Der sanfte Wille

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Der sanfte Wille
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Georg Kühlewind

Der sanfte Wille

Vom Gedachten zum Denken, vom Gefühlten zum Fühlen, vom Gewollten zum Willen


Inhalt

Einstimmung: Die Geschichte dieses Buches

Praktische Hinweise für den Leser

Erster Auftakt

I.Vom Gedanken zum Denken

Gedanken über das Denken

Erster Übungskomplex: Reinigung des Denk- und Vorstellungslebens

Gedanken über Sprache – Worte, Sätze, Begriffe, Gegenwart und Verstehen

Wege zur Erfahrung der Gegenwärtigkeit

Zweiter Auftakt

II.Vom Denken zum Fühlen

Gedanken und Gefühle, Denken und Fühlen

Übungen zum erkennenden Fühlen

Dritter Auftakt

III. Vom Fühlen zum Willen

Gedanken über den Willen

Gedanken über den Willen in den Aufmerksamkeitsübungen

Willensübungen

Übungen zum sanften Willen

Vierter Auftakt

IV.Das geistige Wesen des Menschen

Der kosmische Hintergrund des sanften Willens

Meditation

Satzmeditation

Bildmeditation

Wahrnehmungsmeditation

Frage- oder Forschungsmeditation

Anmerkungen

ANHANG

1.Meditationen

2.Die Umkehr des Willens und die Begegnung mit der Logoskraft

3.Kunst und Erkennen

Einstimmung:
Die Geschichte dieses Buches

Wenn man Jahre, Jahrzehnte hindurch Aufmerksamkeitsübungen macht, hat man eine ähnliche Erfahrung wie beim wiederholten Lesen eines anspruchsvollen Buches: Es leuchten immer wieder neue Entdeckungen, neue Aspekte, Facetten des Tuns beziehungsweise des Textes auf. Wenn das geschieht, fühlt man sich immer wieder schuldig, da man die späteren Entdeckungen in frühere Beschreibungen noch nicht einbeziehen konnte. Im Hinblick auf den Übungsweg (Erkenntnisweg, inneren Pfad) möchte ich in diesem Buch einiges nachholen. Dabei muss ich manches Wesentliche wiederholen, das in früheren Werken von mir schon beschrieben wurde – auch um dem Leser das Nachschlagen zu ersparen.

Je länger man übt, umso klarer erfährt man die Bewegungen des Bewusstseins während des Übens; sie werden durchsichtig für die tätige Aufmerksamkeit selbst. Erst werden die Bewegungen des Denkens sichtbar, dann die des Fühlens, zuletzt die Willenstätigkeiten, wobei alle drei immer vermischt und zusammen erscheinen; der Wille beispielsweise wirkt immer in den Übungen mit, nur hat eines von diesen dreien den Vorrang. Hell werden Fühlen und Wollen nur, wenn sie wenigstens beginnen erkennend zu werden, das heißt wenn sich das Denken in das Fühlen hinein oder das schon erkennende Fühlen in den Willen hinein auflöst.

Die Beschäftigung mit den Willensarten beim Menschen begann bei mir schon vor langem (davon zeugen der Aufsatz «Die Umkehr des Willens» aus dem Jahre 1986, Goetheanum, 9.2., siehe Anhang 2, wie auch die Schrift «Die Schulung der Aufmerksamkeit» in dem Band Die Freiheit erüben, 1988). 1996 hat mein Freund Dr. Hartwig Volbehr die Frage gestellt, wie eigentlich die Ki-Übungen (beschrieben im Kapitel Willensübungen, Übung 36, S. 78 f.), die er schon seit längerem kannte, menschenkundlich verstanden werden können. Damit begann eine experimentierende und meditative Forschungsarbeit, deren Ergebnis zum großen Teil dieses Buch ist. Für den Impuls möchte ich Dr. Volbehr hiermit meinen sehr herzlichen Dank aussprechen, der auch für die seitdem entstandene Zusammenarbeit gilt.

