Nietzsche leicht gemacht

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Georg Römpp

Nietzsche

leicht gemacht

Eine Einführung in sein Denken

BÖHLAU VERLAG KÖLN WIEN WEIMAR · 2013

Georg Römpp hat Philosophie, Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre

studiert und wurde in Philosophie promoviert.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

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Umschlagabbildung: Friedrich Nietzsche, Porträtaufnahme, 1882. © akg-images.

© 2013 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Wien Weimar

Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Illustrationen: Rolf Bunse, Aachen

Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld

Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion GmbH, Großburgwedel

Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier

Printed in Germany

UTB-Band-Nr. 3718 | ISBN 978-3-8252-3718-9

Inhaltsverzeichnis

Cover

Impressum

Einleitung und Gebrauchsanweisung

Nietzsche als Philosoph

Gebrauchsanweisung

1 Das Problem des Erkennens: ‚Die Geburt der Tragödie‘

1.1 Kritische Philosophie der Wissenschaft

1.2 Apollo und das individuierende Bestimmen

1.3 Das Grauen und der Zauber des Dionysischen

1.4 Die philosophische Bedeutung der Tragödie

1.5 Richard Wagner und die Wiederkehr des Tragischen

1.6 Von Dionysos und Apollo zum ‚Sokratismus‘

1.7 Platon und der Optimismus der Logik

1.8 Der griechische Ursprung der Wissenschaft

1.9 Die Tragödie, die Wissenschaft und der Staat

1.10 Die ästhetische Rechtfertigung der Welt

2 Die Moral des Erkennens

2.1 Ethik als Kantkritik

2.2 Vertrauen in die Moral als Grundlage der Erkenntnis

2.3 Das Prinzip der Sittlichkeit

2.4 Das Sittliche und das Nützliche

2.5 Die Bedeutung einer Kritik der Moral

2.6 Der Ursprung von Gut und Böse

2.7 Herren- und Sklavenmoral

2.8 Das ‚Herdentier‘ und das Individuum

2.9 Die Kritik an einer Ethik des Mitleidens

2.10 Das Christentum und die ‚Gleichen‘

2.11 Die Seele und das ‚schlechte Gewissen‘

2.12 Gott und seine Schatten

3 Der Glaube des Erkennens

3.1 Die Wissenschaft, das Erklären und seine ‚Manieren‘

3.2 Die Geschichtlichkeit des Erkennens

3.3 Evolutionäre Erkenntnistheorie bei ­Nietzsche?

3.4 Das Erkennen und der Wille zur Macht

3.5 Der Begriff der ‚Wissenschaft‘

3.6 Wissenschaft und Wahrheit

3.7 Die Sprache und die Wahrheit

3.8 Philosophie, Logik und der Glaube an die Erkenntnis

3.9 Philosophie jenseits der Kritik?

3.10 Eine ‚positive‘ Philosophie bei ­Nietzsche?

3.11 ‚Idealität‘ und neues ‚Ideal‘

3.12 ‚Der Wanderer und sein Schatten‘

4 Die Vermittlung des Erkennens: ‚Also sprach Zarathustra‘

4.1 Einleitung

4.2 Zarathustra: Erster Teil

4.2.1 Zarathustras Vorrede

4.2.2 Die Reden Zarathustras

4.3 Zarathustra: Zweiter Teil

4.3.1 Die Gerechtigkeit und die Rache

4.3.2 Die Denkbarkeit der Welt und der Wille zur Macht

4.3.3 Gründe, das Schweigen und die Stille

4.4 Zarathustra: Dritter Teil

4.4.1 Über sich selbst hinaus

4.4.2 Die ewige Wiederkehr des Gleichen

4.5 Zarathustra: Vierter Teil

4.5.1 Lehren und Missverstehen

4.5.2 Seltsame ‚Nachfolger‘

4.5.3 Horchen und Gehorchen

4.5.4 Das Zeichen

5 Zum Schluss: Der ‚freie Geist‘ und seine ‚Zeit‘

Zitierweise

Literaturverzeichnis

Begriffsregister

Rückumschlag

Einleitung und Gebrauchsanweisung
Nietzsche als Philosoph

Vor den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts war es durchaus nicht selbstverständlich, Nietzsche als einen ernstzunehmenden Philosophen aufzufassen. In der Regel galt er in der Zunft der ernsthaften Philosophen als philosophierender Schriftsteller nicht unbedingt von höchstem Rang und von eher zweifelhaftem Ruf. Zu dieser schlechten Reputation hatten sicherlich Versuche beigetragen, Nietzsche dem nationalsozialis­tischen Staat als Hofphilosophen anzudienen, verbunden mit einer auch später noch anhaltenden Rezeption, die sich in erster Linie auf eine sehr und allzu einfache Lektüre seiner Schriften beschränkte und dabei vor allem die plakativen und lauten Stellen in den Vordergrund stellte, um zu einer merkwürdigen Art von Popularphilosophie im schlechtesten Sinne zu gelangen.

