Philosophie der Wissenschaft

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Philosophie der Wissenschaft
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Georg Römpp

Philosophie der Wissenschaft

Eine Einführung

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UTB-Band-Nr. 5048 | ISBN 978-3-8463-5048-5

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1Wissenschaft und Philosophie

1.1Wissen und Begründen

1.2Der Regress des Begründens und der Beginn der Wissenschaft

1.3Wissen und wissenschaftliches Erklären

1.4Das Erklären und die Welt

1.5Vorschau: Wissenschaft und Wissenschaftsphilosophie

2Wahrnehmung in der empirischen Wissenschaft

2.1Beobachtung, Induktion und Deduktion

2.1.1Beobachtung als Kontakt zur Wirklichkeit

2.1.2Induktion und Deduktion

2.1.3Verifizierung und Falsifizierung

2.2Die Grundlagen des Empirismus

2.2.1Eindrücke und Vorstellungen als Basis des Wissens

2.2.2Abstrakte Ideen und das Prinzip der Assoziation

2.2.3Wahrnehmungen und die Gewissheit der Wissenschaft

2.2.4Ein Beispiel: Hume und das newtonsche Gravitationsgesetz

2.3Sprache und Beobachtung: der Logische Empirismus

2.3.1Der Logische Empirismus

2.3.2Beobachtungssätze und das Basisproblem

2.3.3Der Logische Empirismus und das Problem theoretischer Begriffe

2.4Die Kritik am ‚Mythos des Gegebenen‘

2.4.1Der ‚Mythos des Gegebenen‘

2.4.2Begriffe und ‚Gegebenheit‘

2.4.3Auf dem Weg zu einem sprachgebundenen Empirismus

2.5Die Unbegrenztheit der sprachlichen Welt

2.5.1Die Begrifflichkeit von Wahrnehmungen und ihre ‚Natürlichkeit‘

2.5.2Kritik am Kohärentismus und die rationale Beziehung zur Welt

2.5.3Begriffliche Wahrnehmung und die Identität von Denken und Welt

2.5.4Von der Erfahrung zum Urteilen

2.6Von der Wahrnehmung zum Wahrnehmenden

2.6.1Inferentialismus und das Problem der Objektivität

2.6.2Das Prinzip der Verlässlichkeit

2.6.3Ein neuer Begriff von Beobachtung in der Wissenschaft

2.7Fazit

2.7.1Wahrnehmen in der gegenwärtigen Wissenschaftsphilosophie

2.7.2Beobachtung in der fortgeschrittenen Wissenschaftsentwicklung

2.7.3Das Problem mit der Kausalität der Wahrnehmung

3Das Experiment und das wissenschaftliche Wissen

3.1Das Experiment als ‚Eingreifen‘ in die Natur

3.1.1Von der Beobachtung zum Experiment

3.1.2Der Beginn der experimentellen Methode

3.1.3Theorienerzeugende und theorienprüfende Experimente

3.2Experimente und die Entscheidung über Theorien

3.2.1Das Experiment als Frage und die Natur als Antwort

3.2.2Das Experiment zwischen altem und neuem Wissen

3.2.3Das ‚experimentum crucis‘

3.3Analytische Urteile und ihre Bedeutung für das Experiment

3.3.1Das Problem

3.3.2Quines Kritik am Gedanken der Analytizität

3.3.3Analytizität und Übersetzungsunbestimmtheit

3.3.4Holismus und Experiment

3.4Fazit

3.4.1Was ein Experiment voraussetzt

3.4.2Das Experiment als ‚Kontakt‘ mit der Natur?

