Ich trinke den Wind

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Ich trinke den Wind
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Gesine Auffenberg


Eine ungewöhnliche Reise durch den Sudan

Reiseerzählung

e d i t i o n ♦ k a r o, B e r l i n

Für

Siddi Mohamed Osman Bourhani

Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Prolog

In Nyala habe ich ein Pferd gekauft

Der Djebbel Marra

Die Schatten sind lang

Der Ritt in die Stadt dauert vier Tage

Ich denke an die Zugfahrt von Khartoum nach Nyala

Es ist an der großen Wasserstelle

Ich habe meine Reise im Westen begonnen

Eine Kirche, mitten in der Steppe

Es ist Abend

Ich habe die weißgekalkte Stube gefegt

Wieder in der Steppe

Es ist Nacht. Ich starre in die Glut

Ich hatte ein Postfach in Khartoum

Stichwortverzeichnis

Impressum

Prolog

Sommer 1980. Ich, eine Frau Anfang dreißig, reise in den Sudan. Dort kaufe ich mir ein Pferd. Von nun an lebe ich in der Steppe.

Ich reite in Männerkleidung.

Es ist die Zeit des Bürgerkrieges und des Hungers. So wie auch jetzt noch. Keiner zählt mehr die Kriegsjahre. Man sagt, es seien dreißig Jahre. In jedem neuen Jahr sagt man wieder: Es sind dreißig Jahre. So wie man aufgehört hat die Jahre des Krieges zu zählen, so hat man aufgegeben, an die Toten zu denken. Es sind zu viele.

Ich musste reisen. Ich hatte Angst.

Es war nicht Abenteuerlust oder Neugierde. Ich hatte auch kein völkerkundliches Interesse. Obwohl ich auf Stämme traf, die abgelegen und weitgehend unbekannt lebten.

Ich stelle keine Fragen. Ich beobachte. Ich erzähle davon. Ich erzähle von einem Bettler, der in einer Straße auf einem Stück Zeitungspapier lebt und nur aufsteht um zu tanzen. Ich erzähle von einem Hirten, der am Abend singt. Sein Lied bleibt. Ich erzähle von einem Madjub, einem Verrückten, der manchmal mit Steinen Krieg spielt. Und immer danach geschieht ein Überfall der Miliz. Was wäre ein Dorf ohne einen Madjub, sagen die Leute.

Ich beginne, das, was ich am wenigsten an den Menschen in diesem Land verstehe, zu brauchen, begehrlich zu brauchen: ihren Einklang mit dem, was geschieht. Ich nenne es die »Gelassene Zeit«.

Ich will es genau so sagen, mit diesen Worten, nachdem ich mit den Alten viele Nächte in der Moschee durchwacht habe. Und benommen von den durchwachten Nächten und benommen von dem Durst und der Hitze und benommen von dem Gott in den Menschen sage ich »Etwas bleibt, wenn ich gehe. Eine Erinnerung, die ich befrage. Nach mir selbst.«

In Nyala, einer Stadt im Westsudan, habe ich ein Pferd gekauft. Es ist ein kleiner, rotbrauner Hengst mit heller Mähne. Ich nenne ihn Ayn, weil sein Fell an einem Auge weiß ist. Ayn heißt auf arabisch Auge. Er beginnt sich daran zu gewöhnen, einen Namen zu haben.

Er ist jung. Er hat die Leichtigkeit der arabischen Pferde. Er ist nervös. Er scheut vor dem Sattel.

Die ersten Reisetage sind schwer.

Der Sudan ist ein großes Land, fünfzehn mal größer als Deutschland. Die Dörfer liegen weit auseinander und die Wege sind lang. Ich reise in Männerkleidung und raste an Wasserstellen. Am Morgen mache ich Feuer und koche Tee. Ich bringe den Sattel zu Ayn und er scheut. Ich lege den Sattel neben ihn auf die Erde. Ich trinke Tee und er riecht an dem Sattel. Vorsichtig, tastend. Er schnaubt. Er frisst Gras, das dicht an der Wasserstelle wächst. Ich sehe ihm zu. Ich rufe seinen Namen. Er sieht auf. Er kommt näher und bleibt witternd stehen. Wir lernen uns kennen.