 

Jedem Anfänger in der Lektüre von Nietzsches Werken wird sehr schnell deutlich, warum eine solche Rezeption gerade bei diesem Autor möglich und vielleicht sogar verständlich und naheliegend war: Nietzsche ist dem ersten Anschein nach sehr einfach zu verstehen. Natürlich ebnete diese Gestalt seiner Schriften den Weg in ein entsprechend einfaches Verständnis, während etwa Descartes, Kant, Hegel und Wittgenstein sich schon beim Lesen dagegen sperren, allzu einfach aufgefasst zu werden. Bei diesen Autoren versteht man meistens sehr wenig bis überhaupt nichts, wenn man ohne entsprechende Vorbildung einfach zu lesen beginnt. Bei Nietzsche dagegen glaubt man immer etwas zu verstehen und in vielen Schriften stößt man auch beim Fortschreiten kaum auf Schwierigkeiten.

In der Regel verstehen wir dort am leichtesten, wo wir einen mühelosen Anschluss an das herstellen können, was wir sowieso schon wissen oder zumindest zu wissen glauben. Man könnte deshalb vermuten, Nietzsches populäre ebenso wie die nationalsozialistische Rezeption habe sehr viel damit zu tun gehabt, dass sich seine Gedanken leicht mit den entsprechenden Vorurteilen verbinden ließen. Allerdings sind Vorurteile nichts per se Unanständiges – eigentlich sind sie sogar die Voraussetzungen dafür, überhaupt etwas zu verstehen und Erklärungen zu akzeptieren, die ‚Vor-Urteile‘ brauchen, um Sinn zu erzeugen und auf Akzeptanz stoßen zu können. Ein Leser, der überhaupt keine Urteile aus seinem Denken vor der Lektüre mitbringt, wird weder Descartes, Kant, Hegel und Wittgenstein noch Nietzsche verstehen können.

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Demnach hängt das, was wir verstehen, also vor allem davon ab, welche Vor-Urteile wir mitbringen? Mit dieser Frage sind wir schon tief in Nietzsches Philosophie – tiefer als die populäre Rezeption jemals vorgedrungen war, von der nationalsozialistischen ganz zu schweigen. An dieser Stelle drängt sich jedoch eine andere Frage auf: wenn Nietzsche seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts als ein genuin philosophischer Autor rezipiert wird, lässt sich daraus nicht schließen, dass es seit damals gelingt, andere Vor-Urteile bei der Lektüre seiner Werke zu aktivieren? Das würde aber bedeuten, dass sich wichtige Strömungen in der Philosophie seit Nietzsches Zeit genau in eine solche Richtung entwickelt haben müssen, aus der sich Anschlussmöglichkeiten für eine Rezeption von Nietzsche als Philosoph anbieten. Sollten wichtige Teile der Gegenwartsphilosophie also gerade in Nietzsche sich selbst erkennen können?

Das werden wir am besten dadurch herausfinden, dass wir uns auf eine solche Lektüre Nietzsches aus philosophischer Perspektive einlassen. Was kann es also ­heißen, Nietzsche leicht machen zu wollen, wenn es nicht darum gehen kann, ihn als Popularphilosophen oder als quasi-philosophischen Paukenschläger leicht zu machen, sondern als Philosophen? Sehr vereinfacht gesagt, besteht die Aufgabe dieses Buches vor allem darin, andere und zwar genuin philosophische Vor-Urteile für die Lektüre Nietzsches vorzuschlagen. Aus dieser Perspektive ist der ‚wirkliche‘ Nietzsche gerade nicht der Schriftsteller mit den lauten, plakativen und aggressiven Formulierungen, der gegen das Christentum, den Sozialismus, die ‚Entartung‘ des Menschen und das Mitleiden wütet und von Menschenzüchtung und natürlicher Selektion in Tönen jubelt, die nur noch durch seine Bewunderung für diejenigen übertroffen werden, die er als ‚die Starken‘ abwechselnd in Gestalt Napoleons und einer ‚blonden Bestie‘ verkörpert sieht.

