Wir statt Gier

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Gordon Müller-Eschenbach

Wir statt Gier

Aufbruch in eine neue Ära der Wirtschaft

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog: Der Wandel ist hier.

Teil I: Und wenn sie nicht gestorben sind ... Kleine Anatomie der Potenzialbremser und Innovationsverhinderer

1 Die alte Schule ist vor allem eines: alt

2 Die Krise der Ethik: Wie die Eliten unsere Werte missbrauchen

3 Management: Ein Missverständnis

4 Wölfe im Schafspelz: Schwarzes Marketing und andere öffentlichkeitswirksame Verfehlungen

5 Wer hat an der Uhr gedreht? Von der Zeitenwende des Wertebewusstseins

Teil II: Flickering Signals: Die Wirtschaft ist zum Glück auch nicht mehr das, was sie mal war

6 Der Wandel ist ein Gefühl: Warum die Wirtschaft der Zukunft im Bauch entsteht

7 Grass Roots Rule: Warum Veränderung immer öfter von unten kommt

8 Der Mensch lebt nicht vom Geld allein: Wie die nachwachsende Generation Erfolg neu definiert

9 Mission Possible: Führung im Zeichen des neuen Wertebewusstseins

10 Wir haben die Wahl: Arbeiten im Zeichen des neuen Wertebewusstseins

11 Wir können auch anders: Wie werteorientierte Businessmodelle die Märkte umkrempeln

12 Social Business: Leuchtturm einer Wirtschaft der Zukunft

13 Wer wagt, gewinnt: Von der angstgetriebenen Wirtschaft zur Unternehmenskultur der Freude

Teil III: … dann leben sie noch heute: Was Sie schon jetzt tun können, um im neuen Wertezeitalter nicht alt auszusehen

14 Ethik braucht keine Instanzen: Plädoyer für ein neues Wertebewusstsein

15 Die Glücksstrategie: Die Bewusstwerdung der Wertegemeinschaft

16 Gegensätze ziehen sich an: Für ein besseres Miteinander in der Gemeinschaft

17 Werte statt Regeln: Für eine zukunftsfähige Businessethik

18 Gemeinschaftlicher Wandel lebt vom Einzelnen: Warum es auf Sie ankommt

Epilog: Wer bremst hat Angst!

Anhang

Impressum

Prolog: Der Wandel ist hier.

Auf die Gefahr hin, dass Sie mich für verrückt erklären: Ich finde die Skandalmeldungen der jüngsten Zeit einfach großartig. Von Guttenberg bis Griechenland, von BayernLB bis Blatter, von Siemens bis Schlecker: Es ist das reinste Feuerwerk der frohen Botschaften.

Bevor Sie im Dreieck springen: Natürlich freue ich mich nicht darüber, dass unsere Regierenden sich ihre Titel erschleichen, europäische Staaten Bankrott anmelden, internationale Verbände im Geiste des fairen Wettkampfs sich als Sümpfe der Korruption erweisen, deutsche Traditionskonzerne sich Aufträge an ausländischen Märkten durch Schmiergelder erschließen und an jeder Ecke präsente Handelsketten ihre Mitarbeiter ausspionieren. Aber ich freue mich wie ein kleines Kind an Weihnachten darüber, dass diese Sauereien ans Licht der Öffentlichkeit kommen. Und zwar nicht hier und da, sondern jeden Tag, immer öfter, immer aktueller, boom, boom, boom – wie ich schon sagte, das reinste Feuerwerk.

Ich höre es gern krachen, denn auf jeder dieser Baustellen ist Abriss und Neubau angesagt. Und ich habe großen Spaß daran, der Abrissbirne noch einen Schubs zu geben und ihr beim Einschlag zuzuschauen. Noch größeren Spaß aber habe ich, wenn ich in dem ganzen großen Trümmerhaufen die Zeichen einer neuen Zeit aufblitzen sehe: Funkelnde Rohdiamanten, das Leuchten einer neuen Ära aus dem Innersten der falsch verdrahteten Gegenwart, wie Flickering Signals in der Physik. Keine Grenzen kennt meine Freude schließlich, wenn ich mitgestalten kann und dabei sein darf, wenn eine wachsende Wertegemeinschaft ein neues Haus auf dem Fundament baut, auf dem unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft fußt: dem Geist des wahren Unternehmertums – dem Geist der Freiheit, des Fortschritts und der Fantasie.

