Wachtmeister Studer

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Wachtmeister Studer
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Friedrich Glauser (1896 – 1938) verübt 1913 einen ersten Selbstmordversuch. 1916 gründet mit einem Freund die Zeitschrift Le Gong und schreibt sich als Chemiestudent ein. Da ist er bereits an Lungentuberkulose erkrankt und wird mit Morphium behandelt. 1918 folgt die Einweisung in die Psychiatrische Klinik, Diagnose: Dementia Praecox. 1921 Fremdenlegion. In Nordafrika erkrankt er an Malaria und muss die Legion 1923 verlassen. Die folgenden Jahre sind geprägt von Morphiumsucht, Beschaffungskriminalität, Einweisungen in Psychiatrien und Heilanstalten, Selbstmordversuchen. 1931 beginnt seine Karriere als Kriminalautor. 1934 beantragt der Vater die lebenslängliche Internierung seines Sohnes in der Schweiz. Glausers Leben endet tragisch: Am Vorabend seiner Hochzeit erleidet er beim Abendessen einen Zusammenbruch. Nach Stunden im Koma stirbt er 41-jährig am 8. Dezember 1938.

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«Mit leidenschaftlicher Kühle entwickelt (…) Glauser in jedem Buch ein anderes rätselhaftes Fluidum. So erreicht er eine Suggestion, die nach der Lektüre anhält, selbst dann noch, wenn man Handlung und Pointen längst vergessen hat. Der Schriftsteller zielt damit auf jenen ursprünglichen Menschen in uns, dem, wie Herder sagt, die Gefühle nur noch ‹zusammengewebt› sind.» NZZ

Die Kriminalerzählungen Friedrich Glausers besitzen eine stilistische und sprachliche Geschmeidigkeit, die es ihm ermöglichen, gekonnt Stimmung und Atmosphäre einzufangen und dabei auch ein Auge für soziale Details zu haben. Mit seinem Wachtmeister Studer schuf er einen Kollegen von Sherlock Holmes, der jedoch nicht ein Ausbund an Scharfsinn und unbestechlicher Logik ist, sondern ein Mann, der mit sich reden lässt, dem Irrtümer unterlaufen können, der sich durch eine Schwäche für Außenseiter und viel Mitgefühl auszeichnet, kurz: der bei allem kriminalistischen Berufseifer nie vergisst, Mensch zu sein. Im vorliegenden Band sind die ersten drei Fälle von Wachtmeister Studer enthalten:

Wachtmeister Studer

Die Fieberkurve

Matto regiert

Glauser über Glauser - Brief von Friedrich Glauser an Josef Halperin, 15. Juni 1937

«(…): 1896 geboren in Wien von österreichischer Mutter und Schweizer Vater. Großvater väterlicherseits Goldgräber in Kalifornien (sans blague), mütterlicherseits Hofrat (schöne Mischung, wie?). Volksschule, 3 Klassen Gymnasium in Wien. Dann 3 Jahre Landerziehungsheim Glarisegg. Dann 3 Jahre Collège de Génève. Dort kurz vor der Matur hinausgeschmissen... Kantonale Matur in Zürich. 1 Semester Chemie. Dann Dadaismus. Vater wollte mich internieren lassen und unter Vormundschaft stellen. Flucht nach Genf ... 1 Jahr (1919) in Münsingen interniert. Flucht von dort. 1 Jahr Ascona. Verhaftung wegen Mo[rphin]. Rücktransport. 3 Monate Burghölzli (Gegenexpertise, weil Genf mich für schizophren erklärt hatte). 1921–23 Fremdenlegion. Dann Paris Plongeur. Belgien Kohlengruben. Später in Charleroi Krankenwärter. Wieder Mo[rphin]. Internierung in Belgien. Rücktransport in die Schweiz. 1 Jahr administrativ Witzwil. Nachher 1 Jahr Handlanger in einer Baumschule. Analyse (1 Jahr) ... Als Gärtner nach Basel, dann nach Winterthur. In dieser Zeit den Legionsroman geschrieben (1928/29), 30/31 Jahreskurs Gartenbaumschule Oeschberg. Juli 31 Nachanalyse. Jänner 32 bis Juli 32 Paris als ‹freier Schriftsteller› (wie man so schön sagt). Zum Besuch meines Vaters nach Mannheim. Dort wegen falschen Rezepten arretiert. Rücktransport in die Schweiz. Von Juli 32 – Mai 36 interniert. Et puis voilà. Ce n'est pas très beau ...»

