Etwas Russland

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Etwas Russland
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Gerd Heinecke

ETWAS RUSSLAND

Ein Bericht über Erlebnisse und Erfahrungen während dienstlicher Auslandseinsätze in den 1990er Jahren im Anlagenexport

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2018

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2018) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Allgemeines

Nischni Nowgorod

Petrowka

Jadrin

Jelabuga

Schikanen

Freizeit

Halbstadt

Kasachstan

Baikal

Chisinau

Einsätze in Russland

ALLGEMEINES

Was in Russland außerhalb der Montage sonst noch so geschieht. Nicht selten muss man in Russland an einem Tag 1.000 km und mehr mit dem Auto zurücklegen, um zu seinem Ziel zu kommen oder zu einer größeren Stadt, in welcher man hofft, ein Hotel zu finden, um am nächsten Tag weiterzufahren.

Die Ziele waren in der Regel die Baustellen, auf der die Franz Kirchfeld GmbH und Co. KG einen schlüsselfertigen Betrieb geliefert, montiert und in Betrieb genommen hat. Das geschah während meiner Tätigkeit bei Franz Kirchfeld zwischen 1990 und 2003 insgesamt vierzehnmal. Dabei handelte es sich in der Regel um Anlagen zur Fleisch- und Milchverarbeitung. Die Maschinen und Ausrüstungen waren zumeist in 20- und 40-Fuß-Container verpackt und standen oftmals schon 2 bis 4 Jahre beim Kunden vor Ort, bevor wir mit der Montage beginnen konnten. Nachdem der Baukörper, ebenfalls von F.K. geliefert und mithilfe eines Chef-Monteurs (Supervisor) und einer lokalen russischen Montagefirma errichtet wurde, begann mein Einsatz für die Ausrüstungsmontage.

Um nicht vor Ort von den Möglichkeiten und den Launen des Kunden abhängig zu sein war es wichtig, dass man während der Montagezeit, was die Mobilität betraf, autark war. Die Straßen, auf denen man sich bewegte, sind gesät mit natürlichen Hindernissen, Schlaglöchern und Straßenverwindungen, deren Kantenunterschiede nicht selten 10 bis 15 cm betragen. Unbefestigte Straßenränder legen kilometerweite Staubfahnen entlang der Fahrbahn in die Fahrersicht, die selbst starken Nebel zur Bagatelle degradieren. Auch wenn die Straße frei und deren Belag gut befahrbar ist, wird dieser Dreckrand immer wieder hauptsächlich von LKWs gern befahren. Die Windschutzscheibe und die Nasen- und Mundschleimhäute können das bezeugen. Weitere Hindernisse sind Straßenbaustellen (diese rechne ich in Russland noch mit zu den natürlichen), die urplötzlich vor einem auftauchen und ohne jegliche Umleitungsempfehlungen versehen sind. Auf offener Landstraße (1. Ordnung in Russland mit M für Magistrale bezeichnet) bahnt sich der Tross oftmals einen eigenen Weg durch Feld und Wald und Schlamm. Stecken gebliebene Fahrzeuge werden kollegial mit vereinten Kräften wieder auf Strecke gebracht. Verheerend jedoch wirkt sich so eine Sperrung in einer Großstadt aus, die ja in der Regel mindestens 1 bis 2 Millionen Einwohner hat. Auf Seitenstraßen muss man sich dann, wenn möglich, am Sonnenstand, hohen Bauwerken, eventuell Flüssen und eigenem Richtungssinn solange orientieren, bis man eine der Hauptstraßen mit Beschilderung wiedergefunden hat. Auf so einer Strecke, die man, wenn man Glück hat, in 12 bis 14 Stunden bewältigen kann, kommen dann noch die künstlichen Hindernisse hinzu.