Doch immer der Reihe nach: Auch wenn ich aus den Ruinen der Baracken, die bereits eingerissen wurden, schon das Leuchten sehe – zunächst einmal haben wir noch kräftig mit dem Abriss zu tun und uns klar zu machen, warum all der Lärm notwendig ist, bevor er sich am Ende zu einer pyrotechnischen Sinfonie fügt und die Puzzleteile sich zu einem sinnvollen Ganzen fügen.

Es muss schlimmer werden, bevor es besser wird

Bringen wir erst einmal Ordnung in das ganze Durcheinander: Die Skandale unserer Zeit sind die ersten verstreuten Takte des Abgesangs der alten Eliten – die ersten Symptome einer todkranken Ethik, die von den Lenkern der alten Schule ihrer Werte beraubt und zum Zweck des Machtmissbrauchs pervertiert wurde.

Was mit der alten Schule gemeint ist, ist eine lange Geschichte. Ich versuche mich kurz zu fassen – und zwar im ersten Teil dieses Buches. Er enthält eine kleine Anatomie der Potenzialbremser und Innovationsverhinderer unserer Zeit. Anhand von Beispielen erläutere ich Ihnen dort zunächst, wie die Zentren der Macht im Allgemeinen und die Köpfe dieser Instanzen im Speziellen alles daran setzen zu verhindern, dass wir – als Gemeinschaft von Bürgern und Konsumenten, von Privatpersonen und Arbeitenden – unsere Werte zurückerobern. Ein intaktes und produktives Wertebewusstsein ist der Anfang jeder Erneuerung, denn der anhaltende Missbrauch jener Grundwerte ist es, der uns täglich zu schaffen macht. Es ist die zerrüttete Ethik der alten Garde, die uns in Ketten legt und den Fortschritt lähmt. Wir müssen im Zusammenhang betrachten, welche Auswirkungen dieser Missbrauch aufseiten der vermeintlich werteprägenden Instanzen der Macht auf unser Leben und unsere Arbeit hat, damit wir verstehen, warum wir unzufrieden sind. Wir müssen unsere Wahrnehmung dafür schärfen, dass es nicht auch, sondern vor allem Werte sind, die unsere Mitarbeiter produktiv und unsere Unternehmen effektiv machen. Das ist der erste Teil des Feuerwerks – noch nicht bunt und schön, aber laut und unübersehbar.

Innovation: Der krisensichere Erfolgsfaktor

Wenn wir diese Fassaden zum Einsturz gebracht haben, wird es Zeit, auf die Suche zu gehen nach den Flickering Signals, den Beispielen des Fortschritts in der Ruine der Ethik, im Schatten der alten Eliten. Naturgemäß äußert sich Fortschritt zuerst da, wo er auch gesellschaftlich gemacht wird: in der Wirtschaft.

Angesichts jüngster Ereignisse kann man über diese Aussage verblüfft sein: Gerade erst erholen wir uns von einer weltumspannenden Finanzkrise, die die deutsche Wirtschaft ebenso erschüttert hat wie den Rest der Welt; eine Krise, die Arbeitsplätze gekostet hat, die uns alle gezwungen hat, unseren Umgang mit Geld und vielleicht sogar ganz individuell unsere Prioritäten im Leben zu überdenken. Und schon steht die nächste Krise vor der Tür – „Lehman, die zweite“ ist im Herbst 2011 in aller Munde. Fakt ist jedoch auch: Jeder gesellschaftlichen Umwälzung, jeder zivilisatorischen Neuerung gehen massive Probleme voraus. Ein auslösendes Moment ist manchmal sogar die Voraussetzung dafür, dass eine Mehrheit darauf drängt, die politischen und wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse neu zu durchdenken.

Wie jede Krise bietet uns auch die Erschütterung der Finanzmärkte eine Chance. Sie zeigt uns überdeutlich: Trotz alledem ist genau hier in unserer Marktwirtschaft der Ort, an dem wir die Zukunft finden können, denn Innovation findet genauso wenig an den Börsen statt wie im Wirtschaftsministerium. Eine Finanzkrise ist keine Aussage über die Potenz einer Wirtschaft oder gar Gesellschaft, sondern über die ethische Beschaffenheit einer machttrunkenen „Elite“, die sich an Spekulationen weidet, anstatt die Realwirtschaft zu bedienen.