Um zu der hellen, erkennenden Erfahrung des Willens zu gelangen, müssen die vorangehenden Stufen sehr intensiv durchlaufen werden. Wenn der Übende nicht das lebendige, reine, das heißt formfreie Denken, das sich in das schon vorbereitete Fühlen hineinzieht, erfährt, wird das Fühlen zwar als lichtvoll und beglückend, aber nicht erkennend erlebt. Ähnlich ist es auch im Verhältnis von Fühlen und Wollen.

Es war ein langer Weg, den sanften Willen in seiner Ursprünglichkeit zu erforschen, und das Ergebnis kann schon auf den Anfang des Erkenntnisweges hilfreich zurückwirken. Jegliche Übung ist eigentlich nur durch den sanften Willen ausführbar, und es ist gut, das zu wissen, auch wenn man diesen Willen am Anfang noch nicht voll einsetzen kann: Er glänzt im Laufe des Übungsweges auf.

Was man «Körpererfahrung» nennt, entpuppte sich als die Erfahrung, das Empfinden einer Empfindungshülle, die den Körper «umgibt» – man kann das Nicht-Räumliche kaum anders als durch räumliche Bilder darstellen. Zugleich erwies sich der Sinn von «Körperübungen» – zum Beispiel auf das Atmen zu achten – als das Herausfordern, Ins-Bewusstsein-Bringen des Subjekts, das die Übungen macht und sie beobachtet, erfährt und das in keinem Fall der Körper oder die Empfindung ist: Letztere sind Objekte, die das Subjekt erfährt. Den Dienst, auf das Subjekt hinzuweisen, könnte allerdings jedes Objekt tun; im Alltag jedoch werden die Objekte größtenteils ihrer Nützlichkeit nach gesehen, verstanden und gewertet, sodass das Subjekt «vergessen» wird, da es «unwichtig» ist. In den Übungen werden die Objekte ohne Bezug auf ihre Nützlichkeitsverwendung gewählt, sie erhalten die ursprüngliche Funktion aller Objekte, nämlich: auf das wahre Subjekt zu verweisen.

Der sanfte Wille ist frei von dem Mich-Fühlen, im Gegensatz zu den Tätigkeiten des harten Willens, der durch die Hülle der Egoität, meistens durch den Tastsinn, wirkt1 und gerade dadurch in jedem Sinne an Effektivität verliert, abgedämpft ist.

Der erwünschte oder ideale Stil der alltäglichen Aktivitäten wird in den verhältnismäßig kurzen Zeitspannen des Übens vorbereitet. Gelangt man in den Übungen zu Erfahrungen, so werden sich die in den kurzen Übungszeiten erreichten Ergebnisse nach und nach auch auf den Alltag ausdehnen. Dieser wird heute in unserer Zivilisation durch das Prinzip der Nützlichkeit und damit durch den harten Willen der Egoität regiert. Dadurch ist die Welt schon an den Rand einer Katastrophe manövriert worden, was auch immer Technokraten darüber denken oder sagen mögen. Ich sehe nur dann eine Hoffnung, den Untergang zu vermeiden, wenn sich die Mentalität ändert, das heißt wenn wir den harten Willen in den sanften verwandeln. Das wäre die Metanoesis, das «Ändert den Sinn» Johannes des Täufers, die neue Sinngebung des menschlichen Daseins.

Praktische Hinweise für den Leser

Dieses Buch ist, wie schon manches vorangegangene, nicht leicht zu lesen; sein voller «Inhalt» entwickelt sich nur im Tun, durch das Tun des Lesers, durch dessen eigene Besinnung und Meditation. Im Text sind «Besinnungen» und «Besinnungen / Meditationen» zu finden. Erstere sind Gedanken, die man durch Denken vertieft, fortsetzt, weiterdenkt, zweitere sind Meditationstexte, die man auch besinnen kann und sollte, bevor man sie meditiert. Diese Prozesse sind im Kapitel «Meditation» (S. 88) und in mehreren meiner vorangegangenen Bücher beschrieben. Ihrer aller Ziel ist es, dem Lesenden dazu zu verhelfen, über das Alltagsdenken – Vergangenheitsdenken, dialektische Denken, diskursive Denken – hinaus für kurze Zeiten auf eine höhere Ebene des Denkens und der Erkenntnis zu gelangen. Alles Wissen davon, alles vermeintliche Verstehen geistiger Forschungsergebnisse durch das Alltagsdenken ist in meinen Augen eher Hindernis, Ballastanhäufung. Leider.