Das Reiten habe ich als Kind gelernt. Wir hatten ein Haflinger Pony. In seiner weißen Mähne konnte ich mich vergraben. Ich war noch klein, sechs Jahre alt, als mein Vater es kaufte. Es stand auf der Weide. Ich wollte ihm Zucker bringen und lief zu ihm hin. Es galoppierte davon, und ich weinte. Mein Vater wollte, dass ich am Zaun stehen bleibe und warte. Das Pony hat gefressen. Es ging in Schlangenlinien und zupfte sein Gras. Ich stand am Zaun mit dem Zucker und weinte.

»Sieh doch, es kommt. Auf seinem Weg«, sagte mein Vater.

Ich habe ihm nicht geglaubt.

Es ist gekommen, das Pony, beiläufig, seine Kurven ziehend, und hat nebenbei den Zucker gefressen. Mit der Zeit sind seine Wege zu mir immer kürzer geworden.

Noch ist es schwer, Ayn zu satteln. Er bäumt sich. Er steigt. »Ayn!«, rufe ich, »Ayna!«

Ayna heißt auf arabisch Spiegel.

Der Djebbel Marra ist ein erloschener Vulkan, der wie ein Hügel in der Landschaft liegt. Seine Hänge fallen weit, dehnen sich in das Land und verebben in der Fläche. Und so heißt auch die Ebene noch Djebbel Marra, obwohl sie nicht mehr zu dem Berg gehört.

Die Erde ist fruchtbar, unverbraucht von dem Obst und der Hirse, die hier angebaut werden. Es gibt Wasser. Es gibt keinen Hunger. Die Dörfer liegen näher beisammen.

Ich reite zum Djebbel Marra. Ich reite durch Steppe. Die Tage sind heiß. Die Luft flimmert. Die Steppenbäume zittern. Keine Wolke schützt sie vor dem harten Licht und sie geben auch keinen Schatten zum Mittag, wenn alles siedet, kochend still wird, gelähmt. Nur ihre Schwärze gibt Kühle, ihre Dunkelheit, ihre zerfurchte Rinde, an die ich mich lehne, mittags, müde vom Reiten, die sich nicht aufladen lässt von der Hitze. Da ist die Ungewissheit am Abend Wasser zu finden. Da ist die Anspannung vom Reiten. Ayn scheut. Er steigt und geht durch. Es braucht lange, bis er wieder am Zügel geht.

Am Nachmittag reite ich weiter. Das Satteln dauert lang. Es ist eine Zeremonie. Immer. Ich lege den Sattel zu Ayn. Ich gehe langsam, damit er nicht scheut. Ich lerne es, mich langsam zu bewegen. Ich sehe ihm zu, wie er an dem Sattel riecht. Ich sitze still. Ich trinke Tee. Ich rufe ihn. Er nähert sich. Er bleibt stehen. Ich rufe ihn wieder. Er kommt. Er riecht an meinen Händen. Ich flüstere seinen Namen.

Nachmittag. Das Knirschen der Hufe im Sand. Der langsame Schritt. Der müde Gang. Das weiße Licht. Es ist hart. Es hetzt die Farben. Der Sand schwimmt in flimmerndem Rot. Die dunklen Bäume erstarren in ihrem Schwarz. Wie Trauergäste stehen sie da, die verknöcherten Arme empor geworfen im stahlblauen Himmel. Zum Nachmittag gehören die Schatten. Samtfarben und kühl wachsen sie dem Abend zu. Schatten. In der Äquatornähe sind sie willkommen. Ayn scheut nicht mehr. Er ist zu müde. Ich lasse mich in seinen Schritt fallen. Der Knieschluss nimmt seinen Atem auf. In dem gleichmäßigen Schritt zerrinnen die Stunden, fließen dahin wie ein breiter Strom, der sich bedächtig weiter schiebt, unaufhaltsam, gleichgültig. Es ist diese Langsamkeit, die von nun an meine Tage bestimmen wird, deren Rhythmus zu diesem Land gehört, wie zu dem sichernden Gang der wilden Tiere, dem wogenden Trott der Rinderherden und dem weiten Schritt der Kamele.

Manchmal noch blitzt die Erinnerung auf an die Hast der Großstadt in der ich lebte, um gleich darauf in der Steppe zu versinken. Hier zählt nur Gott die immer gleichen Jahre.

Dass ich beginne dieses Land zu lieben, seine Weite und seine unbelassene Zeit, habe ich in mein Tagebuch geschrieben. Es wird der letzte Satz sein, den ich in dieses Buch schreibe. Ich werde es nach Deutschland zurück nehmen, mit all seinen unbeschriebenen Seiten.