Als Einzelne stehen wir deshalb an einer Weggabelung: Wir können uns auf die Behebung der Missstände konzentrieren und, soweit es der einzelnen Führungskraft, dem einzelnen Manager, dem einzelnen Angestellten, der einzelnen Privatperson möglich ist, Vorkehrungen für die nächste Krise treffen, kurz: unsere Kräfte darauf bündeln, die Risiken auszugleichen und das Beste zu hoffen. Gewiss ist an dieser Front einiges zu tun, und wir tun auch gut daran, die Politik dabei zu beobachten und daran zu messen, wie sie mit den Gesichtern der Gier zu Gericht geht.

 

Wir können aber auch den anderen Weg gehen – im Rahmen der Möglichkeiten, die jedem Einzelnen an seinem individuellen Platz in der Gesellschaft und insbesondere in der Wirtschaft zur Verfügung stehen. Und die sind immer größer als wir glauben. Wir können dahin schauen, wo es ungeachtet jeder Krise unleugbar und ungebrochen vorwärts geht und wo, beflügelt durch gemeinsame Werte, jeder Einzelne tatsächlich seinen Beitrag leisten kann: in den Kernbereichen der Realwirtschaft, in den Werkstätten der Innovation, wo Kreativität möglich, erwünscht und sogar existenziell notwendig ist. Dort sitzt die Produktivität des Systems, dort gedeihen die tatsächlichen Potenziale unserer Wirtschaft – denn hier kommt es nicht auf Politik an, sondern auf Lösungen. Dort sitzen kleine Teams, die mit Feuereifer bei der Sache sind und in denen jeder Einzelne an effizientem Fortschritt interessiert ist. Denn dort sitzen wir: im mittleren Management, in der Produktentwicklung, in der Marketingabteilung, in der Personalverwaltung, in der internen und externen Unternehmenskommunikation, in der Herstellung, in der Fertigung am Fließband, in der Geschäftsführung, in der Unternehmensberatung, in kleinen Unternehmen oft an mehreren Stellen, als Gründer in allen Positionen gleichzeitig. Wir sitzen überall. WIR sind verantwortlich für den Fortschritt.

Hier ist der Punkt, an dem das Feuerwerk nicht mehr nur laut, sondern bunt und schön anzusehen ist: Das Feuerwerk der Flickering Signals, das ich im zweiten Teil dieses Buches abbrenne, zeigt Ihnen, wo die Innovation schon heute zu Hause ist, und von welchen Architekten das neue Haus einer fortschrittlichen Wertegemeinschaft gebaut wird auf dem Fundament der Leidenschaft derer, die sie begründen. Ebenso wie die Zeichen des Verfalls der alten Schule erkennt man auch die Pioniere einer neuen Schule nur, wenn man sie im Zusammenhang betrachtet.

Die Mechanik des Fortschritts

Wer angesichts von Finanzkrisen, nie eingelösten Regierungsversprechen, korrupten Bossen und des offensichtlichen Versagens all jener Instanzen, die exakt solche Katastrophen verhindern sollten, noch immer der Ansicht ist, dass Fortschritt und gesellschaftliche Erneuerung von den Mächtigen ausgehen sollten, dem sei gesagt: Vergiss es. Es liegt bei uns. Jede Kette ist so stark wie ihr schwächstes Glied. Jede Wirtschaft ist so stark wie ihre Macher. Oben wird der Rahm abgeschöpft, aber unten kommt die Milch raus.

Deshalb liegen auch die Stellschrauben, auf die es ankommt und auf die wir tatsächlich Einfluss haben, unter der lackierten Haube und mittendrin im Aggregat – da, wo die Kraft auf die Straße kommt. Ich will es nicht bestreiten: Auch in diesen Bereichen gibt es eine Vielzahl von hemmenden Faktoren. Wenn das Getriebe hakt, können wir nicht hochschalten. Im Gegensatz zu den Verwerfungen der Macht, die an der Spitze jedes Systems zu Blockaden führen, sind diese Faktoren jedoch in aller Regel weiche Faktoren, denen oft mit wenig Aufwand beizukommen ist. Manchmal allerdings muss in der Tat eine kleine Explosion her, damit der Motor wieder rund läuft.