Oftmals schon gestresst durch die bereits erwähnten Verhältnisse gibt es noch die sogenannten GAI (Государственная автомобильная инспекция). Auf Deutsch „Staatliche Automobil Inspektion“. Diese Einrichtungen dienen eigentlich der technischen Begutachtung der Kfz. Benutzt werden sie aber hauptsächlich zur Durchsuchung der Fahrzeuge einschließlich sämtlicher Privatsachen und zur Erfragung woher und wohin. Ab 23.00 Uhr muss auf manchen Strecken gar jeder Kraftfahrer in einen eigens für diese GAI errichteten Glasturm (mit Rundumsicht wie ein Bademeisterturm) in ein überdimensionales Buch eingetragen werden. Alle Daten werden dabei erfasst. Ein GAI ist mit maximal 10 km/h zu passieren. Bei einer Tagesfahrt von rund 1.000 km berührt man etwa 15 GAI-Punkte, die an bedeutenden Transitknotenpunkten, aber auch an Ortsein- und -ausgängen stehen und Kontrollen durchführen. So geschieht es, dass man im Durchschnitt zehnmal von Polizisten, bewaffnet mit Kalaschnikow im Arm und gekleidet in schusssicheren Westen, zwecks Kontrollen aufgehalten wird. Der Vorwand für eine eventuelle Fahrzeugdurchsuchung sind Waffen und Drogen. Interessanter jedoch sind Zigaretten. Teilweise wird man nach einem Präsent befragt. Misstrauisch werden die Milizionäre spätestens dann, wenn sie in den Dokumenten feststellen, dass mein VW-Bus einem gewissen Herrn Franz Kirchfeld gehört und in der Fahrerlaubnis ein gänzlich anderer Name steht. Wie auch immer diese „Milizkontrollen“ ausgehen, sie rauben einem insgesamt rund 1 ½ Stunden pro Tag, die man später am Ziel ankommt.

Hinzu kommen die Geschwindigkeitskontrollen auf russische Art. Allein durch die oft fehlenden Ortseingangsschilder und auch jene, die das Ende einer Geschwindigkeitsbegrenzung angeben, ist man oft verunsichert, ob noch eins kommen wird oder ob die normale zulässige Geschwindigkeit von 90 km/h wieder gefahren werden kann. Die Auswahl der Fahrzeuge ist willkürlich. Ist die Miliz gerade mit einem Opfer beschäftigt, kann man ohne weitere Beachtung – egal mit welcher Geschwindigkeit – weiterfahren. Ist man selbst im Sucher der Stopppistole, hat man keine Chance noch zu reagieren. Die gestoppten Geschwindigkeiten hatten meistens zu 100 Prozent gestimmt. Diese werden elektronisch durch LED-Anzeige nachgewiesen mit Zeitangabe, wann gestoppt wurde. Die Abstrafung ist meist mit fünf bis zehn DM erledigt. Schwierig jedoch wird es, wenn man erst auf der Hinreise zur Baustelle ist und noch keine Rubel in der Tasche hat, denn es gibt an der Grenze keine Wechselstuben. In diesem Fall gibt man die Fahrzeugpapiere ab und muss eine Bank auftreiben, die Valuten führt, sprich DM, und für Umtausch zugelassen ist. Diese Prozedur dauert mindestens bis zum nächsten Tag. Zur nächst größeren Stadt ist das meistens über 100 km weit. Die Öffnungszeiten sind recht willkürlich. Und steht man dann endlich am Schalter, wird unfreundlich Auskunft gegeben, dass man gerade heute keine DM tauschen kann, weil man bereits zu viel getauscht hat. Also zwingen die Umstände, sich anderweitig mit dem Vertreter der Staatsmacht, dem Milizionär, zu einigen, was meist gelingt.