Haupttitel

Impressum


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2011 Der Text wurde behutsam revidiert nach den Ausgaben Zürich 1936, 1938 und 1943 Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag GmbH Bildnachweis: Porträt Friedrich Glausers von Gotthard Schuh / Schweizerische Stiftung für Photographie, Winterthur Redaktion: Dr. Bruno Kern, Mainz Gesetzt in der Palatino Ind Uni – untersteht der GPL v2 ISBN: 978-3-8438-0007-5 www.marixverlag.de

Inhalt

Über den Autor

Zum Buch

Wachtmeister Studer

Einer will nicht mehr mitmachen

Der Fall Wendelin Witschi zum Ersten

Billard und Alkoholismus chronicus

Felicitas Rose und Parker Duofold

Läden, Lautsprecher, Landjäger

Noch einer, der nicht mehr mitmachen will

Zimmer zu vermieten

Interieur der Familie Witschi

Der Fall Wendelin Witschi zum Zweiten

Der Daumenabdruck

The Convict Band

Witschis Schießstand

Anastasia Witschi, geb. Mischler

Schwomm

Liebe vor Gericht

Der Fall Witschi zum dritten und vorletzten Male

Der Autodieb

Besuche

Mikroskopie

Der Fall Wendelin Witschi zum letzten Mal

Spritztour und Ende

Die Fieberkurve

Die Geschichte vom Hellseherkorporal

Gas

Die erste Frau

Pater Matthias

Der kleine Mann im blauen Regenmantel und der andere

Die Geschichte vom ersten Daumenabdruck

Das Testament

Kanalräumen

Gangster in Bern und eine vernünftige Frau

Kommissär Madelin macht sich unsichtbar

Studer in der Fremdenlegion

Der Hellseherkorporal nimmt Gestalt an

Capitaine Lartigue

Ein Morgen im Posten Gurama

Die Verhaftung

Die Verhandlung

Matto regiert

Verwahrloste Jugend

Brot und Salz

Der Tatort und der Festsaal

Die weiße Eminenz

Wachsaal B

Matto und der rothaarige Gilgen

Ein Mittagessen

 

Direktor Ulrich Borstli selig

Kurzes Zwischenspiel in drei Teilen

1.

2.

3.

Das Demonstrationsobjekt Pieterlen

Überlegungen

Ein Gespräch mit dem Nachtwärter Bohnenblust

Studers erster psychotherapeutischer Versuch

Die Brieftasche

Zwei kleine Belastungsproben

Studers Gewissenskonflikt

Lieb und gut

Einbruch

Kollegen

Matto erscheint

Sonntägliches Schattenspiel

Mattos Puppentheater

Ein chinesisches Sprichwort

Sieben Minuten

Fünfundvierzig Minuten

Das Lied von der Einsamkeit

Fußnoten

Kontakt zum Verlag

Wachtmeister Studer
Einer will nicht mehr mitmachen

Der Gefangenenwärter mit dem dreifachen Kinn und der roten Nase brummte etwas von »ewigem G’stürm«, – weil ihn Studer vom Mittagessen wegholte. Aber Studer war immerhin ein Fahnderwachtmeister von der Berner Kantonspolizei, und so konnte man ihn nicht ohne weiteres zum Teufel jagen.

Der Wärter Liechti stand also auf, füllte sein Wasserglas mit Rotwein, leerte es auf einen Zug, nahm einen Schlüsselbund und kam mit zum Häftling Schlumpf, den der Wachtmeister vor knapp einer Stunde eingeliefert hatte.