Im letzten Teil des Buches gebe ich Ihnen deshalb die Zündschnur in die Hand – verbunden mit der ausdrücklichen Ermunterung, Ihr eigenes kleines Feuerwerk zu veranstalten. Oft sind die Lösungsmöglichkeiten ganz simpel und haben doch einen großen Effekt. Wir müssen nicht von vorn anfangen. Vor allem müssen, nein, dürfen wir nicht darauf warten, dass die da oben ihren Job machen, denn dann warten wir auf Godot.

Freude am Wandel

Wir brauchen keine neue Wertediskussion, sondern eine neue Wertekultur für die Gemeinschaft im Allgemeinen und die Wirtschaft im Speziellen. Eine, die Erfolg neu definiert; die Hierarchien neu denkt; die neue Wege der Zusammenarbeit fördert; die Unterschiede begrüßt und Synergien zelebriert; die Initiative honoriert anstatt Verantwortlichkeiten hin- und herzuschieben; die das Funktionieren der Gemeinschaft über das Ego setzt; die Werte transparent kommuniziert, anstatt gezielten Wertemissbrauch zu verschleiern; eine, in der jeder nicht nur seine Werte, sondern auch seinen Wert kennt.

Kurz: eine Unternehmenskultur, in der Werte gelebt werden, anstatt dass man darüber redet. Wir brauchen eine neue Businessethik, die nicht verordnet und aufgeklebt ist, damit das Unternehmen besser aussieht, sondern unsere Arbeit und damit unsere Unternehmen von innen erleuchtet und nach außen strahlen lässt.

Genau jetzt haben wir die einmalige Chance, uns von den Fesseln zu befreien, die uns von den Instanzen der Macht auferlegt wurden. Es ist an der Zeit, Gemeinschaften zu bilden anstatt Eliten zu definieren. Gemeinschaften, die sich nicht an Position, Macht und Status orientieren, sondern die wir an messbaren Erfolgen erkennen, an ihrer Bedeutung für das Gemeinwohl – und dem Grinsen in ihren Gesichtern, wenn es mal wieder richtig laut kracht und die Funken fliegen. So macht man das schließlich bei uns, wenn es eine freiheitliche Revolution zu feiern gilt: Man zündet ein Feuerwerk an.

Die frohe Botschaft dieses Buches lautet: Diese Revolution für eine neue Wertekultur ist bereits im Gange – aus der Wirtschaft heraus in die Gesellschaft hinein. Die eine strahlt dabei auf die andere aus. Von Ihnen ganz zu schweigen: Sie strahlen auf Ihre Mitarbeiter, Ihre Kollegen, Ihre Freunde und Ihre Kinder aus. Und jeder, der ein Feuerwerk veranstaltet, sollte jene, die sich zieren, zum Mitmachen motivieren, nein, mitreißen, damit es alle hören und sehen können:

Der Wandel ist hier.

Haben wir gemeinsam Spaß daran.

Teil I: Und wenn sie nicht gestorben sind ... Kleine Anatomie der Potenzialbremser und Innovationsverhinderer

1 Die alte Schule ist vor allem eines: alt

Das typisch Menschliche: sich aus Angst vor einer unbekannten Zukunft an die bekannte Vergangenheit klammern. (John Naisbitt)

Unsere Wirtschaft ist ein Spiegel der seelischen Verfasstheit unserer Gesellschaft. Je nach Blickwinkel kann das eine fröhliche oder eine ziemlich düstere Botschaft sein: Eine Wirtschaft ist immer nur so beseelt, wie der Antrieb der Menschen es zulässt, die an ihrem Gelingen arbeiten.