Ich schreibe nicht, um mich zu erinnern. Es gibt keine Geschichte. Es gab Augenblicke, die mich berührten. Bewahre ich sie, verändern sie sich.

Die Schatten sind lang. Der Nachmittag geht zu Ende. Ich strecke mich im Sattel.

Dort, wo fünf Bäume in einer Reihe stehen, hatte mir der alte Hirte am Morgen gesagt, werde ich am Abend eine Wasserstelle finden.

Wenn ich auf den Berg zu reite, der untergehenden Sonne entgegen. Ich nehme die Zügel auf und treibe Ayn zum Trab. Der Abend wird schnell kommen und mit ihm die Nacht.

Nirgendwo sind fünf Bäume zu sehen. Ihren Platz nimmt die Angst ein. Immer schon war sie da, den ganzen Tag. Ich hielt sie versteckt in zu kleinen Worten. Ein paar Schlucke Wasser in der Flasche. Sie werden nicht reichen für den morgigen Tag. Und wenn ich kein Wasser finde? Ich treibe Ayn zu scharfem Trab. Er lehnt sich gegen die Zügel. Er bleibt stehen. Er scharrt in der Erde. Sein ganzes Gewicht lehnt er gegen die Trense. Sobald ich nachgebe, fällt er in einen scharfen Trab und ändert die Richtung. Seine Ohren sind aufgerichtet. Sein Gang ist versammelt. Ich lasse ihn gehen. Die Sonne glüht. Endlos scheint mir der Weg zum Wasser. Ich frage nicht mehr. Ayn geht in scharfem Trab. Ich vergesse die Zeit.

 

Und dann: fünf Bäume stehen in einer Reihe.

Sie sind sehr niedrig. Ihr Geäst geht ineinander über, als hielten sie sich bei den Händen. Verknöcherte Arme, die am Ende ihrer Zeit zusammengewachsen sind, als wollten sie etwas zeigen, als wäre etwas noch ungesagt. Auch ihre Schatten sind verwachsen. Ein Reiter umkreist sie. Er reitet auf einem weißen Pferd. Auch sein Turban ist weiß und seine Galabia. Er hält die Zügel in einer Hand und in der anderen einen Speer. Der Speer ragt über seine Schulter. Der Reiter verlässt die Schatten der Bäume, verschwindet in einer Wolke aus Staub. Sehr groß berührt die Sonne die Erde.

Eine große Pfütze ist in dem Wadi, hat sich gehalten, hat überlebt, schlammig und braun. Es gibt ein wenig Gras. Sein Grün ist leicht. Ich lockere den Sattelgurt und Ayn trinkt.

Ich nehme Geäst der Bäume und mache Feuer. Ich koche Tee. Der Himmel ist rot. Die Nacht wird kalt.

Auf einmal steht er hinter dem Feuer. Still. Ich habe ihn nicht kommen hören.

»Achlen, willkommen«, sagt er und führt die Hand zum Herzen. Das ist Brauch, das ist der islamische Gruß. Ob er Tee wolle? Er setzt sich und nimmt von dem bitteren Tee. Feuerschatten fliehen über sein Gesicht, graben sich ein, dunkel, knisternd. Er beginnt das Gespräch. Er habe den Gang meines Pferdes gesehen, es sei ein guter Hengst. So beginnen die Gespräche hier, über die Tiere um die sich das Leben dreht, die Reichtum bedeuten oder Armut, in die ein einziges Jahr der Dürre Dörfer, Landstriche und Regionen wirft. Und so stehen sie auch auf den sudanesischen Briefmarken, die Rinder. Auf den billigen Briefmarken sind es wenige, auf den teuren mehr. Immer stehen und liegen sie auf hellblauem Grund, dem Himmel, der sie auch verdursten lässt.

Wir reden von Wasserstellen und Weideplätzen, und er erzählt von dem großen künstlichen See bei Djebala. Er kennt sich hier aus, er ist Hirte. Er kommt zurück aus Nyala und ist auf dem Weg zu seinem Dorf. In Nyala hat er Pferde verkauft. Manchmal verstehe ich seine Worte nicht, mein Arabisch ist schlecht. Und dann verstehe ich all seine Worte nicht, mit denen er mir ein Wort erklären will, das ich nicht verstehe.