3.4.3Der Status des Experiments in der Wissenschaft

4Wissenschaft, Sprache und Welt

4.1Gegenstandstheorie der Bedeutung

4.1.1Eigennamen

4.1.2Allgemeinbegriffe

4.1.3Prädikate

4.2Mentalistische Theorie der Bedeutung

4.2.1Das Problem mit den Wörtern und ihren Bedeutungen

4.2.2John Locke und die Bedeutungen im Kopf

 

4.2.3Von den Begriffen zu Sätzen

4.3Bedeutung durch den Gebrauch der Sprache

4.3.1Kommunikative, strategische und repräsentierende Sprache

4.3.2Bedeutung, Sprachspiele und Lebensformen

4.3.3Verwendungsbedeutung und ‚Weltverlust‘

4.4Bedeutung durch Regeln und das Problem des Regelfolgens

4.4.1Das Problem

4.4.2Rigidität und Freiheit im Regelfolgen

4.4.3Regeln und Regelinterpretieren

4.5Unterbestimmtheit von Bedeutung und von Theorien

4.5.1Quines empiristischer Ansatz

4.5.2Bedeutungszuschreibung für eine radikal fremde Sprache

4.5.3Unbestimmtheit der Übersetzung

4.6Bedeutungen als Ansprüche und Verpflichtungen

4.6.1Die normative Grundlage von Bedeutung

4.6.2Die Regeln des Spiels

4.6.3Regel und Regelveränderung

4.7Bedeutung über ‚Bedeutungen‘ hinaus

4.7.1McDowells Einwand gegen die Bedeutungstheorie

4.7.2Unmittelbares Verstehen jenseits des cartesischen Weltbildes

4.7.3Verstehen ohne Interpretieren

5‚Realismus‘ und die Erfolge der Wissenschaft

5.1Realismus und Wissenschaft

5.1.1Von Wahrnehmung und Sprache zur ‚Realismus‘-Frage

5.1.2‚Realismus‘ in der Wissenschaft

5.1.3Realismus auf der Basis des ‚Erfolgsarguments‘

5.1.4Ein wissenschaftstheoretisches Gegenargument

5.2Wissenschaftsphilosophie und Erfolgsargument

5.2.1Der Begriff des Erfolgs

5.2.2Erklärung und Wahrheit

5.2.3Intuition und Begründung im Erfolgsargument

5.2.4Realismus, Anti-Realismus und die Wissenschaftsphilosophie

6Wissenschaft und wissenschaftsphilosophische Reflexion

6.1Wissenschaft und ‚alternative‘ Wissenschaft

6.2Verschiedene Perspektiven auf die gleiche Welt?

6.3Wissenschaft und Differenz

6.4Das Gelten der Naturgesetze

7Literaturhinweise

8Register

Vorwort

Die empirische Wissenschaft beeinflusst unser Leben weniger durch die technischen Apparaturen und Behandlungsmethoden zur Lösung von Problemen, in denen sich ihr Fortschritt mit zunehmender Veränderungsgeschwindigkeit darstellt. Es ist weit mehr die Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens zum Orientierungsmodell alles Denkens, das unser Selbstverständnis und unser Verständnis der Welt und damit unser Leben prägt.

Diese Entwicklung hat ihre Grundlage in einer bestimmten Auffassung von Wissenschaft, der zufolge sie einen exklusiven Zugang zur Welt besitzt, die sich in der wissenschaftlichen Sprache so darstellen kann, dass wir uns mit ihr miteinander und über die Welt verständigen können.

Die folgende Einführung zeichnet an den für den Weltbezug der empirischen Wissenschaft zentralen Stellen die Entwicklung der Wissenschaftsphilosophie seit Mitte des 20. Jahrhunderts hin zu einer fundamentalen ‚Kritik‘ an der Wissenschaft nach. Eine solche Philosophie wollte und will aber kein besseres Wissen als die Wissenschaft entwickeln, sie will der Wissenschaft nicht sagen, wie sie zu forschen hat, und sie will die empirische Wissenschaft auch nicht als ein schlechtes Wissen kennzeichnen.

Auch dadurch unterscheidet sich die Philosophie der Wissenschaft von der Wissenschaftstheorie. In diesem Buch wird aber auch nicht das übliche Quartett der Wissenschaftstheorie vorgestellt: Popper, Lakatos, Kuhn und Feyerabend. In das, was Wissenschaftsphilosophie heute ist, wird stattdessen durch eine Untersuchung der zentralen Grundlagen für einen Erfahrungsgehalt in der empirischen Wissenschaft eingeführt: die Wahrnehmung als ‚Kontaktstelle‘ mit der Welt, das Experiment als konstruierte Wahrnehmungsmöglichkeit, und die wissenschaftliche Sprache, in der sich die in Wahrnehmung und Experiment zur Erfahrung werdende Welt in wissenschaftlichen Theorien darstellt.