Blicken wir uns auf der ökonomischen Landkarte des Jahres 2011 um, stellen wir schnell fest, dass der Erfolg in der Tat dort ist, wo es jenseits des pekuniären Erfolgs ideell am meisten zu gewinnen gibt. China erlebt das lange prognostizierte Wachstum, angetrieben von der Hoffnung seines Volkes wie seiner Mächtigen, sich von seiner globalpolitischen Außenseiterstellung zu befreien. Die japanische Wirtschaft dreht nach langem Abschwung wieder auf, weil sie eine Katastrophe zu bewältigen hat. Die USA dagegen erleben ein wirtschaftliches Debakel und steuern mit Macht auf den Staatsbankrott zu, nachdem der Schwung einer politischen Neuorientierung der Ernüchterung über die Grenzen des Möglichen gewichen ist. Und Deutschland? Deutschland hat sich weitgehend von der letzten Finanzkrise erholt und hat in Erwartung besserer Zeiten endlich mal wieder Gas gegeben – droht aber bereits wieder über seine politischen Bremsklötze zu stolpern und der Gier der Hochfinanz ins Fangseil zu torkeln. „Etwa 200 Banker aus Kreditinstituten mit Staatshilfe kämen wieder auf ein Jahreseinkommen von mehr als 500.000 Euro“, wusste die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung schon im September 2010 zu berichten. Von wirksamen politischen Eingriffen, wie sie im Nachgang der Krise angekündigt wurden, keine Spur.

Der gehemmte Aufschwung

Dabei könnten wir längst viel weiter sein. Der Aufschwung, den wir in den letzten Jahren gesehen haben, war nur ein Bruchteil des Erfolgs, zu dem wir eigentlich in der Lage wären. Die Gründe dafür sind unendlich komplex und doch ganz simpel: Wir leben im 21. Jahrhundert, doch unsere Wirtschaft agiert unter der Oberfläche in weiten Teilen noch immer mit dem ethischen (oder unethischen) Instrumentarium der Feudalwirtschaft – und das ist schon optimistisch gedacht. Erfolg, in diesen Zeiten, war gesetzt, in aller Regel vererbt. Das Hauptansinnen der Erfolgreichen war deshalb der Machterhalt – und damit einhergehend die Erfolgsverhinderung bei anderen, um Meutereien auszuschließen. Heute ist es nicht viel anders, nur viel hübscher: Vieles, was möglich wäre, wird im Sinne des Machterhalts einzelner, fest installierter Instanzen verhindert, um eine Neudefinition der Wirtschaftslandschaft und letztlich der Gesellschaft als Ganzes zu unterbinden, die die ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse verschieben würde.

Dieses defensive Gebaren der Macht kommt nicht von ungefähr: Die Möglichkeiten der Instanzen sind den Möglichkeiten der gesellschaftlichen Erneuerung längst nicht mehr gewachsen. Starre Apparate wie Regierung (Ämtermonopoly), Verwaltung (Beamtenbürokratie), Kirche (codehafte Regularienverwaltung mit mangelndem Realitätsbezug) oder Großkonzerne (Sklaven der Hochfinanz mit unentwirrbaren politischen Verstrickungen) versuchen angestrengt, von den Manövern ihres Machterhalts mit pseudoethischen Mitteln abzulenken – oder, wenn keine öffentlichkeitswirksame Naturkatastrophe zur Verfügung steht, ihre Verfehlungen zumindest unter der Decke zu halten. Es gelingt ihnen immer seltener. Macht hat keine Chance, wenn die Machthelfer den Dienst verweigern. Den neuen Möglichkeiten sozialer Vernetzung sei Dank: Immer mehr tun es.

Das möchte ich von Anfang an klarstellen: Mit der Kritik an Obrigkeiten allein und der Aufforderung, sie mögen ihren Aufgaben effektiver nachkommen, ist noch gar nichts erreicht. Gesellschaftlicher Dialog, wirtschaftlicher Erfolg, Unternehmenskultur, sogar Politik werden letztendlich von der Gesamtheit der Menschen gemacht, die sich daran beteiligen. Wer sich nicht daran beteiligt, sondern nur von außen nörgelt – obwohl auch das wichtig und notwendig ist im gesellschaftlichen Diskurs –, der verändert gar nichts. Und wer nichts verändert, darf auch keine Veränderung erwarten. Jeder Einzelne von uns, wirklich jeder Einzelne – und sei sein Beitrag noch so klein – kann an gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Erneuerung teilhaben. Wer das nicht wahrhaben will, kann aufhören, auf Verbesserungen zu hoffen. Er verdient sie nämlich gar nicht.

