allem die Klassik, an der Gegenaufklärung vor allem die Romantik orientiert. Auch die Konzepte der „Nationalreligion“ und der „Kunstreligion“

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finden von jener Gefahrendiagnose aus ihre Begründung, lassen sie sich doch nur als Versuche verstehen, die Gefahren der Modernisierung einzufangen und zu bändigen. Was bei alledem an Aspekten zu Tage tritt, soll abschließend noch einmal an ­Goethes „Faust“ vergegenwärtigt und geprüft werden.

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1 Klaus Scherpe: Werther und Wertherwirkung. Bad Homburg 1970. – Martin Andree: Wenn Texte töten. Über Werther, Medienwirkung und Mediengewalt. München 2006.