‚Kritik‘ ist die Philosophie der Wissenschaft deshalb, weil sie an der Grenzbestimmung des wissenschaftlichen Denkens arbeitet. Sie stellt also gedankliche Grundlagen zur Verfügung, um die rechtmäßigen Wissensansprüche der empirischen Wissenschaft von einer Verabsolutierung ihres Denkens zum alleinigen Orientierungsmodell alles Denkens unterscheiden zu können.

Damit arbeitet sie an der Freiheit, sich die Erfolge der empirischen Wissenschaft zunutze machen zu können, ohne sich auf ihre gedanklichen Grundlagen auch jenseits der wissenschaftlichen Erarbeitung eines technisch verwertbaren Wissens verpflichten zu müssen. Deshalb stellt Wissenschaftsphilosophie das sich in der Wissenschaft darstellende Denken in den weiteren Zusammenhang der Entwicklung des Denkens, Sprechens und Kooperierens in unserer Spezies, die uns – und nicht die Skorpione oder Kängurus – zur Herrschaft über diesen Planeten führte.

Die folgende Einführung in die Philosophie der Wissenschaft soll für studierende und studierte Naturwissenschaftler und Philosophen einen Beitrag zur Entwicklung der Freiheit in diesem Prozess leisten und unter diesem Vorzeichen den Dialog zwischen empirischer Wissenschaft und Philosophie fördern, der seit zwei Jahrhunderten nur noch fragmentarisch geführt wird.

1Wissenschaft und Philosophie

1.1Wissen und Begründen

Die Wissenschaft erklärt uns die Welt. Sie tut dies, indem sie zunächst aufgrund von Beobachtungen Theorien über Ereignisse und Zusammenhänge in der Welt aufstellt. Diese Theorien werden dann durch Experimente auf ihre Übereinstimmung mit der Erfahrung geprüft. In Experimenten können wir die Wahrheit von Theorien durch gezielte Wahrnehmungen feststellen. Im Falle der Bestätigung entstehen daraus Gesetze, die das Geschehen in der Welt präzise beschreiben. Solche an der Erfahrung geprüften Gesetze gibt es in erster Linie in den Naturwissenschaften, obwohl auch die empirische Psychologie, die empirischen Sozial- und Wirtschaftswissenschaften und andere Disziplinen bis hin zur empirischen Sprachwissenschaft auf diese Weise vorgehen, wenn sie nach Erfahrungswissen suchen. Auf diese Weise entwickelt die Wissenschaft ein immer besseres Wissen von der Welt. Es kann vorkommen, dass sich manche Gesetze als falsch erweisen, so dass sie aus dem Bereich des wissenschaftlichen Wissens ausgeschieden werden müssen. Aber dies geschieht aufgrund einer besseren und genaueren Prüfung auf deren Übereinstimmung mit dem Geschehen in der Welt, so dass sich der Wert der wissenschaftlichen Methode damit durch ein weiteres Fortschreiten im Wissen bestätigt.

Weil die Wissenschaft uns die Welt erklärt, können wir die Welt immer besser nach unseren Wünschen verändern und gestalten. Die Fortschritte in Medizin und Technik sind die besten Beweise dafür, dass die Wissenschaft die gesetzmäßigen Zusammenhänge in der Welt richtig erklärt. Wenn dabei unerwünschte Folgeprobleme entstehen, so suchen wir auf politischem Wege durch den Einsatz von mehr finanziellen Mitteln nach einem besseren wissenschaftlichen Wissen, das unseren Zielen besser entspricht. Auf diese Weise beeinflussen wir die Wissenschaft, weil wir Erklärungen wünschen, die uns interessieren, und technische Anwendungen wissenschaftlicher Erkenntnisse erwarten, die unseren Wünschen und Bedürfnissen entsprechen. Das ändert aber nichts daran, dass die Wissenschaft die Welt mithilfe der Erfahrung beschreibt und Wissen anhand von Beobachtungen und Experimenten gewinnt. Dies ist sogar der Garant dafür, dass neue Erkenntnisse sich unseren Wünschen entsprechend in technische Anwendungen umsetzen lassen.