Gänge … Dunkle lange Gänge … Die Mauern waren dick. Das Schloss Thun schien für Ewigkeiten gebaut. Überall hockte noch die Kälte des Winters.

Es war schwer, sich vorzustellen, dass draußen ein warmer Maientag über dem See lag, dass in der Sonne Leute spazieren gingen, unbeschwert, dass andere in Booten auf dem Wasser schaukelten und sich die Haut braun brennen ließen.

Die Zellentüre ging auf. Studer blieb einen Augenblick auf der Schwelle stehen. Zwei waagrechte, zwei senkrechte Eisenstangen durchkreuzten das Fenster, das hoch oben lag. Der Dachfirst eines Hauses war zu sehen – mit alten, schwarzen Ziegeln – und über ihm wehte als blendend blaues Tuch der Himmel. Aber an der unteren Eisenstange hing einer! Der Ledergürtel war fest verknüpft und bildete einen Knoten. Dunkel hob sich ein schiefer Körper von der weiß gekalkten Wand ab. Die Füße ruhten merkwürdig verdreht auf dem Bett. Und im Nacken des Erhängten glänzte die Gürtelschnalle, weil ein Sonnenstrahl sie von oben traf.

»Herrgott!« sagte Studer, schoss vor, sprang aufs Bett – und der Wärter Liechti wunderte sich über die Beweglichkeit des älteren Mannes – packte den Körper mit dem rechten Arm, während die linke Hand den Knoten aufknüpfte.

Studer fluchte, weil er sich einen Nagel abgebrochen hatte. Dann stieg er vom Bett und legte den leblosen Körper sanft nieder.

»Wenn Ihr nicht so verdammt rückständig wäret«, sagte Studer, »und wenigstens Drahtgitter vor den Fenstern anbringen würdet, dann könnten solche Sachen nicht passieren. – So! Aber jetzt spring, Liechti, und hol den Doktor!«

»Ja, ja!« sagte der Wärter ängstlich und humpelte davon.

Zuerst machte der Fahnderwachtmeister künstliche Beatmung. Es war wie ein Reflex. Etwas, das aus der Zeit stammte, da er einen Samariterkurs mitgemacht hatte. Und erst nach fünf Minuten fiel es Studer ein, das Ohr auf die Brust des Liegenden zu legen und zu lauschen, ob das Herz noch schlage. Ja, es schlug noch. Langsam. Es klang wie das Ticken einer Uhr, die man vergessen hat aufzuziehen; Studer pumpte weiter mit den Armen des Liegenden. Unter dem Kinn durch, von einem Ohr zum andern, lief ein roter Streifen.

»Aber Schlumpfli!« sagte Studer leise. Er nahm sein Nastuch aus der Tasche, wischte sich zuerst selbst die Stirne ab, dann fuhr er mit dem Tuch über das Gesicht des Burschen. Ein Bubengesicht: jung, zwei dicke Falten über der Nasenwurzel. Trotzig. Und sehr bleich.

Das war also der Schlumpf Erwin, den man heut morgen in einem Krachen des Oberaargaus verhaftet hatte. Schlumpf Erwin, angeklagt des Mordes an Witschi Wendelin, Kaufmann und Reisender in Gerzenstein.

Zufall, dass man zur rechten Zeit gekommen war! Vor einer Stunde etwa hatte man den Schlumpf ordnungsgemäß im Gefängnis eingeliefert, der Wärter mit dem dreifachen Kinn hatte unterschrieben – man konnte getrost den Zug nach Bern nehmen und die ganze Sache vergessen. Es war nicht die erste Verhaftung, die man vorgenommen hatte, es würde auch nicht die letzte sein. Warum hatte man das Bedürfnis verspürt, den Schlumpf Erwin noch einmal zu besuchen?

Zufall?