In gewisser Weise besteht der erste Schritt für ein ‚Leichtmachen‘ Nietzsches als eines philosophischen Autors also darin, ihn ‚schwer‘ zu machen in dem Sinne, dass wir seine scheinbar allzu leicht verständlichen Texte auf Anschlussmöglichkeiten für die Philosophie von Platon über Kant bis hin zu Wittgenstein unter­suchen. Die Rezeption der letzten Jahrzehnte hat bereits gezeigt, dass das möglich ist. Es ist sogar so gut möglich, dass sich daraus erstaunliche Aufschlüsse über die Problemlage einer Philosophie ergeben, welche die Reflexion auf das Wissen und das Erkennen so weit treiben will, dass wichtige denkgeschichtliche Grundlagen dabei auf eine radikale Weise infrage gestellt werden. Die weitere Entwicklung des philosophischen Denkens hat einen Horizont geschaffen, in dem sogar eine neue Perspektive auf Nietzsche als einen der zentralen Denker am Beginn des Entstehens dieses Horizontes möglich wurde. Nietzsche hatte dies übrigens selbst

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vorausgesagt: „Ich selber bin noch nicht an der Zeit, Einige werden posthum geboren.“ (EH VI-3, 296)[1]

Nietzsche ‚schwer‘ und dadurch leicht zu machen heißt aber natürlich nicht, ihn als einen ‚Philosophen der Schwere‘ aufzufassen. Gerade das Gegenteil muss der Fall sein bei jemandem, der sein Denken an einer Stelle so zusammenfasste: „Und wenn Das mein A und O ist, dass alles Schwere leicht, aller Leib Tänzer, aller Geist Vogel werde: und wahrlich, das ist mein A und O!“ (Z VI-1, 286) An anderer Stelle drückte er sich so aus: „Wir müssen die Dinge lustiger nehmen, als sie es verdienen; zumal wir sie lange Zeit ernster genommen haben, als sie es verdienen.“ (M V-1, 333) Wir werden vor allem in Zusammenhang mit dem ‚Zarathustra‘-Buch noch näher auf die Bedeutung solcher Wendungen gegen das ‚Schwere‘ stoßen.

Gebrauchsanweisung

Wie lässt sich Nietzsche also auf die richtige Weise schwer und leicht machen? Es wird sinnvoll sein, den Weg dieses Buches kurz zu skizzieren, um damit eine gewisse Gebrauchsanleitung zu geben. Ziel dieses Leichtmachens muss es offenbar sein, dem Leser solche Anschlussmöglichkeiten – wenn man will: ‚Vor-Urteile‘ – an die Hand zu geben, mithilfe derer er Nietzsches Texte auf einem philosophischen Niveau lesen kann, ohne sich durch die vielen allzu einfachen Stellen beirren zu lassen, die eine entsprechend vereinfachte Rezeption nahelegen könnten.

Das Buch beginnt (1.) mit einer Exposition derjenigen philosophischen Themen, die in Nietzsches Denken wichtig wurden. Nietzsche ist einer der wenigen Autoren, die in einer einzigen frühen Schrift fast alles vorgestellt haben, womit sie sich weiter beschäftigen wollten. Bei ihm ist dies die Schrift ‚Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‘, wobei man sich durch den merkwürdigen Titel nicht verwirren lassen sollte. Wir werden deshalb eine Interpretation dieser Schrift verwenden, um Nietzsches Themen zur Exposition zu bringen. Mit den meisten werden wir uns danach ohne Beschränkung auf ein einziges Werk weiter beschäftigen, mit einigen nicht, von denen man aber wenigstens gehört haben sollte.