Ich lege Holz nach. Der Sichelmond leuchtet den Lagerplatz aus.

Er hat angefangen zu singen. Sehr leise hat sein Lied begonnen. Ich sehe ihn an. Sein Gesang ist lauter geworden. Sein Körper beugt sich mit dem Rhythmus. Er schlägt mit den Händen den langsamen Takt, der pocht wie ein Schmerz. Er singt die Lieder seiner islamischen Bruderschaft. Ich versuche, die Worte zu verstehen. Dann überlasse ich mich dem Laut ihrer Klage. Sacht trägt sie mich fort in jene Fernen, aus denen sie stammt.

In der Nähe von Djebala, einem kleinem Dorf, das noch zum Djebbel gehört, hatte man nach Öl gebohrt und in der Tiefe Wasser gefunden. Es seien Franzosen gewesen, sagten die Dorfbewohner. Und dann fiel das Wort Texaco. Trotz Öl- und Goldvorkommen ist der Sudan ein armes Land. Der künstliche See war ein Segen für das Dorf. Die Hirsefelder wurden vergrößert, Rinder und Schafe vermehrten sich. Es gibt auch Hühner in diesem Dorf, was nicht oft vorkommt.

Ich beschließe, ein wenig länger an diesem Rastplatz am künstlichen See zu bleiben.

Dass sich an einem See die Mücken sammeln, habe ich nicht bedacht.

Im Dorf kann man frisches Fladenbrot, das man mit Sauermilch isst, Hirse und frische Eier kaufen. Ich gehe jeden Tag in das Dorf und sehe seinem Treiben und Handeln zu. Die niedrigen Häuser stehen zu beiden Seiten eines Sandweges und haben die Farbe der Steppe angenommen. Sie sind fensterlos. Nur zum Sandweg hin unter einem offenen Vordach sitzen die Frauen und backen Brot, scharren Hühner im Staub und spielen Kinder im Schatten. Am Tag gehört das Dorf den Frauen, die Männer sind auf den Feldern oder bei ihren Tieren. Das Leben spielt sich hier ab, unter dem offenen Vordach der Häuser, wo es immer Tee gibt und warmes Fladenbrot, das man aufrollt und in die Sauermilch tunkt und mit den Händen isst. Dann gibt es wieder süßen Tee, der nach Kardamom schmeckt.

Für Ayn kaufe ich Sesam, der sein Fell zum Glänzen bringt und ihn übermütig werden lässt, als würde der Hafer ihn stechen, für mich schwere Klumpen Erdnussbutter, von denen ich mir ein Stück abbreche, es zu einer Kugel rolle und in den Mund stecke. Ich esse wie alle mit den Fingern und bemerke, dass mein Hunger dabei unersättlich wird.

In dieser Zeit verlor ich mein Reisebesteck und war froh darüber. Das einzige Messer, das ich noch hatte, war ein scharfes Taschenmesser, das ich wie die Männer versteckt unter der Galabia am Oberarm trug.

Nach dem Essen werden die Finger in einer kleinen Wasserschale gespült und die Frauen beginnen, sich gegenseitig die Haare in kleine Zöpfe zu flechten. Es ist eine Zeremonie. Sie dauert Stunden. Ich sehe dabei zu, trinke Tee und rauche Zigaretten aus dem Zehnerpack No 1, die wie Sandpapier schmecken. Ayn, an den Stützbalken des Vordachs gebunden, schnaubt in das Gelächter der Frauen und beriecht ihre Kleider.

Zehn Frauen umstehen eine andere Frau, die auf einem Schemel sitzt, und lösen ihr lachend das Haar. Es ist zu unzähligen kleinen Rastazöpfen geflochten. Dann wird das Haar glatt gezogen und eingeölt. Es sei wichtig, das Haar zu ölen, erklären die Frauen, denn es würde sonst in der Hitze brechen. Sie würden mein Haar am nächsten Tag ölen und flechten. Währenddessen massieren sie Gesicht und Kopfhaut der Frau in ihrer Mitte, die nun zu schlafen scheint und sich nicht mehr am Gespräch beteiligt. Die Bewegungen der Frauen sind geübt und sicher, es gehört zu ihrem Alltag, sich gegenseitig zu pflegen, dabei lachen sie und tauschen Neuigkeiten aus.