Vielleicht … Was ist schon Zufall? … Es war nicht zu leugnen, dass man dem Schicksal des Schlumpf Erwin teilnahmsvoll gegenüberstand. Richtiger gesagt, dass man den Schlumpf Erwin lieb gewonnen hatte… Warum?… Studer in der Zelle strich sich ein paar Male mit der flachen Hand über den Nacken. Warum? Weil man keinen Sohn gehabt hatte? Weil der Verhaftete auf der ganzen Reise seine Unschuld beteuert hatte? Nein. Unschuldig sind sie alle. Aber die Beteuerungen des Schlumpf Erwin hatten ehrlich geklungen. Obwohl …

Obwohl der Fall eigentlich ganz klar lag. Den Kaufmann und Reisenden Wendelin Witschi hatte man am Mittwochmorgen mit einem Einschuss hinter dem rechten Ohr, auf dem Bauche liegend, in einem Walde in der Nähe von Gerzenstein aufgefunden. Die Taschen der Leiche waren leer … Die Frau des Ermordeten hatte behauptet, ihr Mann habe dreihundert Franken bei sich getragen.

Und am Mittwochabend hatte Schlumpf im Gasthof zum ›Bären‹ eine Hunderternote gewechselt … Am Donnerstagmorgen wollte ihn der Landjäger verhaften, aber Schlumpf war geflohen.

So war es eben gekommen, dass der Polizeihauptmann am Donnerstagabend den Wachtmeister Studer in seinem Büro aufgesucht hatte:

»Studer, du musst an die frische Luft. Morgen früh gehst du den Schlumpf Erwin verhaften. Es wird dir gut tun. Du wirst zu dick …«

Es stimmte, leider … Gewiss, sonst schickte man zu solchen Verhaftungen Gefreite. Es hatte den Fahnderwachtmeister getroffen … Auch Zufall?… Schicksal? …Genug, man war an den Schlumpf geraten, und man hatte ihn lieb gewonnen. Eine Tatsache! Mit Tatsachen, auch wenn sie nur Gefühle betreffen, muss man sich abfinden. Der Schlumpf! Sicherlich kein wertvoller Mensch! Man kannte ihn auf der Kantonspolizei. Ein Unehelicher. Die Behörde hatte sich fast ständig mit ihm beschäftigen müssen. Sicher wogen die Akten auf der Armendirektion mindestens anderthalb Kilo. Lebenslauf? Verdingbub bei einem Bauern. Diebstähle. – Vielleicht hat er Hunger gehabt? Wer kann das hinterdrein noch feststellen? – Dann ging es, wie es in solchen Fällen immer geht. Erziehungsanstalt Tessenberg. Ausbruch. Diebstahl. Wieder gefasst. Geprügelt. Endlich entlassen. Einbruch. Witzwil. Entlassen. Einbruch. Thorberg drei Jahre. Entlassen. Und dann hatte es Ruhe gegeben – zwei volle Jahre. Der Schlumpf hatte in der Baumschule Ellenberger in Gerzenstein gearbeitet. Sechzig Rappen Stundenlohn. Hatte sich in ein Mädchen verliebt. Die beiden wollten heiraten. Heiraten! Studer schnaubte durch die Nase. So ein Bursch und heiraten! Und dann war der Mord an dem Wendelin Witschi passiert …

Es war ja bekannt, dass der alte Ellenberger in seinen Baumschulen mit Vorliebe entlassene Sträflinge anstellte. Nicht nur, weil sie billige Arbeitskräfte waren, nein, der Ellenberger schien sich in ihrer Gesellschaft wohlzufühlen. Nun, jeder Mensch hat seinen Sparren, und es war nicht zu leugnen, dass die Rückfälligen sich ganz gut hielten beim alten Ellenberger … Und nur weil der Schlumpf am Mittwochabend eine Hunderternote im ›Bären‹ gewechselt hatte, sollte er den Raubmord begangen haben? … Der Bursche hatte das so erklärt: Es sei erspartes Geld gewesen, er habe es bei sich getragen …