NISCHNI NOWGOROD

Nicht so jedoch in Nischni Nowgorod im Juni 1994. Nach einem Mittagessen in einer für russische Verhältnisse außergewöhnlich gut gepflegten Gaststätte wurde ich als Fahrer kontrolliert. Nachdem schon fast alles in Ordnung schien, sah jedoch der rechtschaffene Milizionär noch in letzter Sekunde unseren Einkaufsbeutel auf dem Rücksitz des Autos, dass dort einige Wodkaflaschen ihre Hälse rausreckten. Wir hatten sie nicht gut verstaut. Das brachte ihn offensichtlich auf die Idee, mich als Fahrer in seinen Alkoholindikator pusten zu lassen. Das Glas Bier vom Mittagessen drängte sich in den Vordergrund und brachte die rote Diode am Gerät zum Leuchten (auch russische Technik kann sensibel sein). Nun wurde ich mit meinen zwei Mitfahrern von der russischen Polizeibürokratie erfasst. Autoschlüssel und Fahrzeugpapiere wurden gleich einbehalten. Ich wurde belehrt, dass im Gegensatz zu Deutschland hier in Russland nur Null Promille zugelassen sind. In der nahegelegenen Polizeiverwaltung, zu der man uns brachte, musste ich in einem eigens dafür vorgesehenen Zimmer nochmals pusten, um das erste Ergebnis zu bestätigen. Als der Beamte im weißen Arbeitskittel anschließend in einem Test mit einem Kugelschreiber vor meinen Augen hin und her fuchtelte, musste ich derart Lachen, dass ich ihn mit ansteckte und er weitere Komik dieser Art unterließ. Nach einer guten Stunde endlich wurden wir Drei von einem Milizionär irgendwohin gefahren. Die Fahrt ging etwa über 5 km in eine uns unbekannte Gegend in dieser drei Millionen Stadt. Dort wurde unser schöner Bus in einem eingezäunten Ghetto, in dem bereits etwa 100 Fahrzeuge standen, sorgfältig verschlossen und bis zum nächsten Tag bewacht. Unser Polizist fuhr mit dem Polizeiauto, was uns bis dorthin bekleidet hatte, zu seiner Dienststelle zurück und wir standen einsam und verlassen in irgendeinem Planquadrat von Nischni Nowgorod. Nun konnten wir in Ruhe am nächsten Kiosk erst einmal ein Bier trinken und die Strafe verdauen, die über uns hereinbrach, um uns danach mit den etwa 30 Worten die wir zusammen in Russisch auf die Waage brachten nach unserem Hotel „Bolna“ zu erkundigen. Der Heimweg gelang. Nun brauchten wir ja nur noch am nächsten Tag in der Polizeiverwaltung die Strafe zahlen, unsere Papiere und die Autoschlüssel holen, um dann mit der entsprechenden Freigabebescheinigung den Kleinbus aus dem Park-Ghetto auszulösen. Aber genau das war das Hauptproblem, wie uns die folgenden Erlebnisse an diesem heißen Junitag belehrten. Wir nahmen Juri unseren hilfsbereiten Baustellendolmetscher mit und stellten uns an die Tür mit der uns angegebenen Zimmernummer im Polizeigebäude. Obwohl wir bereits 10 Minuten vor Öffnung eintrafen, standen dort schon etwa 20 Leute vor uns. Immer mehr drängten sich mit rechtfertigenden und erklärenden Bemerkungen (in Russisch natürlich) vor uns in das begehrte Abfertigungszimmer. Als ein Beamter aus dem Zimmer trat und auf einen anderen Raum verwies, schwenkte die Hälfte der Leute aus unserer Schlange unschlüssig und zögernd um an die betreffenden Tür. Aber die Verbliebenen, zu denen wir gehörten, waren genau so unsicher an der richtigen Tür zu stehen, wie die diskutierenden Umschwenker. Nach zwei Stunden waren wir, Juri und ich, im Inneren des begehrten Raumes. Nun wurden wir ebenfalls auch noch an die Warteschlange des anderen Raumes verwiesen. Nach weiteren zwei Stunden Wartezeit ohne Frischluft mit schweißtreibenden Temperaturen empfing uns ein höherer Offizier, der weiter keine Aufgabe hatte, als alle Gesetzes- und Ordnungsverletzer über ihre Untaten zu belehren und bei einem entsprechenden Anflug von Reue, das mit einem Stempel auf einem Stück Papier die weitere Prozedur im Haus bis zum Ende zu ermöglichen. Auf die Knie mussten wir uns nicht fallen lassen. Im Gegenteil, von nun an schwenkte das Glück um auf unsere Seite. Der goldgeschmückte Offizier verbot Juri das Dolmetschen, da er selbst, so meinte er, in der früheren DDR stationiert gewesen war. Sein ganzes Sprachwissen erstreckte sich jedoch auf ganze zwei Grußworte. Er fand uns aber so interessant, dass er die hinter uns wartenden Leute unbeachtet weiter warten ließ und den weiteren folgenden Zimmerdurchlauf zum Erhalt unserer Dokumente und Autoschlüssel bis zur Bezahlung der Strafe von 25 DM am Kassenschalter selbst in die Hand nahm. In seinem Windschatten waren wir auch so „schon“ nach knapp fünf Stunden wieder draußen. Nun schlugen wir uns bis zum Park-Ghetto durch, wo wir wieder 30 Minuten warten mussten, um dann die Parkgebühren für diese eine Nacht zu begleichen. Angeblich betrugen diese für Ausländer die dreifache Höhe gegenüber einem russischen Sünder. Ein entsprechendes Dokument wurde zum Beweis vorgelegt, dass dieses rechtens sei. So wurde ich nochmals 90 DM los. Am Ende hat dieses eine Bier zum Mittagessen rund 130 DM (einschließlich Dolmetscherentlohnung und Taxikosten) und sechs Stunden Zeit gekostet. Waren wir doch letztendlich aber froh, wieder „frei“ zu sein und unseren in Russland vorgesehenen Aufgaben nachgehen zu können.