»Wie geht es Amira, hast du sie gesehen?«, eine Frage, die immer wieder gestellt wird, auf die ein Schweigen folgt, bis eine der Frauen kurz ihre Hände hebt.

»Allah Karim, Gott ist gnädig.«

Es gibt kein Zeichen dafür, wann ein Arbeitsgang beendet ist. Wie auf ein unsichtbares Signal hin hören die emsigen Finger auf, sich in gewärmtes, duftendes Öl zu tauchen und mit kreisenden Bewegungen über die Haut zu streichen. Nun greifen sie zu, nehmen sich kleine Haarsträhnen, ziehen und reißen sie und beginnen die kleinen Rasterzöpfe stramm zu flechten. Die Zöpfe werden äußerst fest geflochten, damit sie steif werden wie ein Lineal, sie sollen lange halten, und das Haar scheint luftdicht versiegelt. Immer wieder wird es stramm gezogen, aber das scheint seine Besitzerin nicht weiter zu stören, sie scheint zu schlafen, mit einem leichten Lächeln, während ihr Kopf wie ein Pendel dem Ziehen an ihrem Haar nachgibt. Ihr Haar scheint unerschöpflich, schwer und glänzend flutet es über ihren Rücken, wie eine Macht, die gezähmt werden muss, verborgen vor den Blicken der Männer, nur dem der Frauen erlaubt.

So sagen die Frauen auch: »Wir gehen hinter den Männern, wir lassen sie vorgehen wie unsere Kinder, damit wir sehen, was sie treiben.«

Das Haarflechten zieht sich hin bis zum Abend, Hühner scharren im Sand, Ayn schnaubt, wir lachen und Kinder spielen im Schatten.

Am nächsten Morgen erwache ich früh mit einem Kopfschmerz, den ich so nicht kannte, stechend, als schramme bei jeder Bewegung das Hirn gegen die Schädelknochen. Jeder Schritt schmerzt, als ich mit Ayn zum See gehe. Während er trinkt, halte ich den schmerzenden Kopf in beiden Händen. Die ersten Sonnenstrahlen sind kalt. Ich friere. Man hat mich gewarnt vor den Krankheiten, aber ich habe mich mit der üblichen Malariavorsorge sicher gefühlt. Ins Dorf, denke ich, zu den Frauen, zu ihrem Lachen und ihren Händen, denke ich, sie können die Schmerzen vertreiben. Jeder Schritt dröhnt in meinem Schädel. Ich halte Ayn am Halfter, aber er ist es, der mich führt. Der Weg zum Dorf ist lang.

Die Frauen geben mir Tee. Er ist warm und süß und schmeckt nach Kardamom. Sie scheinen besorgt. Ich sage, es sei nur der Kopfschmerz und bitte sie, mir das Haar zu flechten. Ich friere. Sie lachen. Und dann sitze ich auf dem Schemel, auf dem Tags zuvor eine der älteren Frauen gesessen hat. Sie steht nun hinter mir und mein Kopf lehnt an ihrem Bauch. Sie bestreicht mein Haar mit warmen Öl. Andere Frauen kommen dazu, umstellen mich dicht, ich spüre ihre Hände über die Stirn, die Schläfen, die Wangen streichen, mein Kopf pendelt zwischen ihren Bäuchen, die fest sind und in denen Lachen blubbert und spitze Rufe des Erstaunens über mein blondes Haar. Ich schließe die Augen und werde erst wieder wach, als das Haarflechten beginnt.

Ich taste nach ihrem Flechtwerk auf meinem Kopf und sie stoßen meine Hände beiseite, sacht und bestimmt, als gehörten sie einem ungehorsamen Kind. Aber ich habe schon schnürsenkeldicke Zöpfe ertastet, die abstehen wie Fühler auf meinem Kopf, der sich geschoren anfühlt. Das Dröhnen im Schädel hat nachgelassen.

Als das Flechten beendet ist, essen wir Fladenbrot mit Fool, einer dicken Bohnensuppe, die in Öl und Knoblauch gekocht ist. Sie macht sehr satt und man schöpft sie mit Fladenbrot aus einem großen Topf, der die Nacht über auf dem Holzkohleofen gestanden hat. Sie ist ein köstliches Gericht und wird jeden Tag mit anderen Gewürzen zubereitet. Unsere Mahlzeit wird von einem neuen Gast unterbrochen, der den Vorraum betritt. Er ist untersetzt und kräftig und scheint zum Dorf zu gehören, denn die Frauen begrüßen ihn als Bekannten.