 

Budapest, September 1999 Georg Kühlewind

Erster Auftakt

Wir leben in einer Welt der Bedeutungen, während wir doch überzeugt sind, in einer Welt der Dinge zu leben. Aber jedes Ding hat Bedeutung – man sage mir ein Ding, das ohne Bedeutung wäre. Sobald wir es nennen können, ist es schon nicht mehr ohne Bedeutung. Zunächst erfassen wir die Bedeutung durch das Denken, wir versuchen es. Auch schaffen wir manchmal neue Bedeutungen.

Wir wissen aber nicht, wie wir denken.

Nur das schon Gedachte wird uns bewusst.

Für das Kleinkind, für archaische Menschen, für einzelne engelartige Menschen,2 wie den heiligen Thomas von Aquin, besteht die Wirklichkeit aus und in den Bedeutungen. Diese gehen in der menschlichen und nach der Tradition in der göttlichen Praxis den einzelnen Dingen voraus: Erst ist die Idee des Dinges da, dann das Ding, erst die Bedeutung, dann das Zeichen. Das gilt auch für die Gedanken, sofern sie im Zeichen erscheinen.

Die Bedeutungen sind stofflos. Die Zeichen bestehen aus konfigurierter Stofflichkeit, wie Luftwellen, Tinte, körperliche Gebärden. Daher geht Verstehen auch stofflos vor sich, stofflose Bedeutung kann nicht durch stoffliche Vorgänge «verstanden» werden. Auch der Verstehende in uns ist stofflos.

Stoffliche Zeichen werden zu stofflosen Bedeutungen gelesen. Denken, Gedanken, Denkender sind unstofflich.

Das erste Ziel wäre, das Denken zu erfahren. Denn das denkende Wesen selbst, durch das die Bedeutungen geschaffen, verstanden werden, bleibt zunächst verborgen.

Es ist an der Zeit, das Licht, das alles sichtbar macht, das Bedeutungslicht, das Licht des Wortes in Erfahrung zu bringen.

I.
Vom Gedanken zum Denken
Gedanken über das Denken

Wir wissen ebenso wenig, wie wir denken, wie wir beim Sprechen eine Bewusstheit über die Tätigkeit der Sprachorgane haben. Was uns bewusst wird, ist der fertig-gedachte Gedanke, das Wie seines Zustandekommens ist uns verborgen. Das kann zweierlei Gründe haben. Wir sind im Prozess des Denkens nicht bewusst – das wäre schon Grund genug, über sein Wie im Dunkeln zu bleiben. Der andere Grund könnte sein, dass wir im Denken so aufgehen, so identisch mit dem Prozess sind, dass keine beobachtende Instanz übrig bleibt.

Besinnung 1: Wir wachen im Bewusstsein auf, wenn das Denken schon vorbei und in Stillstand ist: im Gedachten.

Die Logik als Wissenschaft versucht die Gesetze, das Wie des Denkens zu formulieren – im Nachhinein. Wir denken schon logisch, ohne Logik studiert zu haben, so wie wir die Muttersprache auch ohne grammatische Kenntnisse richtig zu sprechen imstande sind. Außerdem, eben deshalb, bezieht sich die Logik auf die schon ohne sie erschienenen logischen Formen, Denkbewegungen, jedenfalls auf ein begriffliches Denken, ähnlich wie die Grammatik auf die schon gesprochene Sprache. Daher kann die Logik nie endgültig oder fertig sein: Denn der Mensch kann immer neue logische Wendungen hervorbringen.

Besinnung 2: Erst ist logisches Denken da, dann Logik als Lehre. Erst ist die Sprache da, dann ihre explizite Grammatik.