Die beiden letzten Absätze enthalten eine Beschreibung dessen, was Wissenschaft ist, indem angegeben wird, was sie tut. Es gibt sicher auch andere Beschreibungen, aber für das Alltagswissen wären sie im Großen und Ganzen äquivalent mit der gerade gegebenen. Offenbar verfügt die Alltagssprache über ein tief eindringendes und umfangreiches Wissen über die Wissenschaft. Es bezieht sich nicht nur auf das Vorgehen und den Fortschritt der Wissenschaft, sondern auch auf die Beziehung zwischen dem wissenschaftlichen Wissen und der Welt, von der es uns nützliche Erkenntnisse zur Verfügung stellt. Wir könnten ein solches Wissen über die Wissenschaft als ‚Wissenschaftstheorie‘ bezeichnen. Sie genügt zwar sicherlich nicht den Ansprüchen der Wissenschaft selbst an eine wissenschaftliche Theorie, aber es handelt sich doch um eine Theorie insofern, als sie allgemeine und dem Anspruch nach wesentliche Strukturen eines Wirklichkeitsbereiches beschreibt, nämlich dessen, den wir als ‚Wissenschaft‘ bezeichnen.

Deshalb sollte jene Beschreibung der Wissenschaft zumindest dem Begriff des Wissens genügen können, der für das Wissen der Wissenschaft selbst gilt. Diese Standard-auffassung von ‚Wissen‘, auf der das Wissen der ‚Wissenschaft‘ beruht, ist sehr einfach mithilfe von drei Kriterien zu beschreiben. (1) Die Person, die beansprucht, etwas zu wissen, muss etwas über die Welt glauben. Das genügt aber natürlich nicht, denn bekanntlich glauben wir Vieles, was wir nicht wissen. Aber diese Beziehung zwischen der Person und einem Sachverhalt ist nichtsdestoweniger ein wichtiger Bestandteil eines jeden Wissens. (2) Das, was geglaubt wird, muss wahr sein. Damit unterscheidet sich Wissen vom Glauben und Meinen. Nun könnte es aber sein, dass eine Person etwas glaubt und dass das, was sie glaubt, zufällig auch wahr ist. Etwa könnte jemand in Deutschland zu einem bestimmten Zeitpunkt glauben und diesen Glauben auch aussprechen: ‚Heute regnet es in San Francisco‘. Wenn wir den Wetterbericht für diesen Tag konsultieren, dann stellen wir vielleicht fest, dass dies tatsächlich der Fall ist. Aber würden wir auch sagen, dieser Jemand wisse dies, wenn er keinen einzigen nachvollziehbaren Grund für seinen Glauben angeben kann? (3) Deshalb müssen wir für Wissen noch ein weiteres Kriterium heranziehen. Wer etwas glaubt, muss seinen Glauben auch begründen bzw. rechtfertigen können, damit wir ihm wirklich ein Wissen im Falle des Bestehens des betreffenden Sachverhaltes zuschreiben können. Solche Begründungen können besser oder schlechter sein. Der Glaube, heute regne es in San Francisco, lässt sich leicht durch den Hinweis auf ein Telefongespräch mit einem Menschen, der eben dort lebt, begründen. Er lässt sich aber nicht begründen durch den Verweis auf die gerade gesehene Episode einer Fernsehserie, deren Handlung in einem San Francisco im Dauerregen spielt.