 

Zappzarapp (lt. Duden: bezeichnet eine rasche, unauffällige Bewegung, mit der etwas weggenommen, entwendet wird) ist ein bekanntes russisches Wort. Selbst in Deutschland kennt es fast jeder. Dieses Wort, was dort so viel wie Klauen bedeutet, ist nicht nur eine üble Nachrede oder aus vergangenen Zeiten überliefert. Solch ein unfreundlicher Vorgang gehört zumindest bei den Männern heutzutage beinahe zum guten Ton. Es ist gegenwärtig fast strafbarer, etwas vielleicht nur aus Vergesslichkeit leichtfertig liegen zu lassen, um den anderen zum Klauen zu verleiten, als dass Diebstahlsdelikt selbst. Auf jedes einzelne Stück seines Werkzeuges z. B. muss man permanent aufpassen, um keine Verluste zu erleiden. Einen Phasenprüfer oder andere Werkzeuge kann man in Russland nicht so einfach nachkaufen. Was weg ist behindert die spätere Arbeit bei der Montage. Man darf nicht denken, dass ist nur so unter Menschen, die einander fremd sind. Auch zwischen befreundeten Arbeitskollegen, die viele Monate gemeinsam auf einer Baustelle arbeiten, gehört dies gelegentlich zum „guten Ton“. So geschehen im Februar 1993. Unser Chefmonteur Elektro arbeitete am Schaltschrank, um die russischen Montagefirmen zu unterstützen. Seinen 600 DM teuren Werkzeugkoffer hatte er stets in Reichweite auf dem Erdboden hinter sich liegen. Trotzdem passierte es, als er sich halb umdrehte, also vom Schaltschrank weg zum hinter ihm liegenden Werkzeugkoffer, um das Werkzeug zu wechseln, dass der gesamte Koffer verschwunden war. Er war die ganze Zeit nicht allein. Die russischen Elektro-Spezialisten guckten ihm die ganze Zeit über die Schulter bzw. arbeiteten in der Nähe selbständig an anderen Ausrüstungen. Auf seine Frage nach dem verschwundenen Koffer guckten ihn alle unschuldig an und die Köpfe versanken zwischen ihren Schultern. Obwohl man schon mehrere Wochen gemeinsam gearbeitet, auch getrunken und gefeiert hatte, schreckte das niemand zurück, dieses verlockende, deutsche, chromblitzende, teilweise elektronische Werkzeug in ihren Besitz zu bringen. Das wird erst richtig verständlich, wenn man eben russisches Werkzeug kennt. Moniereisen sind das Ausgangsprodukt für Schraubendreher, Meißel, Hammer und Brechstangen. Ein besserer Hammer wird dann schon aus ¾ Zoll bis zwei Zoll Gewinderohr hergestellt. Man verschweißt das kleine Rohr mit dem größeren als T-Stück und danach werden die Rohrenden zusammengeklopft damit man so etwas wie eine Finne erhält. Leitern, wenn überhaupt welche benutzt werden, stellt man ebenfalls aus Bewehrungsstahl her. Die Sprossenweite geht bei 60 cm los.

Jedenfalls hatte unser Chefmonteur mit mehreren Mitteln und Methoden versucht, seinen unter den Händen gestohlenen Werkzeugkoffer wiederzubekommen. Nachdem alle Mittel versagten, drohte er mit sofortiger Abreise, da er ja nun nicht mehr arbeiten könne. Dies führte offensichtlich bei einigen russischen Elektrikern zu einer Überforderung, das heißt Fertigstellung der Anlage ohne deutschen Chefmonteur. Sofort erklärten sich 2 Mann bereit, den verschwundenen Koffer zu suchen. Nach maximal zehn Minuten lag er vollständig wieder vor den Füßen unseres Chefelektrikers. Nach ihrer Darstellung wurde dieser bereits über die Mauer des Schlachthofgeländes geworfen, von wo er noch nicht abgeholt worden war.

Diese Anlage in N.N. wurde von einem wirtschaftlich starken und bedeutungsvollen Kunden bei F.K. bestellt. Es war ein modifizierter 5-Tonnen-Betrieb mit der gleichen Schlacht- aber einer etwas höheren Verarbeitungskapazität. Der Kunde hieß GAZ (Горьковский автомобильный завод), also Gorkier Automobilfabrik. Nischni Nowgorod hieß bis Anfang der 90er Jahre Gorki.