Dass es das Denken als Prozess gibt, ist eine Folgerung aus dem Umstand, dass das Gedachte zunimmt und wechselt. Das können wir einsehen, weil wir über die Fähigkeit des Reflektierens verfügen, nämlich unsere Aufmerksamkeit auf die Vergangenheit des Denkens – des Bewusstseins überhaupt – lenken können. Diese Fähigkeit ist uns ohne persönliche Arbeit, eigenes Bestreben oder Lernen gegeben. Wir schauen auf das Vergangene, schon erstarrte Denken aus der Gegenwart. Sie selbst erleben wir gewöhnlich nie, obwohl wir aus ihr auf die Vergangenheit und die Zukunft schauen. Indem wir auf diese schauen, heben wir sie in die Gegenwart – für einen homöopathisch kurzen Augenblick. Wir werden sie aber nur gewahr, wenn sie – auch die Bilder der Zukunft – wieder aus der Gegenwart, aus dem Denk- und Vorstellungsprozess ausgeschieden sind und als Gewordenes vor dem inneren Blick stehen, für eine Aufmerksamkeit, die aus der Gegenwart schaut.

Besinnung 3: Allein die Gegenwart ist Wirklichkeit. (Auch als Meditationsthema geeignet.)

Geistesgegenwart ist ein kurzes Aufblitzen zweier Elemente: Geist und Gegenwärtigkeit oder Intuition und Gegenwärtigkeit, plötzlich und ohne Nachdenken. Man kann sich fragen: Was hindert daran, immer oder wenigstens nach Belieben geistesgegenwärtig zu sein? Dieses seltene Erlebnis können wir im Nachhinein reflektierend beobachten: Es «fällt uns etwas ein», zum Beispiel die einzige Lösung einer gefährlichen Situation, und es ist fühlbar, dass die Lösung «gekommen» ist, wir haben daran nicht gearbeitet, nicht darüber nachgedacht – dazu ist meistens auch keine Zeit. Warum passiert das nur in Gefahr oder in anderen extrem wichtigen Situationen? Die Beobachtung zeigt, dass wir im Augenblick der Gefahr völlig konzentriert sind, die Aufmerksamkeit ist ganz in der Situation. Wäre vielleicht wenigstens ein Teil des Hindernisses, stets geistesgegenwärtig zu sein, dass unsere Aufmerksamkeit im Alltag so zerstreut ist? Dass sich das Denken auf vorgefertigten Bahnen, in fertigen Begriffen bewegt und vermischt mit anderen seelischen Elementen, wie Wunsch, Vorurteil, Voreingenommenheit und Ähnlichem, arbeitet? Dann wären zur Eliminierung der Hindernisse zwei Schritte notwendig: die Erhöhung der Konzentrationsfähigkeit und die Reinigung des Denkens.

Besinnung/Meditation 4: Was heißt «dies» im Unterschied zu «das»?

Versuchen wir erst die Reinigung des Denkens – es wird sich zeigen, dass sie und die Konzentrierung auf dasselbe Ziel hinauslaufen. Durch das Denken über das Denken, so aufklärend es sein kann, bleiben wir auf einer Ebene mit dem Alltagsbewusstsein, wir vermehren lediglich die Objekte des Denkens, an seiner Qualität ändert sich nichts.

Eine Änderung kann nur durch Üben geschehen – auch jede Fähigkeit entsteht so.

Erster Übungskomplex: Reinigung des Denk- und Vorstellungslebens

Die «Reinigung» war in jeder Tradition der erste Schritt zur Ausbildung gesteigerter Erkenntnisfähigkeiten. Da in unserer Zeit das Denken / Vorstellen die einzige autonome Seelenfähigkeit ist, beginnt der Schulungsweg mit der Reinigung dieser Funktionen.

1. Übung

Wir nehmen ein einfaches Thema zum Denken / Vorstellen, zum Beispiel, was wir morgen oder heute voraussichtlich noch tun werden; oder was wir gestern getan haben; oder was der nächste Schritt in der Erziehung unseres Kindes sein sollte oder der nächste Schritt in der Lösung eines Problems. Es soll kein attraktives, interessantes Thema sein.