 

Wir könnten dies auch so ausdrücken, dass mit dem Anspruch auf Wissen drei Dimensionen tangiert sind: (1) die subjektive Dimension des Glaubens bzw. des ‚Fürwahr-haltens‘, (2) die objektive Dimension des Wahrseins, (3) die intersubjektive Dimension der Gründe – in der amerikanischen Gegenwartsphilosophie wird hier regelmäßig vom ‚space of reasons‘ gesprochen. Diese dritte Dimension des Wissens wurde und wird sehr häufig ignoriert, obwohl sie schon in unserem alltäglichen Sprachgebrauch enthalten ist. Wir bezeichnen etwa einen Glauben, der durch falsche Prämissen begründet wird, auch dann nicht als Wissen, wenn er ‚zufällig‘ wahr ist. Sagt jemand ‚Haie sind Fische‘, so sind wir geneigt, ihm einen wahren Glauben zuzuschreiben. Aber sagen wir immer noch, er wisse dies, wenn er seinen Glauben so begründet: ‚Alle schwimmenden Tiere sind Fische, Haie sind schwimmende Tiere, also sind Haie Fische‘? Rein logisch ist dieser Zusammenhang korrekt, aber bekanntlich sind Wale keine Fische, so dass der Obersatz falsch ist, weshalb die Konklusion so nicht begründet werden kann.

Diese Analyse des Begriffs des Wissens, die zu drei Kriterien für dessen richtige Verwendung führt, ist dennoch nicht ganz unbestritten. Dies gilt weniger für die beiden ersten Kriterien – dass Wissen wahr und von jemandem geglaubt sein muss – als vielmehr für das dritte Kriterium. Dass das Wissen wahr sein muss, führt nur dann zu Problemen, wenn wir nach der Bedeutung dieses Adjektivs fragen und darüber hinaus noch danach, welche Kriterien denn erfüllt sein müssen, um etwas als wahr bezeichnen zu dürfen. Dieses Problem lassen wir hier auf sich beruhen, weil es weit besser gelingen wird, den Stand der Philosophie der Wissenschaft zu verdeutlichen, wenn wir uns auf den Aspekt des Begründens in jedem Wissen konzentrieren, als dies bei einer Beschäftigung mit dem Begriff der Wahrheit der Fall wäre, der in der Wissenschaft sowieso fast nirgends verwendet wird. Dass Wissen nicht als Gegenstand in der Welt vorhanden ist wie Steine, Bäume oder Kängurus, sondern von jemandem geglaubt bzw. für wahr gehalten werden muss, ist sicherlich einleuchtend.

Es wurden allerdings Beispiele gefunden, die es weniger selbstverständlich machen, dass Wissen auch begründet sein muss. Wir müssen uns hier aber auf die Behauptung beschränken, dass diese Beispiele nicht ausreichen, um den Aspekt der Begründung aus dem Begriff des Wissens auszuschließen. Etwa wird das bekannteste Beispiel so oder ähnlich beschrieben: Jemand schreibt in einer Prüfung von dem neben ihm sitzenden Kandidaten ab, und zwar von jemandem, von dem er weiß, dass er in diesem Fach ein Star ist, und was abgeschrieben wurde, ist unbezweifelbares Wissen des Prüfungsfaches. Der Schummler erfüllt also eigentlich alle drei Kriterien des Wissens: er glaubt, dass seine nur abgeschriebenen Kenntnisse gelten, sie sind auch tatsächlich wahr, und er kann gerechtfertigt glauben, dass diese Kenntnisse wahr sind, denn sich auf Autoritäten zu stützen, ist eine Form der Rechtfertigung, wenn auch nicht immer eine gute. Sagen wir in diesem Fall aber, dieser Prüfling verfüge über Wissen? Intuitiv könnten wir dies verneinen. Dann sind wir aber nicht ganz konsequent, denn der größte Teil unseres Wissens wird nur durch Autoritäten gerechtfertigt. Dass ‚to look forward to‘ in der englischen Sprache ein nachfolgendes Gerundium fordert (‚I am looking forward to seeing you‘), wissen Kontinentaleuropäer ebenso nur durch Autoritäten – etwa durch die Verfasser englischer Grammatiken – wie wir die fundamentalen Sätze der Quantenmechanik nur durch die rechtfertigende Vermittlung durch Physiklehrer und -professoren kennen, obwohl kaum jemand ohne ein Studium der theoretischen Physik eine ausreichende Begründung dafür geben kann.

