Kranichschwingen

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Aus der Reihe: Lindemanns Bibliothek #393
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Kranichschwingen
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Für Heidi

Alle Personen, Ereignisse und Orte

dieser Erzählungen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit noch lebenden Personen,

Orten oder Geschehnissen wären zufällig.

G. K. Ruediger, unter diesem Pseudonym publiziert der 1949 in Karlsruhe geborene Rüdiger K. Herrscher seit 2021 bei Lindemanns. Nach dem Studium der Germanistik, Geschichte, Politikwissenschaften und Psychologie war er als Gymnasiallehrer, in der Lehrerfortbildung sowie einige Jahre an einer Schulpsychologischen Beratungsstelle tätig, ehe er zunächst die Schulleiterstelle am Melanchthon- Gymnasium Bretten und danach am Hermann-Hesse-Gymnasium Calw übernahm. Neben seiner Tätigkeit als Coach für Kinder und Jugendliche sowie Mediator und Mediatoren-Ausbilder arbeitete er viele Jahre als Fachjournalist und freier Schriftsteller für verschiedene Verlage. Neben zahlreichen Sachbüchern und Fachaufsätzen veröffentlichte er Kurzgeschichten und Gedichte in Sammlungen und Anthologien. 2021 erschien sein Buch „Morsezeichen aus der Einsamkeit“. Der Autor ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter.

G. K. Ruediger

Kranich-

schwingen

Wege aus der Einsamkeit

Lindemanns

Vorweg

Seit wir Menschen vor Jahrtausenden den Charme sozialer Verbände und deren wohltuende Wirkung auf unser Innerstes erfahren durften, beschäftigen wir uns mit dem Miteinander, mit der zwischenmenschlichen Kommunikation, mit den Gefühlen, die uns das Zusammenleben in Gruppen, in Familien, in Partnerschaften erst ermöglichen. Spätestens seit der Epoche der Romantik war es nicht mehr ungehörig, dass Menschen sich in Liebe verbunden fühlten und dies in Liedern und Gedichten auch öffentlich zum Ausdruck brachten, obwohl Ehen, als der klassische, in Konventionen gegossene Ausdruck der Geschlechterverbindung, bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein meist unter rein ökonomischen, sachlich nüchternen Überlegungen geschlossen wurden.

Dass früher derart geschlossene Ehen ein Leben lang hielten, während sich die Statistiken heutiger Scheidungsraten in Mitteleuropa jährlich zu neuen Höhepunkten emporschwingen, hängt nicht mit dieser archetypisch emotionslosen Grundlage von damals zusammen, sondern allein mit der Tatsache, dass es heute nahezu selbstverständlich ist, dass Menschen, durch intensive Aufklärung zur Liebe befähigt und ermutigt, sich einem Partner auf dieser von Gefühlen geschaffenen Basis zuwenden, sobald sie erkennen können, dass sie in der Welt des Wunschpartners vorkommen. So kann dieser oder diese für ihn respektive sie aufgeschlossen bleiben und in der täglichen Kommunikation über diese Liebe sich mit dem Partner, der Partnerin in der Beziehung weiterentwickeln, eventuell auch verändern. Wo das nicht mehr möglich ist oder als niemals vorhanden festgestellt werden muss, findet die Liebe fast zwangsläufig ihr dann bitteres Ende.