Die neue Aufklärung

Zum Glück beteiligen sich immer mehr von uns, und legen den Finger in die Wunde gesellschaftlicher Missstände. Die Zahl der Offenbarungen wächst täglich: Von scheinbar ethikfreien Politikern wie zu Guttenberg oder Koch-Mehrin über die gänzlich unchristlichen Deckelungsversuche bei den Skandalen der katholischen Kirche bis hin zu den schlichtweg egogetriebenen Pokertricks von Imperiumslenkern wie Zumwinkel oder auch Blatter.

Nötig ist es allemal, die Bosse der alten Schule bei den Schultern zu packen und kräftig durchzurütteln. Der Erfolg, den die bestehende so genannte Wirtschaftselite sich erarbeitet hat, ist ganz und gar nicht selten auf unethischem Weg entstanden und in aller Regel in irgendeiner Form erkauft. Es ist ein Erfolg der Partikularinteressen. Es ist der Erfolg nicht einer Gesamtwirtschaft, sondern einzelner gesellschaftlicher „Pockets“, die in ihren Nischen sitzen wie angeklebt und nicht nur das Kapital kontrollieren, sondern auch die Quantität und Qualität des gesellschaftlichen Fortschritts steuern.

Der Erfolg all jener hingegen, die tatsächlich alltäglich zum Wohle der Wirtschaft und damit der Gemeinschaft ackern, wächst weitaus langsamer und in streng begrenztem Ausmaß. Jene Gruppen, die sich selbst gern als Eliten inszenieren, werden durch ihre Marktmacht und ihren politischen Einfluss zu Instanzen, die die Frequenz der gesellschaftlichen Erneuerung vorgeben. Sie tun das, indem sie Wertediskussionen prägen – nicht im Sinne der Gemeinschaft, als deren Vordere sie per Definition die Rolle einer Avantgarde übernehmen sollten, sondern im Sinne ihres Machterhalts. Da Fortschritt im System aber nicht ohne Kompromisse auf der Individualebene möglich ist, müssen sie sich vorwerfen lassen, dass sie gezielt gegen den natürlichen Lauf der Dinge arbeiten: gegen machbare Innovation, gegen notwendige Perspektivwechsel, gegen die maximal mögliche Freiheit der Gemeinschaft.

 

Gemeinschaft ist das Zauberwort

Gemeinschaft ist wohl das am meisten unterschätzte Wort der Gegenwart – insbesondere in der Wirtschaft. Das Problem besteht darin, dass die Gesamtheit der Betroffenen auch im größten Konzern noch hinter den Partikularinteressen einzelner Entscheider anstehen, wenn es hart auf hart kommt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Egothemen auch vor den höchsten Positionen in der Wirtschaft nicht Halt machen. Und diese Erkenntnis ist nicht einmal im entferntesten neu: „Der ökonomische Mensch im allgemeinsten Sinne ist … derjenige, der in allen Lebensbeziehungen den Nützlichkeitswert voranstellt. Alles wird für ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung, des naturhaften Kampfes ums Dasein und der angenehmen Lebensgestaltung.“ Der homo oeconomicus, der Eduard Spranger im Jahre 1914 vorschwebte, als er diesen Typus charakterisierte, war eine fiktive Entität: Der Mensch, der so ist wie alle Menschen innerhalb der gleichen Wirtschaftsordnung. Der homo oeconomicus ist ein kleinster gemeinsamer Nenner. Diese Definition erlaubt es, jedes beliebige Partikularinteresse im Sinne der Lebenserhaltung und eines „naturhaften Kampfes“ um dieselbe zu rechtfertigen.

Es ist ein gesellschaftliches Armutszeugnis, dass sich die „Eliten“ der großen Wirtschaftsnationen, deren Partikularinteressen sich weit über diesen Kampf erhoben haben, bis heute moralisch auf dieser Survival-Logik ausruhen. Sie verpassen die Möglichkeit etwas zu schaffen, das anderen, aufstrebenden Ländern ein Vorbild im ursprünglichen, moralischen Sinne des Wortes sein könnte: Eine Form von Erfolg, die nicht allein die Erfüllung von Eigeninteressen, sondern von gemeinschaftlichen Interessen zum Ziel hat. Gemeint sind gemeinschaftliche Interessen, die eben nicht verordnet sind (wie im Fall von China), sondern aus dem Inneren der Gemeinschaft erwachsen. Alles andere ist gefährlich und freiheitsfeindlich. Doch die Politik vergibt die Chance, Bedrohungen der Freiheit und Menschenrechtsverletzungen durch undemokratische Länder von der glaubwürdigen Position dessen zu geißeln und gegebenenfalls sogar abzustrafen, der ein intaktes Wertegerüst vorlebt.