Aber die Frage, welche Art von Begründung denn vorliegen muss, damit wir von ‚Wissen‘ sprechen können, weist uns auf eine weitere wichtige Struktur unserer Auffassung des Wissens hin, das wir der Wissenschaft zuschreiben, wie wir dies oben skizziert haben, und von dem eine ‚Wissenschaftstheorie‘ ein Wissen beansprucht, auch wenn es nur so einfach ist, wie wir es eingangs dem Alltagsverständnis zugeschrieben haben. Jene Beschreibung, die wir als eine einfache Form von ‚Wissenschaftstheorie‘ bezeichnen könnten, gibt einen Begriff von Wissenschaft an, der nicht unabhängig ist von der Bedeutung, die wir mit dem Begriff des Wissens verbinden, und wenn wir in diesen Begriff die Begründbarkeit einschließen, dann wird der gewusste Begriff des Wissens des Weiteren abhängig von der Bedeutung, in der wir bereit sind, von Begründung zu sprechen. Offensichtlich wird das Wissen von der Wissenschaft und das Wissen der Wissenschaft selbst verschieden sein, je nachdem, ob wir eine Begründung durch Autoritäten als ausreichend für diesen Begriff erachten oder nicht. Und selbst wenn wir dazu bereit sind, so werden sich weitere Fragen stellen wie: Wie viele Autoritäten benötigen wir? Genügt es, dass 95 % aller Klimatologen der Welt bestätigen, dass der Klimawandel wirklich und menschengemacht ist, oder müssen es 99 % sein? Welche Qualifikationen müssen die Autoritäten aufweisen? Genügt eine Promotion, müssen sie eine Professur haben, oder dürfen sich auch gewöhnliche Schullehrer einmischen? Und wenn das erstere oder das zweitere gilt, wo müssen sie studiert haben – in Stanford, am MIT, in Harvard/Yale/Princeton, oder darf es auch eine Universität in der bayerischen Provinz sein?

Wir haben zunächst einen Begriff von Wissenschaft skizziert, der heute weitgehend akzeptabel sein dürfte – außer vielleicht dort, wo die wilden Kerle der Philosophie wohnen. Wir haben dann den Begriff des Wissens nach einer Auffassung beschrieben, die man heute als Standardauffassung ansehen kann: jemand weiß etwas, wenn er es glaubt (‚für wahr hält‘), wenn es wahr ist und wenn er es begründen kann. Nun haben wir gesehen, dass der Begriff des Wissens in noch unabsehbare weitere Probleme führt, wenn wir ihn näher bestimmen wollen. Dies gilt nicht nur für den Begriff des Wissens, das die Wissenschaft von der Welt gewinnen kann, sondern auch für den Begriff des Wissens, den wir mit jenem Begriff von der Wissenschaft beanspruchen müssen. Die Antwort auf die Frage, ob und wie weit wir jenen Begriff von Wissenschaft nach einer genaueren Prüfung akzeptieren können, und ob und wie weit das Wissen der Wissenschaft wirklich so ist, wie es in jener Auffassung beschrieben wird, hängt also offenbar von einigen schwergewichtigen Begriffen und deren näherer Bedeutung ab.

Deshalb werden für die Prüfung der Angemessenheit jener Begriffe von Wissen und von Wissenschaft Fragen nach der Herkunft, der Richtigkeit und der Bedeutung von Begriffen eine zentrale Stelle einnehmen müssen. Wir haben bereits eine gut begründete Entscheidung darüber getroffen, welchem Begriff aus der Standarddefinition von Wissen wir im Folgenden in erster Linie nachgehen wollen: der Begriff des ‚Glaubens‘ (also der Subjektbeziehung des Wissens) wirft nur wenige Probleme auf, der Begriff der ‚Wahrheit‘ (der lange Zeit als die Objektbeziehung des Wissens bezeichnend aufgefasst wurde) ist in der Wissenschaft unbedeutend und würde Probleme aufwerfen, die weit über die Gegenwart der Philosophie hinausgreifen, wie etwa eben die Frage nach einer ‚Objektbeziehung‘ des Wissens selbst. Also zeigt sich der Begriff der Begründung als derjenige, dessen Untersuchung den besten Zugang dazu bietet, wie wir das Wissen von und das Wissen der Wissenschaft auffassen müssen.