Vor allem in der derzeit nahezu unkontrolliert durch Europa mäandernden Corona-Pandemie wird die Liebe zwischen Partnern auf die ultimative Bewährungsprobe gestellt, nachdem gesellschaftliche Vernunft ganz offensichtlich an ihre Grenzen gestoßen ist und eine neue Wut sich gegen diese Fortschritte auflehnt, von egomanischen Unvernunftsfetischisten und Wissenschaftsleugnern massiv befördert. Die Belastungen im Alltag durch gesundheitspolitisch notwendige Einschränkungen fordern von jedem ein Höchstmaß an Verständnis für den anderen, ein Höchstmaß an Toleranz. Gerade jetzt muss sich Liebe ständig neu erfinden, im stetigen Fluss frei aller von außen auferlegten moralischen Regeln und Einschränkungen bleiben. Dazu gehören die bedingungslose Entmaterialisierung von Liebesbeziehungen, die Aufgabe von Privilegien, die man dem Partner gegenüber zu besitzen glaubt, die Aufgabe von Besitzansprüchen, der Verzicht auf sogenannte Liebesbeweise. Liebe darf nicht in sich selbst verharren, indem beispielsweise der Anfang pseudoromantisch verklärt wird, das „weißt du noch“ zum Dressurritual verkümmert. Dann lässt das bereits angelegte Ende meist nicht lange auf sich warten. Niemals verharren, sondern miteinander in der Liebe wachsen, dabei die eigene Identität weiter entwickeln und zur in der Liebe gereiften Persönlichkeit sich zu verändern ist eines der Geheimnisse gelingender Liebe, gelingender Partnerschaft, völlig unabhängig von der sexuellen Orientierung der Partner.

In der Liebe mehr zu geben als gefordert wird, statt auf vermeintlich berechtigten Ansprüchen zu beharren, sich der Liebe mit Leidenschaft auszuliefern und sie tagtäglich neu zu entdecken, statt sich mit banalen, vermeintlich die Liebe befeuernden Ekstasen der drohenden Langeweile und dem näher rückenden Ende zu entziehen – ein weiteres Geheimnis. Veränderungen in der Liebesbeziehung gemeinsam zu entdecken, sich darüber auszutauschen und mit einfühlsamer Rhetorik neue Werte und neue Anreize für die Liebe zu erschaffen – ein übriges.

Liebe in Hingabe wird niemals unklug dem Partner gegenüber handeln, einzig aus einer momentanen, oft schicksalhaften Laune heraus, sondern sich nach jedem gemeinsam erlebten emotionalen oder erotischen Höhepunkt klug zurücknehmen, um jegliches eigene Anspruchsdenken abzuwehren. Und um Schaden vom Partner abzuwenden. So können aus dem Beieinander und Miteinander keine Ambivalenzen erwachsen, welche dem Auseinander Vorschub leisten. Und Liebe kann jede Grenze überwinden: religiöse, kulturelle oder selbst altersbedingte.

Liebe kann selbst denjenigen Menschen neue Perspektiven eröffnen, die sich nach einer gescheiterten Beziehung in die selbst gewählte oder fremdbestimmte Isolation begeben haben. Aus der Liebe erwachsen Auswege aus dem vermeintlich endlosen Tunnel, auch wenn der Weg steinig und anstrengend sein mag. Am Ende trägt die Liebe jeden davon aus seinem Jammertal, leicht und schwerelos wie mit Kranichschwingen.

Kreuzweg

Im Nachhinein fiel es einem immer schwer, genau festzulegen, wann es nun angefangen hatte. Aber das war eigentlich egal, denn er war noch nie ein Jahrestag-Fetischist gewesen, hatte selbst mit diesen ritualisierten christlichen Feiertagen wie Ostern, Pfingsten und Weihnachten Mühe, um sie nicht zu vergessen. Ein paar Menschen gab es ja, die von ihm wenigstens zu Weihnachten ein Lebenszeichen, in Geschenkpapier verpackte Aufmerksamkeiten erwarteten, auch wenn ihm selbst das schon immer herzlich egal war. Und jetzt, mitten in den Beschränkungen durch die harten Pandemie-Auflagen der Bundesregierung, vermisste er, im Gegensatz zu vielen anderen, eigentlich rein gar nichts.