Stattdessen pochen Politiker auf die Einhaltung von Werten, deren Bedeutung sie selbst längst verlernt haben. Gleichzeitig verdienen machtnahe Wirtschaftszweige Billionen damit, Terroristen mit Waffen zu beliefern und menschenrechtsfeindliche Systeme im Sinne der „Entwicklungshilfe“ zu unterstützen – im Glauben, ihnen die eigenen Vorstellungen von Erfolg aufdrücken zu können. Wir sind betriebsblind geworden: Unser im Ursprung christliches Wertesystem, das in Wahrheit längst im Sinne vielfältiger Partikularinteressen pervertiert worden ist, gilt als gesetzt und unantastbar. Wir vertreten unsere Position mit der agitatorischen Arroganz der Unfehlbarkeit, die historisch betrachtet jenen Regimes innewohnte, die dem Absturz geweiht waren. Wir haben allen Grund, alarmiert zu sein.

Wer dem Wandel trotzt, verliert

Ich bin froh darüber. Auf lange Sicht betrachtet ist Unglaubwürdigkeit die ultimative Suizidstrategie überkommener Machtstrukturen. Die Sklaverei wurde (weitgehend) ausgelöscht, weil sie mit dem Common Sense der postfeudalen Epoche nicht mehr vereinbar war. Diejenigen, die auf ihr vermeintlich angeborenes Recht beharrten, andere Menschen zu unterdrücken und zu instrumentalisieren, hatten am Ende das Nachsehen. Die Intelligenz der Masse setzt sich durch; wer auf der Unveränderbarkeit der Welt beharrt, wird scheitern. Es klingt banal, und doch ist es das Gesetz der Geschichte: Die von der Masse der Menschen ersehnte Revolution kommt immer, und wer sich ihr in den Weg stellt, wird früher oder später scheitern.

Mit solchen suizidalen Tendenzen haben wir es nicht nur in Regierungskreisen, sondern auch in anderen gesellschaftlichen „Pockets“ der Macht zu tun: Es ist jener Anspruch auf Deutungshoheit in Kombination mit einer schockierenden Fahrlässigkeit im Umgang mit Werten, die neben der Politik auch den Klerus, die Medien, die Gewerkschaften und andere vermeintlich werteprägende Instanzen unserer Gesellschaft dominiert. Wir finden sie überall, wo „Werte“ auf dem Etikett steht und bei genauerem Hinsehen Machterhalt drin ist. Doch auch hier gilt: Wer sich dem Wandel verweigert, wird scheitern. Immer – mal früher, mal später.

Children of the Revolution

Inzwischen mehren sich täglich die Anzeichen, dass eine Werterevolution nicht nur bevorsteht, sondern bereits begonnen hat. Die Produktivwirtschaft übernimmt dabei einmal mehr eine Vorreiterrolle und entwickelt gegen alle Widerstände Erneuerungstendenzen. Noch sind die Blockaden massiv: Die selbsternannten Bewahrer der Marktwirtschaft sind in Wahrheit ihre größten Feinde. Jene, die immer wieder neu über Werte diskutieren wollen und auf Nebenkriegsschauplätze ausweichen, um sich in eine ethisch unangreifbare Position zu bringen, sind in Wahrheit die größten Feinde jedes freiheitlichen Systems, das auf Werten basiert.

In Wahrheit geht es nämlich gar nicht darum, über Werte zu diskutieren – sondern über den Umgang mit ihnen. Unsere Grundwerte, die über die Kulturgrenzen hinweg weitgehend homogen sind, haben sich durchaus bewährt und eine Renaissance nach der anderen erlebt: Es sind gute Werte, die wir von Kindesbeinen an verinnerlichen. Woran wir immer wieder scheitern ist, dass wir die Deutungshoheit an diesen Werten, die eigentlich der Gemeinschaft dienen sollten, den selbsternannten Eliten ihrer Zeit überlassen. Wir haben sie zurückerobert, jedes Mal – doch der Zyklus Werte-Deutung-Macht-Machtmissbrauch-Revolution war immer wieder der gleiche.