1.2Der Regress des Begründens und der Beginn der Wissenschaft

Möglicherweise wurde und wird das Begründen und Rechtfertigen als die dritte Dimension des Wissens gerade deshalb so leicht außer Acht gelassen, wenn von Wissen die Rede ist, weil wir damit in ein folgenreiches Problem geraten. Wenn das Vorliegen von Wissen von Begründungen abhängt, so müssen diese Begründungen offenbar selbst die Kriterien für ‚Wissen‘ erfüllen, sonst können wir mit ihrer Hilfe kein Wissen erzeugen. Das zeigte sich schon in dem obigen Hai-Beispiel sehr deutlich: wenn der Obersatz, mit dessen Hilfe der Schluss durchgeführt wurde, falsch ist, dann kann mit ihm die Konklusion offenbar nicht begründet werden, und es handelt sich nicht um ein Wissen, obwohl die Konklusion wahr ist. Ganz ähnlich würde man den Glauben, dass Zeitreisen möglich sind, nicht als Wissen ansehen, wenn als Begründung deren Vorkommen in Hollywood-Filmen angegeben wird, obwohl diese Möglichkeit durch die Relativitätstheorie begründet werden kann und dann ein Wissen darstellen würde. Das Problem ist offenbar, dass Wissen anderes Wissen voraussetzt, damit ersteres begründet werden kann, wobei letzteres folglich selbst begründungspflichtig ist durch wieder anderes Wissen. Das Problem ist also das eines unendlichen Regresses.

Können wir diesen Regress nicht stoppen, so sind wir nicht berechtigt zu behaupten, dass wir überhaupt etwas wissen – weder in der Wissenschaft, noch über die Wissenschaft. Stoppen wir ihn aber auf eine falsche Weise, so können wir ebenfalls keinen Anspruch auf Wissen erheben. Etwa könnten wir uns entschließen, nach einigen Begründungsschritten bei unbegründeten Annahmen stehen zu bleiben. Das ist die häufigste Lösung, die wir im Alltag anwenden, wenn wir nach Begründungen – und nach Begründungen für Begründungen – gefragt werden. Damit kann man es sehr weit bringen und sehr überzeugend wirken; man muss nur solche unbegründeten Annahmen finden, die wir selbst und unsere Gesprächspartner als selbstverständlich unterstellen, d. h. an die sie glauben. Das mag für viele Zwecke ausreichen, aber von Wissen können wir dann natürlich nicht sprechen, denn jene Begründbarkeit, die zu den Kriterien für Wissen gehört, endet dann bei einem Glauben als einem ‚Fürwahrhalten‘, womit das zu begründende Wissen selbst nur einen Glauben darstellt – und dies auch dann, wenn es wahr ist.

Eine andere Möglichkeit zum Stoppen des Regresses der Begründung stellt eine zirkelhafte Begründungsweise dar, d. h. wir wiederholen einige Behauptungen, die wir bereits angeführt hatten. Das Ergebnis in Bezug auf den Begriff des Wissens wäre in diesem Fall aber nicht besser, und in der Regel findet sich bald ein Cleverle, das hier ‚Zirkel!‘ schreit. In der Geschichte des Wissens war es deshalb in der Tat das Stoppen des Regresses bei Glaubensüberzeugungen, mit dem das Kriterium der Begründungspflichtigkeit von Wissen zu erfüllen versucht wurde. Diese Methode war über viele Jahrhunderte hinweg allgemein anerkannt und wurde in allen Institutionen zur Erzeugung und Verarbeitung von Wissen eingesetzt. In grober Vereinfachung könnte man sagen, dass es der Glaube der christlichen Buchreligion in Verbindung mit dem Glauben an die unbezweifelbare Wahrheit der aristotelischen Philosophie war, der den Regress aus der Begründungspflichtigkeit des Wissens an ein unbezweifeltes Ende brachte.