Provisorische Heizung im Pausenraum

Ihr Hauptprodukt damals war das russische Oberklassenfahrzeug mit Namen „Wolga“. Die Fachbezeichnung GAZ 21 – GAZ 24. Auch ein leichter LKW mit der Bezeichnung GAZ 56 wurde dort gefertigt. Offensichtlich nahm man es mit der Qualität nicht so genau, was ein kleiner Vorfall an der dem Autowerk nächstliegenden Kreuzung unterstrich. Mitten auf dieser Kreuzung mühte sich ein Wolgafahrer mehrmals vergebens, die Kofferraumklappe zu schließen. Immer wieder sprang sie widerborstig und selbständig auf. Die russischen Dolmetscher machten uns darauf aufmerksam, während sie sich erheiterten. Sie kannten das Problem. Das käme hier öfters vor, dass manche Käufer ihr neues Fahrzeug direkt im Herstellerwerk abholen, die mitunter tausende Kilometer dafür anreisen und schon nach wenigen Metern Fahrbetrieb sich mit einer nicht schließenden Kofferraumklappe herumschlagen müssen. Ironisch meinten sie: „Das ist russische Wertarbeit.“ Das Werk hatte eine Außengrenze von mehr als einem Kilometer im Quadrat. Das erste Know-how stammte aus den USA von Henry Ford. 1929 errichtete er wesentliche Produktionsanlagen. Die Häuser für sein Baustellenpersonal, ebenfalls 1929 errichtet, waren 1993 immer noch gutaussehende und gefragte Wohnungen. Als Technik- und Autointeressierte äußerten wir einen Besichtigungswunsch, welcher auch genehmigt wurde. Im Werk erfolgte nicht nur die Endmontage der Fahrzeuge. Alle Teile, die ein Fahrzeug braucht, wurden ebenfalls innerhalb des Werkes gefertigt. Eine Zulieferung der Teile über das öffentliche Straßennetz war überflüssig, ausgenommen Material. Allerdings hatten wir gerade Pech, um die Anlagen in Produktion zu sehen. Innerhalb der Fertigungshallen drängte sich dicht an dicht eine Menschenschlange von ca. 50 – 60 Metern, um zu einem bestimmten geöffneten Fenster zu gelangen. Heute ist Zahltag, wurde uns mitgeteilt. An dem Schalter wurde gerade der Monatslohn ausgezahlt.

Politisch bekannt war N.N. auch durch die Verbannung von Andree Sacharow. Er war der Vater der sogenannten Zar-Bombe, die größte Wasserstoffbombe, die jemals gezündet wurde. Nachdem bei ihm ein Umdenken einsetzte, wurde er in der Sowjetunion zum Bürgerrechtler und Regimegegner und deshalb in einer Wohnung mitten in N.N. Tag und Nacht bewacht. Diese wollte ich mir anschauen. Bei unserer Exkursion dorthin hatten wir das Glück eine Mitbewohnerin des Hauses zu sprechen, die ihn noch persönlich gekannt hatte und über die Bewachungspraktiken des KGB viel erzählen konnte.

Zu erwähnen ist noch, dass zur Einweihungsfeier unserer Anlage im April 1993 kein geringerer als der zukünftige Ministerpräsidentschaftskandidat Boris Nemzow allen zur Fertigstellung gratulierte. Damals in seiner Eigenschaft als Gouverneur von der Oblast (Region) Nischni Nowgorod. Ein Politiker, der sich nie verbogen hatte und 22 Jahre später am 27 Februar 2015 unweit des Kremls durch 4 Schüsse ermordet wurde.