Seit Kindertagen war ihm dieses verlogene, moralinsaure Getue um die Geburt des vermeintlichen Erlösers zuwider, von einem Tag auf den andern lagen sich Menschen, die sich das restliche Jahr über in Zank und Streit herzhaft verbunden wussten, in den Armen, vergossen ein paar frömmelnde Tränchen und pflegten ihre Heuchelei unterm bunt staffierten Weihnachtsbaum, zu dem er selbst ein eher ambivalentes Verhältnis hatte: Einerseits brachte er Grün ins Wohnzimmer, andererseits war er als Symbol vollkommen überholt und in einer Zeit, in der weltweit über vierzig Kriege oder Bürgerkriege tobten, fast schon eine Verhöhnung der Betroffenen, ob sie nun Christen oder Andersgläubige sein mochten. Jetzt wurde dem durch das boshafte Virus zumindest teilweise Einhalt geboten.

Seine Exfrau, diese Schicki-Micki-Tante, die sich das teure Loft in Hamburg aus der Scheidungsmasse gekrallt hatte, erwartete noch immer ein Weihnachtsgeschenk von ihm. Als sie es in den ersten Jahren nach der bitteren Scheidung – immerhin hatte sie ihn mit diesem Bodymaßindex normierten Fußballprofi betrogen – nicht erhielt, instrumentalisierte Jolanthe die in London lebende Tochter, welche sich dem Vater zwar verbunden fühlte, aber keinen Stress mit ihrer zickigen Mutter wollte. Also biss er Vanessa zuliebe in den sauren Apfel und erwarb für seine Ex auf einer Auktion zu jedem Anlass ein günstiges Schmuckstück. Vanessa erhielt wie gewohnt ihren Weihnachtsscheck, und damit hatte es sich dann auch.

Jedenfalls fiele ihm das Datum beim besten Willen nicht mehr ein, wann es wirklich angefangen hatte. Die Beschränkungen im öffentlichen Leben, das Maskentragen und das Abstandhalten störten ihn keineswegs, ganz im Gegenteil. Rings um ihn lebten doch schon lange Zeit überwiegend verzärtelte, egomanische Spaßsucher, die rücksichtlos auf ihr ganz persönliches Wohlergehen bedacht schienen. Ob sie damit zur weiteren gesellschaftlichen Spaltung beitrugen, interessierte diese ausgewählte Klientel für künftige Psychiatriebesuche keineswegs. Er verzichtete auf nahezu alles, vom Einkaufen und dem obligatorischen Zahncheck bei seiner attraktiven und überaus fähigen Zahnärztin Dr. Laura, für welche er heimlich schwärmte, einmal abgesehen. Ansonsten galt während der sich austobenden Pandemie: Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Das wilde Aufbegehren gegen die von allen Virologen empfohlenen Schutzmaßnahmen konnte er nicht verstehen, auch wenn dies die offensichtliche Spaltung der Gesellschaft nur verdeutlichte.

Wenn er die Sache nüchtern betrachtete: Die gesellschaftliche Situation in seinem Land war letztlich doch bereits seit der Wiedervereinigung angespannt. Kanzler Helmut Kohl hatte den Neubürgern aus dem Osten blühende Landschaften versprochen, erhalten hatten sie prekäre Lebensverhältnisse, welche ihr Wahlverhalten zunehmend radikalisierten. Die wenigen Super-Reichen in der erweiterten Republik wurden, seit der damalige Kanzler Schröder seine unsozialen Reformen durchs Parlament gepeitscht hatte, wie überall in Europa, immer reicher, die Boni für erfolglose Manager schossen ins Astronomische, während Kleinbürgertum und Mittelstand zunehmend verarmten. Carsten konnte das relativ gleichgültig sein, hatte er doch trotz Scheidung einen Großteil seines väterlichen Erbes gerettet und sicher vor der gierigen Hamburger Krake auf wohl verborgenen Schweizer Konten angelegt.

 

Und später dann kamen sie – die Flüchtlinge. In Massen. Hunderttausende flohen vor Krieg und Bürgerkrieg, vor Fassbomben und IS-Terror, vor Versklavung und mittelalterlicher Rechtsprechung radikalisierter Muslimbrüder, später vor den wiedererstarkten Taliban im vom Westen fluchtartig verlassenen Afghanistan. Aus anfänglicher Willkommenskultur erwuchsen bald schon neue Vorurteile, neue Ablehnung, erwuchs neuer Rassismus.