Wir beginnen, uns darüber Gedanken, Vorstellungen zu machen, und versuchen, alle Assoziationen, die von der Linie oder vom Netzwerk des Themas wegführen, zu vermeiden. Man kann dies auch so ausdrücken: Wir versuchen, kontinuierlich zu denken – nicht schubweise mit Unterbrechungen – und stets beim Thema – zu bleiben. Wir versuchen, auch auf die begleitenden Gefühle zu achten, indem wir sie das Denken / Vorstellen nicht beeinflussen lassen; der Vorgang soll so objektiv wie möglich verlaufen. Die begleitenden Gefühlsnuancen sollen bemerkt werden, den Denkvorgang aber nicht beeinträchtigen. Diese Übung kann fünf bis zehn Minuten dauern.

Ist sie beendet, so schauen wir auf ihren Verlauf zurück, registrieren die Abstecher und Unterbrechungen, auch die dabei aufkommenden Gefühle, und machen uns deutlich, wann oder wo sie in der innerlich erlebten Geschichte aufgetreten sind.

2. Übung

Wir wiederholen die erste Übung, aber nun mit einem uns sehr interessierenden, attraktiven Thema. Später vergleichen wir die erste mit der zweiten Übung und registrieren die Unterschiede in der Anzahl und Intensität der Ablenkungen und in der Qualität und Intensität der Gefühle. Das Ziel ist, in beiden Übungen die Kontinuität des Vorgangs zu erreichen.

3. Übung

Der zweite Schritt in der Reinigung des Denkens besteht darin, dass wir übungsweise die Wahrnehmungselemente im Denken vermeiden. Denn in jeglicher Sinneswahrnehmung ist ein Element der Stofflichkeit, das für das Denken undurchdringlich ist: Wo das Denken / Vorstellen auf Stoffliches trifft, prallt es zurück. Das Stoffliche ist, abgesehen von seiner Qualität, undenkbar, das Denken berührt es nur wie von außen.3

Besinnung / Meditation 5: Das Stoffliche ist undenkbar.

Die Übung besteht darin, dass wir zum Denken ein Thema wählen, das keine Wahrnehmungselemente enthält. So zum Beispiel den Satz: «Wir wissen nicht, wie wir denken» aus dem Auftakt; oder eine von den ersten vier Besinnungen; oder eine philosophische, mathematische oder logische Wahrheit oder Gesetzmäßigkeit. Wir versuchen, diese «abstrakten» Sätze weiterzudenken, unter Vermeidung von Wahrnehmungsvorstellungen. Je konzentrierter (kontinuierlicher) wir das tun, umso durchsichtiger wird der Verlauf für das Denken. Nach dieser Übung vergleichen wir die Erfahrungen aus den ersten drei Übungen.

4. Übung

Wir versuchen, den Sinn von Konjunktionswörtern zu erfassen (zu verstehen), wie «ja», «nein», «aber», «oder», «doch», «jedoch», «und», «so», «wie», «als», «ob», «nur», «wenn», «sonst», «ohne» und so weiter. Es sind keine Definitionen oder Erklärungen durch andere Wörter – wie beispielsweise «ja» heißt Einwilligung – gewünscht, nur die innere Gebärde des Verstehens. Wörter wie diese enthalten keine Wahrnehmungselemente, sie sind wie Gelenke der Rede, lauter innere Gebärden. Es ist lehrreich, sie mit den entsprechenden Ausdrücken anderer Sprachen zu vergleichen («aber» – «but») und dabei auch auf die Unterschiede in der Bedeutung zu achten.

Besinnung 6: Die Bedeutungen aller dieser Wörter sind in der Wahrnehmungswelt nicht zu finden. Woher kommen sie, und was ist ihre Rolle?