PETROWKA

Hatte ich doch selbst die Ursache in diesem Fall gesetzt, so konnte ich es bei anderen Unannehmlichkeiten weder beeinflussen, noch voraussehen. Am 8. März 1994, dem immer noch Heiligen Feiertag in Russland und in der Ukraine (Frauentag), trat ich meine Heimfahrt an. Ich wollte möglichst innerhalb der ersten Etappe noch über die polnische Grenze bis Przemysl kommen, um dort zu übernachten. Dass ich das an diesem Tag noch schaffen würde, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Diese Fahrt war mit genau 1.642 km die weiteste Etappe, die ich während meines Einsatzes in Russland an einem Tag je gefahren war. Ich kam von der Krim (Petrowka). Aufgrund des Feiertages zu dieser Tageszeit waren die Straßen autoleer. Es ging zügig voran. Nachdem ich 6 Uhr früh losfuhr, die Sonne zwischenzeitlich über den Horizont stieg und lange Schatten warf, kam mir ein Krankenwagen mit aufgesteckter Rotkreuzfahne und Alarmsignalen entgegen. Etwa gegen 7 Uhr fuhr ich am GAI von der Stadt Armiansk (genannt Inselwache, hier endet die Halbinsel) ohne kontrolliert zu werden vorbei. Ungefähr 6 km später standen am Straßenrand zwei Milizionäre, die offensichtlich einen herrenlosen PKW bewachten, der umgekippt auf der linken Seite ca. 20 Meter vom Straßenrand entfernt im Steppensand lag. Unerklärbar war mir, wie auf schnurgerader Straße so ein Unfall passieren konnte, zumal kein anderes beteiligtes Fahrzeug zu sehen war. Diesem Gedanken nachhängend, riss mich ein Polizeijeep, der sich urplötzlich quer vor mich auf die Fahrbahn stellte, aus meiner monotonen Fahrerei. Zwei Insassen sprangen aus den Beifahrertüren, von denen einer sich etwa 6 m vor meiner Frontscheibe aufstellte und der andere sich von links meinem inzwischen halb geöffneten Fahrerfenster näherte. Spätestens als beide ihre im Anschlag gehaltenen und auf mich gerichteten Kalaschnikows durchzogen und ich ihre schusssicheren Westen und Stahlhelme bemerkte, wusste ich, es ist Ernst. Meine beiden Hände legte ich auf den oberen Rand des Lenkrades. Während der eine von vorn mich anvisierte, murmelte der andere am Fenster ein knappes Dobri Den (Guten Tag). Nachdem dieser durch die Scheiben das Innere meines Kleinbusses inspizierte, wobei er an der Längsseite entlang ging und die Mündung seiner Kalaschnikow ständig auf das Businnere zeigte, stiegen sie beide in ihren Jeep und fuhren weiter in die Richtung, aus der ich gekommen war, davon. Nun fingen meine Überlegungen erst richtig an. Um zu erfahren, was das alles sollte, welche Zusammenhänge es gab zwischen Krankenwagen, Autounfall und diesem makabren Stopp, sollte ich noch etwa zwei Stunden warten müssen. Grübelnd fuhr ich weiter und musste nach fast 50 km nochmals fast die gleiche Kontrolle erleben. Ein Mann liegend im Straßengraben und ein zweiter kontrollierte. Gleiche Kleidung, gleiche Bewaffnung, gleicher Ernst. Wiederum 80 km weiter musste ich mich nochmals einer routinemäßigen GAI-Kontrolle unterziehen, zu der mich ein Milizionär bat, diese zwei neben ihm stehenden Soldaten doch etwa 60 km mitzunehmen. Da ich einwilligte, konnte ich nun erfahren, was im Raum Armiansk, also auf der Halbinsel Krim, passiert war. Zu dieser Aufklärung verhalf mir wiederum eine Milizkontrolle am GAI. Ich wurde gestoppt und nach meinen Dokumenten befragt. Doch bevor der Milizionär meine ihm hingereichten Papiere entgegennahm, fiel sein Blick auf die beiden mitfahrenden Soldaten in meinem Auto. Er ließ sofort ab von meiner Person und kontrollierte Ausgangsscheine und sonstige Papiere der beiden Soldaten. Nach dem dort alles in Ordnung war und wir weiter fuhren, fragte ich zielgerichtet die beiden, warum gerade sie so interessant sind für die Polizei. Sie gaben mir zu verstehen, dass heute früh gegen 7 Uhr in Armiansk zwei bewaffnete Soldaten mit Waffen und scharfer Munition desertiert seien. Und hatten, um an Geld, Zivilkleidung und möglichst zu einem Fahrzeug zu gelangen, das erstbeste Auto auf der Landstraße abschossen. Der Vorgang spielte sich exakt zehn Minuten vor meiner Durchfahrt an diesem Punkt ab. Mir fiel ein, dass ich früh zehn Minuten später als geplant erst gestartet war. Ein halbes Jahr später bei meiner erneuten Hinreise zur Baustelle erfuhr ich, dass die beiden Soldaten dann in Jalta, also im Süden der Krim, gestellt worden waren. Meine Richtung damals war zum Glück nicht die ihrige.