In seiner übersichtlichen Stadt am Bodensee fielen sie zunächst nicht großartig auf; erst als sie nach der Erfassung im Aufnahmelager auf einigermaßen zivilisierte Unterkünfte verteilt worden waren, begannen sie nach und nach das Straßenbild zu prägen: Frauen mit Kopftuch, Frauen im Nikab, Frauen in orientalischen Gewändern, dunkelhäutiger als Europäer, verunsicherten, ebenso wie deren stolze Männer, die braven Bürger, die sich zunächst so viel auf ihre Willkommenskultur zugutegehalten hatten, ließen Ressentiments sprießen, vor allem bei denjenigen, die sich ohnehin zu kurz gekommen fühlten. Wie vor Jahrhunderten beim die Stadt überflutenden Konzil fühlten sich die Einheimischen überrannt. Plötzlich bekamen längst überwundene Ängste wieder Konjunktur, politische Glücksritter nutzten die Gunst der Stunde für Agitprop wie zu besten NS- oder DDR-Zeiten, nur dass das Pendel diesmal wieder nach rechts ausschlug. Die aufwallende Pandemie lenkte endlich vom neuen, künstlich geschaffenen Feindbild ab, ließ die selbsternannte politische Elite aus Querdenkern, Rechtsideologen, sogenannten Reichsbürgern, und Identitären ihre vermeintlich bedrohte Freiheit gegen das neu gewonnene Feindbild der Corona-Einschränkungen aggressiv verteidigen. Flüchtlinge gerieten da in Vergessenheit – der Staat wurde zum Feind.

Zum ersten Mal gesehen hatte er sie kurz vor Beginn der Pandemie in seinem Edeka-Markt, in welchem der Flüchtlingsbeauftragte der Stadt ihr für Mindestlohn ein paar Stunden als Putzfrau vermittelt hatte: Fatima aus Syrien. Das kleine Mädchen, das sich stets in ihrer Nähe aufhielt, schien ihre Tochter zu sein, Tulum, wie er später erfuhr. Akribisch wischte diese stille junge Frau die Regalböden sauber, nicht das geringste Staubkörnchen entging ihren flinken, wachen, dunklen Augen, die so ernst in die Welt blickten. Erst beim zweiten Aufeinandertreffen war ihm aufgefallen, dass sie gegen die landläufige Erwartung kein Kopftuch trug, das rabenschwarze, lockige, volle Haar zu einem Knoten im Nacken zusammengebunden bändigte.

Ihr nächstes Aufeinandertreffen fand schon in den Wochen der Pandemie zwischen den Regalen mit fernöstlichen Gewürzmischungen und den sich daran anschließenden Alkoholika statt. Er studierte durch seine wegen der Gesichtsmaske ständig beschlagenen Brille eben die diversen Angebote an fertiger Kokosmilch aus der Dose, als er von einem lauter werdenden Stimmengewirr abgelenkt wurde. Bei einem eher flüchtig-neugierigen Blick um die Regalecke sah er drei Jugendliche sich intensiv um die junge Frau kümmern: verbale, zotige, nicht stubenreine Beleidigungen wurden ihr an den Kopf geworfen, während insbesondere der korpulenteste der drei mehr oder minder adipösen Spätpubertierenden ihr auf den Leib rückte und sie gegen das Regal drücken wollte. Alle Masken der eingebildet Starken hingen auf Halbmast, was keinen im Markt zu scheren schien, an den gebotenen Sicherheitsabstand dachten sie nicht im Traum. Carstens Eingreifen erfolgte spontan und vermutlich deshalb auch so wirkungsvoll. Er packte den kleinen Dickwanst am Unterarm und drehte ihm diesen gekonnt auf den ebenso wulstigen Fettrücken, fauchte: Verschwindet sofort und lasst diese Frau in Ruhe, sonst setzt es ein paar heiße Ohren. Und setzt eure Masken auf!