Bekanntlich hat sich die Philosophie seit ihren griechischen Anfängen mit dem beschäftigt, was wir tun sollen und was wir wissen können. Wir folgen nach der Exposition genau diesem Schema und versuchen zunächst einen philosophischen Zugang

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zu dem zu gewinnen, was Nietzsche für die Ethik bedeutet (2.). In Wahrheit sind wir allerdings damit schon beim Erkennen, was bald deutlich werden wird – deshalb ist dieses Kapitel auch überschrieben mit ‚Die Moral des Erkennens‘. Explizit wird ­Nietzsches Philosophie des Wissens dann im nächsten Kapitel (3.) zum Thema, wo es um den ‚Glauben des Erkennens‘ gehen soll. Diese Thematik führt am Schluss auf die Frage nach dem, was man – wenn überhaupt – als so etwas wie Nietzsches ‚positive‘ Philosophie bezeichnen könnte, also jenseits der umfassenden Kritik an den Grundlagen des abendländischen Denkens. Hier zeigt sich, wie intensiv Nietzsche über sein eigenes Philosophieren und dessen Bedingungen reflektiert hat.

Dieses Kapitel wird abgeschlossen mit einer Interpretation eines derjenigen Texte, die schon auf dem Sprung in eine mehr oder weniger literarische Darstellungsform stehen. Deshalb kommen wir eigentlich durch den Gang der Erörterung selbst auf dasjenige Werk, das Nietzsche ganz bewusst und weitgehend als Literatur und nicht als philosophische Erörterung gestaltet hat – d. h. zu ‚Also sprach Zarathustra‘. Wir werden dieses Werk abschließend an exemplarischen und wichtigen Stellen interpretieren (4.). Dabei werden die zentralen Themen aus Nietzsches Denken in einer neuen Einkleidung wieder auftauchen, aber es wird sich auch zeigen, dass dieses Buch selbst ein zentrales Thema hat, das sich wiederum aus Nietzsches Philosophie notwendig als Problem ergibt: die Frage der Vermittlung seines Denkens.

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1 Die Zitierweise wird auf Seite 303 erklärt.

1 Das Problem des Erkennens: ‚Die Geburt der Tragödie‘
1.1 Kritische Philosophie der Wissenschaft

Die Grundpositionen seiner Philosophie hat Nietzsche schon bemerkenswert früh festgelegt. Hier ist eine Schrift von geringem Umfang wichtig, die den merkwürdigen Titel trägt „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“. Natürlich hat Nietzsche später sein Denken umgebaut, verfeinert, expliziert, ergänzt – aber doch nie in den zentralen Bereichen in eine gänzlich andere Richtung gelenkt. Man sollte sich darüber nicht durch jene seltsame Überschrift täuschen lassen. Es geht in dieser Schrift in der Tat auch um die Tragödie und um den ‚Geist der Musik‘, aber damit sind nicht im engeren Sinne literaturhistorische oder musiktheoretische Themen gemeint. Im Grunde verbirgt sich in dieser Thematik ein – oder vielleicht das – zentrale philosophische Problem, das Kant so formuliert hatte: ‚Was können wir wissen?‘. In der Gegenwart stimmen die meisten Menschen der Auffassung zu, dass das Wissen Sache der Wissenschaft ist. Nietzsche hatte diese Gleichsetzung noch nicht ganz vor Augen. Zwar war der Begriff ‚Wissenschaft‘ auch im 19. Jahrhundert und zuvor in Gebrauch, aber er wurde noch nicht eingeschränkt auf die Naturwissenschaft verwendet – bzw. auf die Wissenschaft, die nach dem Modell der Erkenntnisgewinnung arbeitet, das für die modernen Naturwissenschaften und hier wiederum für die Physik leitend wurde.

‚Wissenschaft‘ war in erster Linie der Inbegriff desjenigen Wissens, das Allgemeinheit und Notwendigkeit beanspruchen kann, d. h. welches stets und für alle Menschen in allen Kulturen gilt, und dessen Inhalt wir mit dem Bewusstsein verbinden, es müsse sich notwendig so verhalten. Damit werden Sätze wie ‚Die Ehe ist unauflöslich‘ oder ‚Tübingen liegt am Neckar‘ offensichtlich aus dem Bereich dessen ausgeschlossen, was ‚Wissenschaft‘ heißen soll, denn der erste Satz gilt in vielen Kulturen und Religionen nicht, und der zweite gibt keinen notwendigen Zusammenhang wieder. Aber auch viele Sätze aus den Naturwissenschaften sind nach diesem Verständnis eigentlich nicht ‚wissenschaftlich‘ – in der Zoologie ist es etwa nicht notwendig, dass bei der Einteilung der Säugetiere irgendwo auch die Unterscheidung in Feliden und Kaniden vorkommt, denn man könnte auch eine andere Einteilung finden als in Katzen und Hunde. Die

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Sätze der Newtonschen Mechanik sollen dagegen (im Makrobereich) ebenso notwendig und allgemein gelten wie E=mc2.