 

Mit diesen Erfahrungen über das tolerante Verhalten gegenüber fremden Eigentums, fuhr ich einige Monate später zum bereits fertigstellten Fleischkombinat wieder auf die Krim. Jeder der eigene Erfahrungen in Russland oder der Ukraine hat weiß, dass es nicht ausreicht, irgendein Hotel für die Übernachtungen zu finden, um sich für die bevorstehende Fahrt am nächsten Tag zu regenerieren. Es ist genauso wichtig, dass das Fahrzeug über Nacht auf einem eingezäunten, beleuchteten und bewachten Parkplatz steht. So kommt es nicht selten vor, dass nach Erreichen seines Hotelzimmers man nach 22 oder 23 Uhr zwei bis drei Kilometer fahren musste, um sein Auto von der Straße weg in Sicherheit zu bringen. Die Einstellgebühren dort betragen zwischen 5 und 10 DM. Man muss angeben, wann das Auto am nächsten Morgen abgeholt wird. Nach dieser Reihenfolge werden diese geschichtet. Das abgeschlossene Fahrzeug wird in eine Parklücke geschoben und früh wieder herausgezogen, da die seitlichen Abstände zu den Nachbarfahrzeugen meist nur maximal 20 cm betragen. Nun braucht man ein Taxi, um zurück zum Hotel zu gelangen. Am nächsten Morgen die gleiche Prozedur in umgekehrter Richtung. Die Auswahl des Taxifahrers ist die Schwachstelle in der Sicherheit und ist genau zu prüfen. Es ist wichtig zu wissen mit wem man fährt. Sind mehrere Taxifahrer am Taxistand untereinander im Gespräch, übermittelt das ein gewisses Vertrauen. Nach einiger Zeit der Beobachtung kann man sich dann entscheiden. Gibt es keinen sicheren Verwahrungsort für das Auto, dann schläft man entsprechend unruhig, weil man stündlich aus dem Hotelfenster schaut, um sein geparktes Fahrzeug im Straßenlicht sehen und auf Unversehrtheit kontrollieren zu können.

Das Problem hatte ich auf der Krim eigentlich nicht. Von der Montagezeit her, die bereits mehr als ein Jahr zurücklag, wusste ich, dass dort eine eigene Wohnung mit Garage auf mich wartete. Die Entfernung beider betrug untereinander zwar auch 1, 5 km, aber das nahm man der Sicherheit wegen gern in Kauf. An diesem 6. Mai 1994 wurde ich von unserem Kunden wie immer herzlich empfangen. Die russische aber auch die ukrainische Gastfreundschaft dürfte hinreichend bekannt sein und braucht man hier nicht näher zu erläutern. Es wird viel erzählt, es gibt viele Trinksprüche und natürlich immer dazu das russische Nationalgetränk. Wenn es genug ist mit den Promillen, gibt es kaum Mittel der Sache Einhalt zu gebieten und sich auszuklinken. Dankende und ablehnende Worte helfen nichts. Als nächsten Schritt drehe ich mein Glas um und stelle es auf den Kopf. Doch der Respekt davor dauerte nicht lange an. Man wird beim Einschenken maximal zweimal ausgelassen, dann steht es wieder gefüllt vor einem. Erst nachdem ich mein Trinkglas in die eigene Hosentasche stecke, kann ich mich weiterer Trinkfreundlichkeit entziehen. So geschehen auch an diesem Tag, erreichte ich nach der Begrüßungsfeier gegen ein Uhr meine Wohnung. Wohlwissend um das Risiko, brachte ich meinen Kleinbus, er war vollgepackt mit Baustellenmaterial, persönlichen Sachen und obendrauf mein Rad liegend, nicht mehr zur Garage. Ausladen lohnte sich nicht, denn ich wollte am nächsten Morgen zu meiner eigentlichen 1.200 km entfernten Baustelle nach Jadrin weiterfahren. Den Bus genau unter der Straßenbeleuchtung stehend, schlief ich ein und erwachte bereits gegen 5 Uhr früh. Mein erster Gedanke war mein Auto. Müde und noch in Schlafsachen machte ich einen ersten Kontrollgang vor die Haustür, da vom Wohnungsfenster aus kein direkter Sichtkontakt bestand. Das Fahrzeug war zu meiner Zufriedenheit unversehrt. Genüsslich legte ich mich noch einmal ins Bett, als ich nach etwa zehn Minuten einen dumpfen Knall hörte. Es dauerte noch etwa zwei Minuten, bis das Geräusch in den Teil meines Gehirns vordrang, der mir bewusst machte, dass das wie das Bersten einer Autoscheibe klang. Also Jeans drüber und noch einmal runter an das Auto. Meine Befürchtung wurde Gewissheit. Somit konnte ich wenigstens verhindern, dass wichtige Ersatzteile für unsere Baustellen und mein persönliches Eigentum (einschließlich Lebensmittel, für Russland ganz wichtig) gestohlen werden konnten. Nun stand ich frierend an meinem Bus und inspizierte ihn. Nach mehreren Schnitten an verschiedenen Stellen der Fenstergummis, man kam mit dieser Methode offenbar nicht zum Ziel, hatte der oder die Täter mit einem halben Ziegelstein die Seitenscheibe der Fahrertür eingeschlagen. Aber mehr als etwa ein faustgroßes Loch war nicht zu sehen. Die zersplitterte Scheibe hatten sie noch nicht gänzlich herausgenommen. Nach dem verräterischen Knall harrten sie offensichtlich der Dinge die sich nun tun würden, um danach mit dem Ausräumen zu beginnen. Zur Bewachung des Fahrzeuges blieb ich nun frierend in meinen Schlafsachen im Hauseingang stehen, etwa 3 m vom Fahrzeug weg. Ungefähr 20 Minuten waren vergangen, als ein Mann jung und sportlich, von oben bis unten in schwarze Sachen gekleidet um die Hausecke auf mich zukam und um Feuer für seine Zigarette bat. Ein Zusammenhang war mir sofort klar. Er beobachtete zwar das Auto, konnte aber nicht sehen, dass ich noch im Hauseingang stand. Nun wollte er sich überzeugen, ob ich noch zugegen war, um eventuell doch noch zum Erfolg zu kommen. Obwohl ich bemerkte, dass er genauso roch wie das Fett, mit welchem er das Zeitungspapier vor dem Steinschlag an verschiedene Autoscheiben klebte, war ich doch alleine in dieser Situation recht machtlos, um ihn der Polizei zu übergeben. Mit aggressivem Ton gab ich ihm zu verstehen, er solle sich davon machen, was er auch tat. Obwohl ich wusste, dass das Gleiche meinem Sohn mit seinem Kleinbus in demselben Ort nur ein knappes Jahr früher passiert war, versuchte ich es dennoch wieder. Mir wurde das bestätigt, was ich bereits wusste. Die Übernachtung in meinem Kleinbus, unmittelbar an einem GAI parkend, war für mich seitdem ruhiger als im Hotel zu schlafen ohne einen bewachten Parkplatz für das Auto.