Als der Jungbulle zu einem Schwinger ausholen wollte, erhielt er den Satz Ohrfeigen, den ihm längst während seiner versäumten Erziehung ein anderer hätte verabreichen sollen, um ihn zu einem vollwertigen Mitglied der Gesellschaft statt einem Jungkriminellen werden zu lassen. Die Meute stob davon, aus ängstlichen Augen sah ihn die junge Frau dankbar an.

Danke, Sir, war das Einzige, was sie hervorbrachte, ehe sie in Tränen ausbrach. Und ihm, der schon so lange allein und ohne jeglichen engeren zwischenmenschlichen Kontakt gelebt hatte, fiel in diesem Moment nach kurzem Zögern das einzig Richtige ein. Er nahm die Verschüchterte, Zitternde an der Hand, Corona-Regeln hin oder her, fasste mit der anderen das Kind und spazierte mit den beiden in die angrenzende Cafeteria, wo er sie zu einem Tee und einem Plunderstückchen einlud. Die Tische standen in ausreichender Entfernung von anderen Besuchern, sodass sie hier die Masken absetzen durften. Jetzt konnten die Tränen ungehemmt fließen. An der Kasse hatte er Bescheid gegeben, weshalb kurz darauf der Geschäftsführer auftauchte und sich hinter seiner Billigmaske fürchterlich über diesen Eingriff in die Betriebsabläufe aufregte. Dass er selbst nicht für Sicherheit in seinem Unternehmen sorgen konnte, blieb unerwähnt. Typisch Platzhirsch hinter blauer Einfachmaske. Carsten beachtete ihn nicht.

Spontan bot er der jungen Frau eine Stelle als Haushaltshilfe in seinem Haus an – Putzen war ohnehin eine ihm verhasste Tätigkeit. Lieber saß Carsten bis Börsenschluss vor dem PC und entschied, je nach Kursverlauf, über An- beziehungsweise Verkäufe von Wertpapieren. Er pflegte schon lange das Homeoffice dem geselligeren Treiben dort draußen vorzuziehen. Aktiendeals ließen sich so problemlos abwickeln. Das war seine Welt, in der er sich sicher fühlte, seine Kontostände zeigten, dass er durchaus ein Händchen für die Börse hatte. Die übrige Zeit verbrachte er entweder auf seinem Boot oder mit langen Spaziergängen und Wanderungen, mitunter ins nahe gelegene Allgäu oder auf den Bodanrück.

Die Anstellung regelte er mit dem zuständigen Flüchtlingsbetreuer, Fatima war als Flüchtende vorübergehend anerkannt und durfte mindestens für die nächsten zweieinhalb Jahre bleiben. Eine beschränkte Arbeitserlaubnis hatte sie erhalten. Sie kam seit diesem ereignisreichen Tag drei Mal in der Woche zu ihm, brachte, und darüber war sie sehr froh, ihre kleine Tochter mit, die sich schnell mit Carsten anfreundete. Er besorgte dem Mädchen allerhand Spielzeug aus einem der Läden im Zentrum, recht nahe am Bahnhof, begeisterte sich daran, wie die kleine Tulum Interesse an Technik-Spielsachen zeigte.

Carsten, den viele in seinem Bekanntenkreis bisher für einen kinderfeindlichen Hagestolz gehalten hatten, fing an, dieses kleine Mädchen mit den großen, fast schwarzen Murmelaugen zu lieben; er vermisste sie an den Abenden, an denen er allein in seinem, für einen Menschen viel zu großen Haus regelmäßig Selbstgespräche führte. Und er vermisste zunehmend die angenehme Ruhe, die von Fatima ausging, wenn sie bei ihm Fenster putzte oder Wäsche bügelte, leise vor sich hin summend. Es war augenfällig, dass auch sie zunehmend entspannter war, ihn jedes Mal an der Haustür mit einem Lächeln begrüßte, einem Lächeln, wie er es bei seiner geldgierigen Ex schon kurz nach den Flitterwochen für ewig vermissen musste.