Man versteht die neuzeitliche Naturwissenschaft in ihrem Wissensanspruch nicht ausreichend, wenn man sich nicht verdeutlicht, welchen Bruch das Aufkommen der wissenschaftlichen Denkweise in Bezug auf die Beendigung des Regresses darstellte, der aus der Begründungspflichtigkeit des Wissens entsteht, die ein Bestandteil der Bedeutung darstellt, die wir mit dem Begriff ‚Wissen‘ verbinden. Man könnte geradezu sagen, dass die Wissenschaft mit einer neuen Auffassung darüber begann, wie sich jener Regress verhindern lasse. Jeder weiß, wie diese neue Auffassung lautete: es kommt auf die Erfahrung an – genauer: auf die Erfahrung durch die Sinne, weshalb man auch von empirischer bzw. Erfahrungswissenschaft spricht, wenn man die neuzeitliche Methode der Wissenschaft bezeichnen will. Durch das Zeugnis unserer Sinneswahrnehmungen können wir nach dieser Auffassung auf etwas ‚Gegebenes‘ kommen, das der Frage ein Ende bereitet, ob die Begründung für ein Wissen denn selbst ein Wissen darstelle, das selbst begründet werde müsste mithilfe von Wissen, woraus die gleiche Frage wieder entstehen würde.

Man macht es sich in vielen Büchern über diesen Umbruch in den Auffassungen über unser Wissen im Entstehungsprozess der Naturwissenschaft zu leicht, wenn man auf neue Erkenntnisse verweist, die durch die Erfindung von Messinstrumenten möglich wurden; und man macht es sich auch zu leicht, wenn man darauf verweist, dass die Ausrichtung des Wissens an den Erfahrungen unserer Sinne sich so leicht durchsetzen konnte, weil sie erheblich erfolgreicher war als die alte Orientierung an einem geglaubten Buchwissen. Man könnte diese Veränderungen plausibler so beschreiben: Weil man nun bereit war, in unserem Wissen über die Welt den Regress der Begründung nicht mehr durch heilige Bücher, sondern in erster Linie durch das Zeugnis der Sinneserfahrung zu beenden, deshalb wurden Messinstrumente erfunden, die uns eine Sinneserfahrung auch dort ermöglichen, wo die Sinne, die uns mit unserer anatomischen und organischen Ausstattung zur Verfügung stehen, nicht mehr ausreichen können. Warum hätte man sich sonst die Mühe machen sollen, solche Instrumente zu erfinden, wenn die Sinneserfahrung doch sowieso nicht als Beendigung des Regresses der Begründung akzeptabel war?

Auch mit dem Argument, dass die Sinneserfahrung als letzte Begründungsgrundlage für unser Wissen deshalb den Siegeszug antreten konnte, weil sie weit erfolgreicher war als die ältere Orientierung an einigen mehr oder weniger heiligen Schriften und an rein vernünftigen Erörterungen ohne jeden Bezug zur Erfahrung, geraten wir in Schwierigkeiten. Dagegen lässt sich etwa einwenden, dass die Erfolge des neuen Denkens zunächst auf Spezialprobleme beschränkt waren, die winzig kleine Wissenschaftlergemeinden beschäftigten. Wenn wir heute an die Erfolge der Wissenschaft denken, dann kommt uns in der Regel der Fortschritt der Medizin in den Sinn und darüber hinaus die technische Anwendbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse von der Mondlandung über die Erfindung von CD- und DVD-Playern bis hin zur Entwicklung von Nuklearwaffen. Diese Anwendungen sind aber eine Erscheinung erst aus der jüngsten Geschichte, und selbst die medizinische Verwertbarkeit der Wissenschaft begann eigentlich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Erfolge zu zeigen. Vor der Entdeckung von Antibiotika, Anästhetika und den Erkenntnissen der Virologie und Bakteriologie hatten Ärzte nicht viel mehr Möglichkeiten zur Heilung von Krankheiten als in den vorangegangenen Jahrhunderten.