5. Übung

Wir versuchen, den Sinn von Adjektiven, wie «gut», «schön», «groß», «klein», «lang», «langsam», «dunkel», «rund», «eckig», zu erfassen. Es ist einzusehen, dass diese Wörter sich zwar auf Wahrnehmungen beziehen können (was nicht unbedingt gilt, siehe «eine große Idee»), jedoch nicht aus der Wahrnehmungswelt stammen. Um etwas Viereckiges zu sehen, muss der Mensch die Begriffe «vier» und «eckig» schon gefasst haben. Die Zahlen sind vielleicht das beste Beispiel für das Verhältnis des denkerisch Erfassten zur Wahrnehmungswelt.

6. Übung

Wir versuchen, Sätze aus der dritten Übung mit anderen Worten auszudrücken. Dann übersetzen wir, wenn möglich, die Sätze in eine Fremdsprache. Wir können die Übung gleich mit dem vorvorigen Satz «Wir versuchen, Sätze …» oder mit dem vorliegenden «Wir können die Übung …» probieren.

Besinnung 7: Was übersetzen wir?

Gedanken über Sprache – Worte, Sätze, Begriffe, Gegenwart und Verstehen

Die Besinnung7 kann uns zeigen, dass der Sinn des Satzes bei der Übersetzung – denn wir übersetzen den Sinn, nicht die Worte – wenigstens für Augenblicke ohne Worte und auch außerhalb einer Sprache – im Übergang – existieren kann. Das ist vielleicht nicht so überraschend, wenn wir die nächste Besinnung einbeziehen.

 

Besinnung 8: Wenn wir etwas in einen Satz fassen, laut oder nur innerlich, woher wissen wir, mit welchem Wort zu beginnen ist, welches das zweite, das dritte sein wird und was für eine grammatische Form die entsprechende ist?

Auch kann man gegebenenfalls entscheiden, in welcher Sprache das ausgedrückt werden soll. Nicht selten sind wir mit dem Ausdruck unzufrieden – was vergleichen wir dann mit dem Ausdruck? Wenn wir dieser Frage nachgehen, wird offensichtlich, dass der Sinn oder die Bedeutung des Satzes schon da sein muss, bevor ich die Sprache, die Worte, das heißt die Zeichen für die Bedeutung, wählen kann. Es ist auch bekannt, dass das Verstehen eines Textes über das Verstehen der Wörter hinausgeht; es kann vorkommen, dass wir alle Wörter eines Satzes verstehen, den Satz aber nicht, oder umgekehrt, wir verstehen einige Wörter im Satz nicht, und doch ist dieser verständlich und beleuchtet die nicht verstandenen Wörter – im Umgang mit Fremdsprachen passiert das oft. Der Sinn oder die Bedeutung ist wortlos, übersprachlich vor dem Erscheinen der Zeichenform da, und beim Verstehen gelangt der Verstehende wieder zur geistigen Form der Bedeutung. Auch wenn wir ein Wort übersetzen – oder in derselben Sprache durch ein anderes ersetzen –, ist klar, dass wir die Bedeutung vom Zeichen, von der Lautfigur trennen können, dass die Bedeutung unabhängig von der sinneswahrnehmbaren Erscheinung existiert. Die nächste Stufe der Reinigung des Denkens wäre ein – kontinuierliches – Denken ohne Worte. Das und noch mehr geschieht in Augenblicken der Geistesgegenwart: Als ob das Denken mit unendlicher Geschwindigkeit verliefe, nicht Schritt um Schritt in der Zeit. Kontinuierlich und absichtlich ohne Worte zu denken ist den meisten Erwachsenen unserer Zeit ohne vorangehende Übung versagt. Übungen aber können dazu führen.

Besinnung/Meditation 9: Die Wörter kommen aus dem Wortlosen.