Es war an jenem letzten Freitag im November, alle rechneten bereits mit dem nächsten Lockdown, es war jeweils der dritte Tag, an dem es im Haus eigentlich nichts mehr zu putzen gab, weshalb er sie immer zu einem Tee, später gar zu einem gemeinsamen Mittagessen einlud, als ihm auffiel, dass sich Fatima, nachdem das saubere Geschirr aus der Spülmaschine geräumt und die gesamte Küche blitzblank gescheuert war, noch immer an der Spüle zu schaffen machte. Ihr Deutsch war dank seiner Unterstützung inzwischen derart verfeinert, dass sie sich besser als manch weniger versierte Einheimische, die Deutsch als ihre erste Fremdsprache erlernt hatte, verständigen konnte, und deshalb fragte er sie geradeheraus, ob sie mit etwas ein Problem habe. Tulum hielt im Wohnzimmer auf der Couch ihren Mittagsschlaf, als er erkennen musste, wie heftig Fatima mit den Tränen zu kämpfen hatte.

Sie habe keine Probleme, meinte sie zunächst. Als er nachhakte, sie sogar zum ersten Mal in den Arm nahm, Abstand hin oder her, ließ sie den Kopf auf seine Schultern sinken, fing an zu schluchzen und erklärte ihm, nachdem sie sich einigermaßen gefangen hatte: Da sind böse Männer in der Unterkunft. Junge Männer aus Gambia. Sie wollen Bum Bum mit mir machen. Kein Interesse, ob ich auch will Bum Bum. Sie nehmen sich einfach ...

Sie haben dich vergewaltigt?

Ihr fragender Blick zeigte ihm, dass sie diesen Terminus nicht kannte, also fragte er verständlicher:

Sie haben mit Gewalt Bum Bum mit dir gemacht? Ein Nicken war die ganze, aber eindeutige Antwort. Und dann der Hinweis mit dem Kopf auf Tulum: Was, mit ihr auch?

Nein. Sie sagen: nächstes Mal.

Er wusste in diesem Moment, dass er jetzt endlich aus seinem Schneckenhaus musste, sich für sie und dieses unschuldige Kind einsetzen. Beide mussten hier bei ihm bleiben. Er besprach sich mit Fatima, rief den zuständigen Flüchtlingsbetreuer am späten Freitagnachmittag an, ließ sich von dessen Frau nicht abspeisen, erklärte, dass er sonst Strafanzeige wegen unterlassener Hilfeleistung erstatten und eine Dienstaufsichtsbeschwerde beim zuständigen Regierungspräsidium einreichen wollte, wenn der feige Hund, wie er ihn in seiner Rage titulierte, nicht sofort ans Telefon käme.

Er brüllte seine Anschuldigungen regelrecht in den Hörer, ließ den „Beamtenarsch“ und „Sesselfurzer“, der ganz typisch zunächst die Schuld beim aufreizenden Gang Fatimas suchen wollte, nicht länger zu Wort kommen, drohte mit der Presse und seiner härtesten Gangart inklusive Schlägertrupp und erreichte, dass noch abends kurz vor der Tagesschau der Kleingemachte, der regelrecht auf die passende Größe gehäckselte A11-Diener seines Dienstherrn, Fatimas persönliche Sachen vorbeibrachte.