»Achlen, Mamoud, käf.«

»Hallo Machmoud, wie geht’s?«

Ohne den üblichen Tee zu trinken, wendet er sich gleich an mich. Er spricht schnell und seine Stimme ist leise.

»Ich bitte Dich, nach meiner Tochter Amira zu sehen, sie ist krank, schon seit Monaten. Vor einigen Wochen sind wir ins Krankenhaus gereist, es ist überfüllt, selbst die Flure sind überfüllt und es gab auch keine Medizin. Meine Frau schickt mich.«

Während er spricht, sehen mich die anderen Frauen schweigend an, und ich verstehe ihre Aufforderung, dem Mann zu folgen. Ich würde sie erst Wochen später wiedersehen, auf dem Markt vor dem Dorf, wo sie ihre Saris tragen, wie alle Frauen es tun, wenn sie auf der Straße gehen.

Ich folge Machmoud mit Ayn. Ich friere. Jeder Schritt schmerzt. Er bleibt vor einem Haus am Ende des Dorfes stehen. Das Haus ist niedrig, ohne Fenster und aus Lehm. Es hat ein offenes Vordach zum Sandweg. Unter dem Vordach ist es leer. Machmoud stößt die Tür des Hauses auf. Ich pralle gegen stehende Hitze und blinzele ins Halbdunkel. Ich sehe nur eine Blechdose auf dem Lehmboden. Silbern schimmert sie in dem Licht, das durch die Tür fällt, mit schattigen Beulen. Vielleicht hat das Kind mit der Dose gespielt. Mein Blick tastet sich voran. Schnitt sich in der Leere verdunkelter Wände. Tastet sich wieder in den Raum. Bleibt in der Ecke gegenüber der Tür bei einer dunklen Gestalt. Sie ist unförmig. Die Dunkelheit hat ihr jeden Umriss genommen. Nur ihr Augenweiß glänzt.

»Ma salama«, sage ich.

Ein Streichholz flammt auf und entzündet eine Kerosinlampe. Die aufzuckende Flamme lässt Schatten springen. Dann wird sie ruhig und die Schatten legen sich. Sie legen sich wie ängstliche Hunde, die sich Nachts zusammenrotten. In dieser Dunkelheit wacht die Mutter bei ihrem Kind mit monotonem Gebet. Sie hockt am Boden und hält das Kind im Schoß. Umständlich steht sie auf und hält mir das Kind entgegen.

»Amira«, sagt sie, auf das Kind blickend. Ich lege das Kind auf eine Matte. Es ist sehr leicht. Ich frage nicht nach seinem Alter, sie hätte gesagt, es sei zehn Jahre alt, doch ich trage das Gewicht einer Zweijährigen. Auszehrung. Rasselnde Atemgeräusche. Erhöhter Puls. Bläuliche Lippen. Kein Fieber. »Tuberkulose«, denke ich und sage: »Ich habe dafür keine Medikamente. Zu spät.«

Die Kerosinlampe brennt unbewegt.

Ich kehre zu meinem Lagerplatz am See zurück. Die große Sonnenscheibe fällt bereits hinter den Horizont. Mein Fieber steigt. Erst die Kälte, dann das Fieber. Malaria.

Die Sonne schwankt. Ihre letzten Strahlen schießen wie rote Hexen über die Steppe. »Allah Karim«, hat die Frau gesagt, als sie mir ihr Kind entgegen hielt, »Allah Karim.« Gott ist gnädig

 

Malaria. Der Baum, unter dem ich liege, dreht sich ächzend in meinem Fieber. Er schwankt und sucht mit kantigem Geäst im Himmel nach Halt. Aber der Himmel weicht zurück. Da wandelt er sich zu einer großen Spinne mit laubhaarigen Beinen und setzt sich auf den Mond. Dort nagt er an der weißen Scheibe. Während er frisst, spinnt er sein dichtes Netz, mit dem er Lichtstrahlen fängt und den Geier umspinnt, der seit Stunden im Geäst wartet. Langsam verschwindet der Mond unter seinen Bissen. Der Geier wartet geduldig. Jetzt bleibt nur die schwarzhaarige Nacht und der Gesang der Steine. Da fangen die wilden Hunde an zu jagen. Still und beharrlich verfolgen sie ihre Spur. Aber wenn sie ein Opfer umkreisen, werden sie wieder zu Wölfen.