Hinter den Wörtern stehen Begrifflichkeiten, das heißt, ein Wort ist ein Zeichen für ein Verständnis, für ein Begreifen. Man kann auch Wörter benutzen, ohne sie wirklich, vollständig dem Wesen nach zu verstehen – und das geschieht nicht selten –, aber auch in dem Fall versteht man unter einem Wort etwas. Wenn wir solches Gefasel ausklammern, heißt in Worten zu denken in Begriffen zu denken. Die Begrifflichkeit der in der Sprache gegebenen Wörter – sofern sie nicht technisch-wissenschaftlich verwendet werden – ist keineswegs eindeutig, sie können sehr flexibel gebraucht werden, auch zur Bezeichnung neu entstandener Begriffe.4 Der Mensch kann neue Begriffe finden und sie mit alten Wörter benennen. Das zeigt auch, dass Begriffe ohne Zeichen existieren können. Die ersten Begriffe werden dem Kleinkind durch die Muttersprache gegeben. Später löst sich das Denken von der Sprache los und kann dann zu neuen Begriffen gelangen. Aus alldem geht hervor, dass der Mensch wortlos, aber immerhin in Begriffen denken kann. Meistens denken wir – ob wortlos, ob nicht – in schon fertigen, hergebrachten, nicht neuen Begriffen. Daher wäre der nächste Schritt in der Reinigung des Denkens das nicht-begriffliche Denken.

Der Erwachsene hat einen Begriffsschatz, dessen größter Teil überliefert, sprachgegeben ist. Diese Begriffe mussten ebenso im Laufe des Lebens erworben, das heißt verstanden werden, wie die – zumeist nicht zahlreichen – selbst gefundenen Begriffe. Das Begreifen, die Bildung der Begriffe geschieht durch ein begriffsbildendes Denken, das nicht begrifflich verläuft. Im Kleinkindalter dominiert dieses Denken, damit begreift das Kind die dargebotenen Begriffe, indem das Verstehen, selbst kontinuierlicher Natur, zum Halt kommt. Wo der Vorgang zu einem (provisorischen) Stillstand kommt, entsteht ein Begriff, ein Verständnis. Bei dem Erwachsenen findet dieser Prozess durch hergebrachte Begriffe statt, zwischen welchen an einer Stelle – oder an mehreren Stellen – eine Lücke ist: Dort geschieht ein neues Verstehen, und es bildet sich ein neuer Begriff.

Ein Beispiel von Begriffsbildung: Wir zeigen einem Kind (dreibis fünfjährig) kreisförmige, dreieckige, viereckige Gegenstände und auch andere, die keine bekannte, benannte Form haben, von verschiedener Größe, Stofflichkeit und Farbe. Solange das Kind die Begrifflichkeiten von Kreis, Dreieck, Viereck beziehungsweise die Farbbegriffe nicht gebildet hat, kann es die Gegenstände nicht nach Form oder Farbe sortieren. Die Begriffsbildung geschieht durch selektierende Aufmerksamkeit: Um den Begriff «Kreis» zu erfassen, muss man von allen anderen Eigenschaften des Dinges (Größe, Stofflichkeit, Gewicht, Farbe usw.) absehen und die Aufmerksamkeit nur auf das, nämlich auf die Form lenken. Ebenso, nämlich durch Einschränken der Aufmerksamkeit, geht die Begriffsbildung im Hinblick auf die Farbe vor sich: Nie tritt eine Farbe allein auf.

Begriffsbildung ist immer Einengung des Aufmerksamkeitsstrahls. Die Geschichte der Wörter in jeglicher Sprache zeigt, dass die Wörter früher umfangreichere Begriffe bezeichneten, und zwar ist der Begriff umso größer, je weiter wir bei der Untersuchung in die Vergangenheit zurückgehen.5

Besinnung 10: Ist das Schrumpfen der Begriffe irreversibel? Können die Begriffe auch inhaltlich wachsen?