Ein amtliches Schreiben bestätigte, dass Fatima und Tulum ab sofort bei Carsten wohnen durften; beide erhielten nur wenige Tage später dank der Hilfe seines Freundes Josef, diesem genialen Anwalt, die unbegrenzte Aufenthaltsbefugnis, und zum ersten Mal sah er wieder ein flüchtiges Lächeln über Fatimas apartes Gesicht mit den tieftraurigen, nachtdunklen Augen huschen. Die beiden bezogen die freien Gästezimmer, Tulum fühlte sich bald wie eine Prinzessin. Ihm fiel auf, dass die beiden relativ wenig Kleidungsstücke besaßen, weshalb er am nächsten Samstagmorgen, der bislang für ihn bedeutungslose 1. Advent rückte näher, nach dem Frühstück mit ihnen zum Einkaufen in ein etwa neunzig Kilometer entferntes Outlet-Center in der Nähe der Landeshauptstadt fuhr, wo er beide für fast dreitausend Euro neu einkleidete. Sein kleines Mädchen – als das empfand er inzwischen Tulum – tanzte vor Freude, umarmte ihn, gab ihm einen feuchten Kuss auf den Mund, meinte: Danke, Baba!

Fatima standen die Tränen in den Augen, und auf der Heimfahrt, als Tulum auf der Rückbank des großen Audi im Kindersitz eingeschlafen war, erzählte sie ihm zum ersten Mal aus ihrem Leben. Sie war Lehrerin in Aleppo gewesen, ihr zwanzig Jahre älterer Ehemann Arzt im größten Krankenhaus. Beim ersten Überfall der islamistischen Terroristen von Al Nusra, Verbündete des Islamischen Staates, war ihr Mann als Chefarzt aufgegriffen und hingerichtet worden, um die übrigen Ärzte leichter einschüchtern, steuern zu können. Sie weilte mit Tulum glücklicherweise auf dem Landgut ihrer Eltern, welche sie, sofort nach Eintreffen der Nachricht, in die benachbarte Türkei verfrachteten, ausgestattet mit dem gesamten Barvermögen der Eltern für die geplante Flucht.

Im September 2017 war sie mit einem riesigen Flüchtlingstreck über Ungarn nach Deutschland gelangt, ausgehungert und erschöpft, aber am Leben. Sie war erfreut über die Offenheit der Menschen hier und über die Einladung der Bundeskanzlerin. Erst mit der Zeit lernte sie die wahren Probleme kennen, den Druck in den Flüchtlingsunterkünften, die Einschüchterung durch nationalistische Deutsche, die ihr Angst machten.

Carsten versicherte ihr, dass sie von jetzt an keine Angst mehr haben müsse, weder um sich noch um ihre Tochter; sie lebten jetzt mit ihm zusammen, wie eine kleine Familie, und er sorge für sie. Vor den Gambiern müsse sie auch keine Angst mehr haben, deren Erziehung hatte ihn gerade einmal dreitausend Euro für die Fighter seines Freundes Georg aus dem Karate-Klub gekostet. Fatima könnte jetzt endlich zur Ruhe kommen und ihre schrecklichen Erlebnisse aufarbeiten, gerne auch im Gespräch mit ihm.

Und du? Was du willst?

Mit der Satzstellung haperte es bei Fatima immer nur dann, wenn sie angespannt, nervös war. Er verstand nicht gleich, worauf sie hinauswollte, doch dann dämmerte es.

 

Ich bin so froh, dass ihr beide da seid. Ich freue mich über eure Gesellschaft und habe dich und Tulum liebgewonnen. Ich war so lange allein, dass ich euch beide wirklich wie meine Familie empfinde.

Sie lebten einige Wochen zusammen, fuhren im Frühjahr, als die Beschränkungen gelockert worden waren, über die Wochenenden nach Österreich oder in die Schweiz. Tulum war begeistert von den Alpengipfeln, und als er sie einmal beim Abstieg vom Schafsberg nach einer anstrengenden Wandertour im Salzkammergut die letzten paar Kilometer bis zum Auto tragen musste, konnte er seine Tränen nicht länger zurückhalten. Welch ein Glück war ihm da doch noch einmal beschieden worden. Eine wunderbare Frau, die immer besser Deutsch sprach, ein lebendiges, wunderbares Kind, das er längst wie sein eigenes angenommen hatte.