Die Vorbereitung

Seit einigen Jahrzehnten war die Fa. Franz Kirchfeld und Co. KG auf dem Gebiet des Anlagenbaus tätig. Die Firma wurde 1955 in Düsseldorf gegründet vom gleichnamigen langjährigen Inhaber Dr. Franz Kirchfeld. Die etwa 40 bis 50 Mitarbeiter waren verantwortlich für Engineering, Beschaffung, Lieferung, Montage und Inbetriebnahme von schlüsselfertigen Anlagen auf dem Gebiet der Lebensmittelindustrie. So entstehen unter Leitung und Federführung von hochqualifizierten Fachleuten auf den Gebieten der Fleischbe- und -verarbeitung, der Milchwirtschaft, der Obst- und Gemüseverarbeitung und im Brauereiwesen die erforderlichen Projektierungsunterlagen für die weitere Realisierung der Projekte. Parallel dazu existierte noch eine Hauptabteilung zur Erstellung von Anlagen für die Herstellung von Speiseöl.

Die Medien für die erforderlichen Hilfsprozesse wurden ebenfalls projektiert und realisiert. Die technologischen Anlagen, ob für Fleisch, Milch oder die Obst- und Gemüseverarbeitung benötigten in der Regel Kalt- und Warmwasser, Dampf, Druckluft, Kühlung und Elektroanschlüsse. Oft wurden Wasseraufbereitungs- und Abwasserreinigungsanlagen mitgeliefert. Unsere Lieferungen beinhalteten meist auch die Baukörper selbst. Lediglich das Fundament mit der Grundplatte wurde durch den Kunden erstellt. Speziell nach Russland wurden zwischen 1990 und 1998 insgesamt 13 Anlagen geliefert für die Herstellung von Fleisch- und Wursterzeugnissen und Milch sowie Milchprodukte wie Butter, Sahne und Joghurt etc. Darüber hinaus lieferte F.K. zwei komplett eingerichtete Containeranlagen für Schlachtung und Fleischverarbeitung. Die größeren Anlagen bestanden aus den Produktionsgebäuden für Fleisch (teilweise auch für Milch) und aus den Gebäuden für die Hilfsprozesse mit den Kälteanlagen, die Wärme- und Drucklufterzeugung und die Abwasseraufbereitungsanlage.

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