Es wurde hier von einer Änderung im Begriffsleben gesprochen, nicht von der historisch viel leichter verfolgbaren Veränderung in der Bedeutung der Wörter, welche nur teilweise mit dem Schrumpfen und zugleich Schärferwerden der Begriffe identisch ist.6

Wir betrachten das Phänomen des Verstehens noch einmal. Es hat zwei auffällige Züge: Es geschieht blitzschnell, und es kann nicht wiederholt werden, das heißt, wir können nicht dasselbe zweimal verstehen – entweder muss das erste Verstehen in Vergessenheit geraten, oder wir verstehen beim zweiten Mal etwas Neues oder Anderes. Die Schnelligkeit beruht auf der Unmittelbarkeit und Unvermitteltheit – das Verstehen kann lange vorbereitet werden, es kann auch schrittweise geschehen, aber der Akt ist – bei jedem Schritt – letztlich augenblicklich, wie ein Finden. Man kann lange suchen, nicht aber lange finden. Das Verstehen ist unanalysierbar, da es jeglichem Analysieren zugrunde liegt, auch jeglichem Denken. Das eigentliche, reinste Denken ist das Verstehen. Gewöhnlich kurz – auch das bewirkt, dass wir nicht kontinuierlich denken –, begleitet von einem nicht alltäglichen Gefühl, etwa des Glücks oder der Befriedigung: ein sprungartiges Geschehen.

Besinnung / Meditation 11: Im Verstehen berühren wir unseren Himmel.

Was beim Verstehen – außer der Vorahnung, dem Vorgefühl – bewusst wird, ist das Ergebnis, das Verstandene. Ganz bewusst wird es durch den Wortausdruck, und dieser kommt manchmal gar nicht schnell zustande. Es braucht mehr oder weniger Zeit, bis aus dem Blitz das Verstandene hervorgeht, dann ist es schon Vergangenheit. Offensichtlich spielt sich das Verstehen in der Gegenwärtigkeit ab. «Gegenwärtig» bedeutet zweierlei: einerseits, dass das Verstehen weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft geschieht, andererseits, dass wir im Akt gegenwärtig sind. Das wissen wir dadurch, dass es eine wenn auch noch so flüchtige Erfahrung ist, von der wir im Nachhinein, ohne darüber nachzudenken, wissen, es ist unsere Erfahrung. Es kann ein feiner Unterschied wahrgenommen werden zwischen der Erfahrung eines Verstehens und beispielsweise der Erfahrung einer Information, bei der kein erstes, intuitives Verstehen stattfindet, wie: «Morgen wird es wahrscheinlich regnen.»

Besinnung 12: Versuchen wir, den zuletzt genannten Unterschied zu beschreiben.

Dass wir die Gegenwart als solche nicht erfahren, hat mit beiden genannten Zügen des Verstehens zu tun: dass es blitzartig vorbei ist und dass wir in dem Blitz drinnen sind, identisch mit ihm, während unsere gewöhnlichen Erfahrungen sich immer dualistisch, im Intervall Subjekt-Objekt abspielen – wenigstens scheint es so. Es könnte auch sein, dass wir für einen gleich kurzen Augenblick wie beim Verstehen auch in jeder Erfahrung mit dem, was ein wenig später das Erfahrene wird, identisch sind. Über diese Frage aber kann nur der Versuch, die eventuelle Erfahrung der Identität und der Gegenwärtigkeit entscheiden. Die Zielsetzung ist ja, vom Gedanken zum Denken zu gelangen oder von der Vorstellung zum Vorstellen. Es ist ersichtlich, dass das reinste Denken das Verstehen ist. Das können wir aber mit unserem gewöhnlichen Willen nicht wollen, wir müssen es geschehen lassen, einfallen lassen – wie machen wir das? Das Ziel wäre, den Augenblick der Geistesgegenwärtigkeit oder des Verstehens zu «verlängern» und dabei die Erfahrung zu haben – nicht nachträglich.

Besinnung 13: Wie sind Geistesgegenwart und Verstehen verwandt?

Theoretisch ist das reine, reinste Denken ein fortlaufendes ununterbrochenes Verstehen, wortlos, jenseits der Sprachen, jenseits der Begriffe: ein geniales Denken. Wir können es willentlich nicht hervorbringen und sind froh, wenn wir es ab und zu erleben. Was man in den kurzen Geschehnissen der Geistesgegenwart und des Verstehens bemerken kann, ist die völlige, alles andere ausschließende Konzentriertheit und zugleich Selbstvergessenheit. Wäre die Übung dieser Elemente ein Weg zum gesteckten Ziel?