Die ersten explizit formulierten Werte dienten – salopp formuliert – in grauer Vorzeit dazu, einen Haufen Wilder zu domestizieren, die sich noch schwer damit abfinden konnten, den evolutionären Schritt vom Tier zum Menschen geschafft zu haben. Kaum waren diese ersten „Etikette“ etabliert und eine Entwicklungsstufe geschafft, gingen die Stammesoberen daran, diese Errungenschaft für ihre Zwecke einzusetzen: Hierarchien wurden gebildet, in denen der Stärkere mit dem Schwächeren prinzipiell machen konnte, was er wollte – er hatte ja die Werte für sich gepachtet und war also grundsätzlich moralisch unantastbar. Bis zur nächsten Entwicklungsstufe, in der die Macht jener Eliten infolge massiven Missbrauchs von der Gemeinschaft wieder eingeschränkt wurde. Die Elite scheiterte, weil sie an ihrem Anspruch festhalten anstatt unter Einschränkung ihrer Macht die nächste Entwicklungsstufe erklimmen wollte. Macht gibt man nicht gern auf; deswegen muss sie in der Regel scheitern, um sich zu entwickeln. In der Wirtschaft ist es nicht anders.

Macht: ein zivilisatorischer Denkfehler

An der Tendenz der Instanzen, auf der bestehenden Entwicklungsstufe stehenzubleiben und ihre Macht verwalten zu wollen, hat sich bis heute wenig geändert. Ebenso wenig erodiert ist jedoch die Kraft der Gemeinschaft: Veränderungen, die eine Mehrheit der Bevölkerung für notwendig hält, werden früher oder später eintreten. Zivilisatorischer Fortschritt ist unausweichlich. Eine Nummer kleiner: Die Erneuerung eines Systems wie der Wirtschaft eines Landes lässt sich nicht dauerhaft aufhalten. Dennoch verwenden die „Stammesoberen“ all ihre Energie darauf, sie zu verhindern oder doch zumindest zu verzögern. Eliten sind vermeintlich die Avantgarde der Gesellschaft; wir vertrauen jeweils für eine begrenzte Zeit darauf, dass sie uns tragende Wände bauen werden. Wir orientieren uns an ihnen als Boten des Fortschritts, wir folgen ihnen als Leitwölfe der Veränderung. Und laufen gegen Wände, ein ums andere Mal, wenn sie erkennen, dass Veränderung die Gefahr des Machtverlusts birgt, und kräftig auf die Bremse treten.

Die bittere Moral von der Geschicht‘: Macht ist nicht fortschrittlich, sondern per Definition fortschrittsfeindlich, weil auf ihren Erhalt ausgerichtet. Macht ist rückwärtsgewandt. Macht ist agitatorisch. Macht ist opportunistisch. Macht ist unethisch. Wir folgen den Falschen. Der homo oeconomicus ist streng genommen ein ziemlicher Neandertaler.

Die Selbstreinigungskraft der Gemeinschaft

Eines jedoch hat sich gewaltig verändert: Die Zyklen von Macht verkürzen sich mehr und mehr. Ungeachtet aller Bremsmanöver der jeweils herrschenden Schicht findet Fortschritt statt – wenn auch weit unter unseren Möglichkeiten. Immerhin hat der Emanzipationswille der Masse uns inzwischen auf ein Niveau gehievt, das uns erlaubt, uns unabhängig von elitären Informationsmedien und Deutungsmustern auf ungeahnte Weise miteinander zu vernetzen. Die Schwarmintelligenz, die sich im Internet und in sozialen Netzwerken bündelt, ist die größte Bedrohung, die Macht jemals hatte. Damit gehen zweifellos große Risiken einher; vor allem aber ist die globale Vernetzung eine gar nicht zu überschätzende Verheißung von Freiheit. Sie ist die ultimative Chance der Gemeinschaft, ihre Werte gegen den Missbrauch durch gesellschaftliche Instanzen zu verteidigen.