Was heute als ‚Wissenschaft‘ bezeichnet wird, deckt sich also nur zum Teil mit dem, was für Nietzsche diesen Begriff ausmachte. Er umfasste weit mehr als den Bereich des Wissens, den wir heute demjenigen Denk- und Handlungszusammenhang zuordnen, welchen wir als ‚Wissenschaft‘ bezeichnen und ihn damit von einem anderen Denken unterscheiden, das etwa in der Politik mit dem Ziel des Entscheidens über Regeln des Zusammenlebens, in den Religionen mit dem Ziel einer Vorgabe für das richtige Handeln für Menschen, die sich auf eine bestimmte Weise verpflichtet fühlen, oder auch in der Philosophie mit dem umfassenden Anspruch einer Reflexion auf die Grundlagen des Wissens durchgeführt wird. Diese Unterscheidung war noch nicht in der uns bekannten Weise selbstverständlich geworden, anders gesagt: der Bereich des allgemeinen und notwendigen Wissens war noch nicht auf den Bereich der Naturwissenschaft nach dem Muster der Physik eingeschränkt, wie dies heute im ‚­mainstream‘ der Überzeugungen zumindest der Menschen in der westlichen Welt der Fall ist. Lange Zeit hatten aus Begriffen und reinem Denken (und sehr vielen Annahmen, die man einfach als selbstverständlich akzeptierte) entwickelte Sätze über Gott, die Welt und den Menschen bzw. seine Seele ebenso als Bestandteile eines notwendigen und allgemeinen Wissens gegolten.

 

Erst Kant hatte die Frage nach der Möglichkeit und der Legitimation für ein solches Wissen neu und radikal gestellt. Seine erste Einsicht war, dass ein Wissen, dem Notwendigkeit und Allgemeinheit zugeschrieben werden kann, keinesfalls aus der Erfahrung genommen werden kann, d. h. nicht a posteriori (also ‚nach‘ und in Abhängig­keit von der Erfahrung) gelten kann, sondern es muss sich um ein Wissen a priori handeln, also ‚vor‘ und ohne Abhängigkeit von der Erfahrung. Da wir von Wissen aber nur dann sprechen, wenn wir durch die Vertrautheit mit ihm etwas über die Welt erkennen (und nicht nur über die Weise, wie wir unsere Begriffe verwenden), deshalb darf es sich auch nicht nur um eine Analyse unserer Sprache handeln – offenbar sehen wir Sätze wie ‚Schimmel sind weiße Pferde‘ oder ‚Junggesellen sind unverheiratete Männer‘ nicht als Bestandteile unseres Wissens, sondern als Erklärungen der Bedeutung von Wörtern an. Die Frage nach dem Bereich dessen, was wir als ‚Wissenschaft‘ bezeichnen können, nahm deshalb in Kants Denken die Form einer Frage nach der Begründung apriorisch-synthetischer Urteile an, also solcher Sätze, die zum einen vor und unabhängig von der Erfahrung gelten und deshalb beanspruchen können, notwendig und allgemein zu gelten, und die uns zum anderen nicht nur etwas über unsere Sprache sagen, also nicht ‚analytisch‘ sind, sondern eine Synthese von zwei verschiedenen Vorstellungen enthalten, deren Verbindung uns zuvor noch nicht bekannt war.