Das Messer in der Scheide trage ich wie die Männer hier am Oberarm, um es jederzeit griffbereit zu haben. Aber der Stock, wo war der Stock? Die Hunde fürchten ihn, zu oft hat man sie geschlagen. Meine Hand tastet über sprödes Gestein, verfängt sich in Luftwurzeln und zerrt sich wieder frei. Fingert über Baumrinde. Kehrt zu Luftwurzeln zurück. Erkaltet in fieberhafter Suche. Nun ist es eine Eishand, die vorgibt, einen Stock zu suchen und dabei den Wurzeln die Wärme stiehlt. Kälte löst das Fieber ab. Sie breitet sich aus wie Leichenstarre und legt sich zwischen den Herzschlag. Ich schreie. Es ist der Schrei eines Tieres. Gedanken widerlegen kalt meine Hoffnung. Einfache Malaria, Wechselfieber, endet mit Herzkreislaufversagen. Ich muss Ayn frei binden, damit er sich ernähren kann.

»Ayn«, stammele ich, »Ayn«.

Ich höre ihn aus der Dunkelheit schnauben. An langem Seil trottet er auf mich zu, stellt sich über mich und senkt die Nüstern. Mir scheint, er stößt seinen Atem gegen mein kaltes Herz. So bleibt er stehen während der ganzen Nacht.

Am Morgen kehrt das Fieber zurück, pulsierend wie neues Leben. Da sind die Schatten noch jung. Das Fieber steigt schnell. Die Farben der Erde zerkochen zu seimigem Blut. Nur am Horizont tanzen Glasfarben. Die Schatten der Bäume zerschmelzen und lösen sich auf im Fieber des Mittags. Nackt sehen die kleinen Bäume aus ohne ihre dunklen Begleiter. Sie ziehen sich hinter runzlige Rinde zurück. Die Stimmen aus dem Dorf verstummen. Kein Wind, kein Luftzug. Die Stille des Mittags.

Auf dem Baum wartet der Geier.

Machmoud kommt und legt mir nasse Tücher auf die Stirn. Er gibt mir Wasser und Brot. Er tränkt Ayn. Als er geht, kommen die Träume wieder. Sie sind sehr klar, die Träume im Fieber. Ich treibe in einer Hirnschale auf dem Meer. Es ist rot. Ich suche ein Ufer, Land, das nicht in Sicht ist. Ich müsste es erschaffen, in der Nacht. Ich weiß genau, das es so ist. Ich habe Durst. Ich rufe nach Wasser. Das Meer ist voller Blut. Da ist immer diese Frau. Sie ist im Wasser. Sie sieht mich an. Ich weiß nicht, ob sie lacht oder weint. Oder lockt. Ich glaube sie gehört zu den Toten. Und spricht zu den Träumern. Wenn sie spricht, gehört auch sie zu den Träumern. Für diesen Moment. Sie spricht leise. Ich versuchte, ihr zuzuhören.

Das Fieber ist sehr laut. Es schlägt auf mich ein. Machmoud kommt und gibt mir wieder Wasser. Ich frage ihn, was die Frau sagt, ich kann sie nicht verstehen. Er sagt, es gäbe keine Frau. Ich sehe sie und habe versucht, vernünftig zu fragen. Ich höre sie sprechen, während er antwortet. Ich weine. Jetzt, als ich weine, kann ich sie verstehen. Sie redet vom Krieg.

Sie ist jeden Tag da. Sie wird mit dem Fieber zurück gehen. Ich werde versuchen, ihr zu folgen. Sie ist jeden Tag da und trägt jetzt ein Kind. Das Kind ist tot. Sie streichelt das Kind. Sie streichelt das Kind mit Händen, die so weiß sind, dass es schwer fällt ihnen zu glauben. Sie küsst das Kind und sagt: »Allah Karim.«

Das Fieber ist gesunken. Ich liege an dem traumleeren See. Machmoud kommt und bringt mir Wasser und Brot. Er sieht müde aus. Ich weiß, ich muss gehen. Ich sage, ich wolle in die Stadt reiten, um mich behandeln zu lassen. Ich wisse nicht, wann die Malaria wieder käme, ich wisse nur, dass sie wieder käme. Machmoud hilft mir beim Satteln. Er will keinen Dank für seine Pflege und erst recht kein Geld.

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