Eingetrübt wurde das Glück während ihres Urlaubs in der Bretagne, Ende August. Die Corona-Beschränkungen, selbst im stark betroffenen Frankreich, waren größtenteils aufgehoben. Fatima zog sich mehr und mehr in sich selbst zurück, sprach wenig, wich ihm aus, wenn er wissen wollte, ob sie etwas bedrücke.

Ist nix, war ihre Standardantwort.

Er insistierte, bedrängte sie regelrecht, weil er genau erspürte, dass etwas nicht stimmte. Und endlich, als abends nach einem anstrengenden Tagesausflug Tulum erschöpft eingeschlafen war, brach es, als er wieder einmal ein Fragentrommelfeuer abfeuerte, aus ihr heraus: Du magst mich nicht. Ich wahrscheinlich hässlich bin. Du duldest mich nur, weil du mein Kind magst. Du nur Augen für Tulum hast, sie du liebst. Mich nicht.

Sie weinte. Heftig. Schluchzte zum Steinerweichen.

Endlich gelang es ihm, sich zu überwinden, sie in den Arm zu nehmen.

Das stimmt nicht. Ich liebe euch beide. Aber ich wollte dich auf keinen Fall bedrängen, nach allem, was du durchgemacht hast. Ich hatte Angst, du könntest auch vor mir davonlaufen, wenn ich dich zu sehr bedränge. Ich liebe dich auch ohne alles andere, ohne Umarmen oder Sex.

Mit großen Augen sah sie ihn staunend an. War fassungslos.

Du sagst, du liebst mich, aber willst nicht in mein Bett, weil du hast Angst, mir wehzutun? Kein arabischer Mann so denkt. Nimmt sich, was er will. Ohne zu fragen.

Er sah ihr zartes Lächeln nicht, schämte sich, dass er sie sehr bedrängt und mit seinen Worten offensichtlich verwirrt hatte. Als er nach dem anschließenden Strandspaziergang am heute recht ruhigen Atlantik entlang in der Dämmerung bei hereinbrechender Flut ins Haus zurückkehrte, waren alle Lichter aus. Also schliefen beide. Gut so. Er duschte ausgiebig, am Ende kalt, weil die Gedanken immer wieder um Fatima kreisten und entsprechende Reaktionen bei ihm auslösten, die nur mit kalten Güssen zu bewältigen waren, und kroch wie üblich ohne Schlafanzug unter das herrlich kühle Leinen. Er musste schon eingedämmert gewesen sein, als ihn ein Geräusch an der Tür weckte.

Er vernahm tapsige Schritte, vorsichtig auf den Holzdielen auftretend, sich seinem Bett nähern, und auf einmal spürte er einen warmen Körper, der unter seine Decke schlüpfte und sich an seinen presste: Fatima!!

Ehe er etwas sagen oder fragen konnte, verschloss sie mit ihren vollen Lippen leidenschaftlich seinen Mund, schmiegte sich in seine zunächst zaghafte Umarmung, streichelte ihn, ließ ihn schließlich alle Zurückhaltung über Bord werfen. Sie liebten sich wie zwei Ertrinkende, die sich beim Untergang der Titanic soeben noch im nachtkalten Ozean gefunden hatten und nicht mehr voneinander lassen wollten. Nach einem Höhepunkt, wie er ihn noch mit keiner Frau erlebt hatte – viele gab es ja nicht in seinem Leben –, kuschelte sie sich an ihn und flüsterte ihm ihre Liebe ins Ohr.

Er küsste sie, ehe er antwortete: Möchtest du meine Frau werden? Für immer und ewig mit mir vereint sein?

Ihre Antwort zeigte ihm: Er war nach seinem langen Irrweg aus Trial-and-Error, nach Niederlagen und Verletzungen, endlich angekommen in seinem ganz persönlichen Himmelreich.

Am nächsten Morgen beauftragte er einen örtlichen Notar mit dem Kauf des Ferienhauses.