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Kant hatte auf dieser Grundlage eine Antwort gefunden, die eine solche Wissenschaft nur noch in einem bestimmten Bereich gelten ließ, nämlich in dem, was er als erste ‚Möglichkeitsbedingungen‘ des Erfahrens von Objekten identifizierte. Diese ‚subjektiven‘ Voraussetzungen für unsere Erfahrung stellte er unter dem Titel ‚Kategorien‘ zusammen und arbeitete sie schließlich als ‚Grundsätze‘ desjenigen Gebrauchs unseres Verstandes aus, in welchem wir in ihm selbst apriorisch-synthetische Urteile gewinnen können. Das Entscheidende an diesem Gedanken ist, dass darüber hinaus gerade kein Wissen im genannten Sinne von ‚Wissenschaft‘ mehr möglich ist. Der Bereich dessen, was wir als ‚Wissenschaft‘ in diesem strengen Sinne bezeichnen können, ist auf diese Weise offenbar sehr klein geworden. Vor allem umfasst er nicht den Bereich des Wissens, das wir heute als Wissenschaft bezeichnen, wenn wir entweder alles, was in ‚Universitäten‘ genannten Institutionen als ‚Wissen‘ bezeichnet wird, oder zumindest den Teil davon, der nach den Grundsätzen des Modells der Naturwissenschaften erzeugt wurde, dem Bereich der ‚Wissenschaft‘ zurechnen. Das geht nach Kants Denken natürlich schon darauf zurück, dass es sich bei dem in diesem Sinne ‚wissenschaftlichen‘ Wissen nicht um ein apriorisches Wissen handelt und deshalb nicht um ein Wissen, das mit dem Anspruch auf Allgemeinheit und Notwendigkeit auftreten kann.

Das scheint uns heute nichts Besonderes zu sein. Inzwischen ist es für die meisten Menschen selbstverständlich geworden, dass die Wissenschaft nicht nur ausschließlich aus der Erfahrung stammendes und methodisch in ihr begründetes Wissen ansammelt, sondern dass dieses Wissen auch keine Ewigkeitsbedeutung besitzt und schon gar keine Notwendigkeit. Diese Einsicht verbreitete sich vor allem durch Poppers Gedanken, dass das Wissen eigentlich nie verifizierbar ist, sondern nur falsifizierbar, d. h. wir gewinnen Erkenntnisse, indem wir versuchen, Geltung beanspruchende Sätze zu widerlegen. Gelingt uns dies nicht, so können wir sie akzeptieren – aber nur in dem Sinn, dass wir sie als ‚noch nicht falsifiziert‘ auffassen, was ein Verständnis von Wissenschaft als System notwendig und universell geltender Aussagen natürlich ausschließt. Im Anschluss daran wurde ein Selbstverständnis der modernen Wissenschaft entwickelt, das sie weitgehend als die Ausarbeitung solcher Zusammenhänge von Aussagen auffasst, die gemäß den Kriterien für Wissenschaftlichkeit, wie sie innerhalb der ‚scientific community‘ gelten, als ‚lebensfähig‘ aufgefasst werden, d. h. es lohnt sich, an ihnen festzuhalten, weil sie nicht widerlegt wurden, sich bewährt haben und man einfach keine besseren Theorien zur Verfügung hat. Man sollte allerdings beachten, dass es immer noch reflexionsfreie Zonen in der Wissenschaft gibt, in denen etwa manche Hirnforscher ihre Ergebnisse als endgültige Aufklärung über das Wesen des Menschen ansehen oder Physiker hoffen, auf der Grundlage ihrer Forschungen ‚­Gottes Gedanken vor der Erschaffung der Welt‘ lesen zu können.

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Zunächst aber sollten wir festhalten, dass sich bei Nietzsche der Begriff vom Wissen als Wissenschaft noch aufs Engste mit dem Wissen als Philosophie verband. Das heißt nicht, dass er Kant widerlegen oder hinter dessen Denken zurückgehen wollte. Die Richtung seiner Fragen war vielmehr eine andere. Das gerade ist aus der Schrift über ‚Die Geburt der Tragödie‘ gut zu erkennen. Wir können schon an dieser Stelle sagen: seine Frage war anders als die von Kant nicht nach der Geltung des Anspruchs von Sätzen auf Wissenschaftlichkeit, sondern nach der Genesis dieses Anspruchs. Man könnte auch sagen, er stellte sich die Frage nach dem Ursprung einer Philosophie, aus derem Denken eine Auffassung von Wissen entstehen konnte bzw. musste, das als Wissenschaft in dem eben skizzierten Sinne einer Erkenntnis mit dem Anspruch auf dauernde und absolute Geltung auftreten muss. Man sollte hier beachten, dass es sich dabei nicht um ein Wissen handeln kann, das nur zum Problemlösen dienen soll. In diesem Fall nämlich könnte sich unser Wissen ganz fundamental ändern, ohne dass sich die ‚Gegenstände‘, auf die sich das Wissen bezieht, geändert haben. Der Bezugspunkt eines solchen Wissens wären nicht die Gegenstände in der Welt ‚an sich‘, sondern unsere menschlichen Probleme mit ihnen, und wenn diese Probleme sich ändern, so würde sich auch das Wissen ändern, das wir nur zu deren Lösung entwickelt haben, und auch wenn sich die menschlichen Probleme kurzfristig nicht sehr verändern mögen – auf lange Sicht tun sie es doch.

Wenn Nietzsche von ‚Wissenschaft‘ schreibt, so sollten wir also beachten, dass es dabei (a) nicht einfach um das geht, was wir heute so bezeichnen, und auch nicht um das, was man auf der Grundlage des Selbstverständnisses vieler Wissenschaftler als das Methodenideal der Wissenschaft bezeichnen könnte, das nach dieser Auffassung meistens in der Physik am besten realisiert angesehen wird, und dass dabei nichtsdestoweniger (b) ein anspruchsvoller Begriff von Wissenschaft verwendet wird. Dass dieser Anspruch eingelöst werden kann, dies war für Nietzsche jedoch keineswegs selbstverständlich, ebenso wenig wie es ihm sicher erschien, dass das Wissen nur in der Wissenschaft zu finden sein soll, wie sie dem Ideal der Wissenschaftler entsprach. Jedenfalls sah er in diesem Anspruch ein Problem, und wir können vorwegnehmend schon festhalten, dass dieses Problem zu einer der wenigen – wenn auch nicht der einzigen – Leitfragen seiner Philosophie werden sollte. In dem viel später geschriebenen „Versuch einer Selbstkritik“ zu jenem Buch über die Tragödie und deren Geburt aus dem Geiste der Musik reflektierte Nietzsche so über dieses zentrale Thema: „Was ich damals zu fassen bekam, etwas Furchtbares und Gefährliches, … heute würde ich sagen, dass es das Problem der Wissenschaft selbst war – Wissenschaft zum ersten Male als problematisch, als fragwürdig gefasst.“ (GT III-1, 7) Seine Philosophie sollte nach dieser Leitfrage also nicht in erster Linie die Aufgabe haben, ein Wissen

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zu entwickeln, das sich auf die Welt und den Menschen richtet, sondern es sollte von Anfang an um eine Reflexion auf das gehen, was als Wissen bezeichnet wird – also auf das ‚Problem der Wissenschaft‘.

Mit dieser Einschränkung – Reflexion auf das Wissen statt Wissen – begann ­Nietzsche auf dem Stand zu denken, den die Philosophie schon längere Zeit vor ihm als für sich angemessen gefunden hatte. Dieser Weg begann grundsätzlich bereits bei Descartes, dem es in seiner berühmten Begründung alles Wissens im seiner selbst gewissen Ich und d. h. in der Selbstreflexion auf den Akt des Denkens in erster Linie auf die Frage ankam, was wir wirklich mit Sicherheit und Gewissheit wissen können und wie wir diesen Status auf die Art und Weise der Gewinnung unseres Wissens übertragen können. Endgültig hatte jedoch Kant die Aufgabe der Philosophie auf die einer solchen Reflexion – was bei ihm ‚Kritik‘ hieß – begrenzt, und eine der wichtigsten Aufgaben seiner theoretischen Philosophie bestand gerade darin, die Ansprüche einer ‚rationalen‘ Theologie, Psychologie und Kosmologie auf für alle Menschen notwendig geltende Erkenntnisse abzuweisen. Damit sollte natürlich nicht behauptet werden, dass wir nichts über Gott, den Menschen und den Kosmos wissen können, aber solche Erkenntnisse können gemäß Kants Einsicht nicht auf ‚rationalem‘ Wege, d. h. durch das bloße Denken gewonnen werden, sondern nur durch eine auf Erfahrung gegründete Wissenschaft (Psychologie und Kosmologie) bzw. durch eine Auslegung von Texten, die beanspruchen, uns Auskunft über Gott geben zu können (Theologie). Das schließt aber die Begrenztheit des Anspruchs solcher Erkenntnisse ein – es handelt sich nicht um ewige und letztbegründete Einsichten, die von niemandem bezweifelt werden können, sondern um solche, die kritisiert, revidiert und im Laufe der Zeit vielleicht sogar vollständig verändert werden können. Wenn Kant seine Statusbestimmung des philosophischen Denkens als ‚kritisch‘ bezeichnen konnte, so können wir den Begriff ‚kritisch‘ also in eben diesem Sinne auch für Nietzsches Denken gelten lassen – mit Veränderungen, die noch deutlich werden.