Chabis1! … Erspart! … Bei sechzig Rappen Stundenlohn? Das machte im Monat rund hundertfünfzig Franken … Zimmermiete dreißig … Essen? – Zwei Franken fünfzig am Tag für einen Schwerarbeiter war wenig gerechnet. Fünfundsiebzig und dreißig macht hundertfünf, Wäsche fünf – Zigaretten, Wirtschaft, Tanz, Haarschneiden, Bad – Blieben im besten Falle fünf Franken im Monat. Und dann sollte er in zwei Jahren dreihundert Franken erspart haben? Unmöglich! Das Geld bei sich getragen haben? Psychologisch undenkbar. Solche Leute können kein Geld in der Tasche tragen, ohne es zu verputzen … Auf der Bank? Vielleicht. Aber nur so in der Brieftasche? …

Und doch, der Schlumpf hatte dreihundert Franken bei sich gehabt. Nicht ganz. Zwei Hunderternoten und etwa achtzig Franken. Studer sah das Einlieferungsprotokoll, das er unterzeichnet hatte:

»Portemonnaie mit Inhalt: 282 Fr. 25.«

Also … Es stimmte alles! Sogar der Fluchtversuch im Bahnhof Bern. Ein dummer Fluchtversuch! Kindisch! Und doch so begreiflich! Diesmal langte es ja für lebenslänglich …

Studer schüttelte den Kopf. Und doch! Und doch! Etwas stimmte nicht an der ganzen Sache. Vorerst war es nur ein Eindruck, ein gewisses unangenehmes Gefühl. Und der Fahnderwachtmeister fröstelte. Diese Zelle war kalt. Kam denn der Doktor nicht bald?

Wollte der Schlumpf eigentlich gar nicht aufwachen? … Ein tiefer Atemzug hob die Brust des Liegenden, die verdrehten Augen kamen in die richtige Stellung, und Schlumpf sah den Wachtmeister an. Studer fuhr zurück.

Ein unangenehmer Blick. Und jetzt öffnete Schlumpf den Mund und schrie. Ein heiserer Schrei – Schrecken, Abwehr, Furcht, Entsetzen … Viel lag in dem Schrei. Er wollte nicht enden.

»Still! Willst still sein!« flüsterte Studer. Er bekam Herzklopfen. Schließlich tat er das einzig Mögliche: Er legte seine Hand auf den lauten Mund …

»Wenn du still bist«, sagte der Wachtmeister, »dann bleib ich noch eine Weile bei dir, und du kannst eine Zigarette rauchen, wenn der Doktor fort ist. Hä? Ich bin doch noch zur rechten Zeit gekommen …« und versuchte ein Lächeln.

Aber das Lächeln wirkte auf den Schlumpf durchaus nicht ansteckend. Sein Blick wurde zwar sanfter, aber als Studer seine Hand vom Munde fortnahm, sagte Schlumpf leise:

»Warum habt Ihr mich nicht hängen lassen, Wachtmeister?«

Schwer, auf diese Frage eine richtige Antwort zu finden! Man war doch kein Pfarrer …

Es war still in der Zelle. Draußen tschilpten Spatzen. Im Hof unten sang ein kleines Mädchen mit dünner Stimme:

»O du liebs Engeli,

Rosmarinstengeli,

Alliweil, alliweil, blib i dir treu …«

Da sagte Studer, und seine Stimme klang heiser:

»Eh, du hast mir doch erzählt, dass du heiraten willst? Das Meitschi … es wird doch zu dir halten, oder? Und wenn du sagst, du bist unschuldig, so ist’s doch gar nicht sicher, dass du verurteilt wirst. Und du kannst dir doch denken, dass ein Selbstmordversuch die größte Dummheit gewesen ist, die du hast machen können. Das wird dir als Geständnis ausgelegt …«

»Es war doch kein Versuch. Ich hab wirklich …«

Aber Studer brauchte nicht zu antworten. Es kamen Schritte den Gang entlang, der Wärter Liechti sagte »Da drin ist er, Herr Doktor.«

 

»Scho wieder z’wäg?« fragte der Doktor und griff nach Schlumpfs Handgelenk. »Künstliche Atmung? Fein!«

Studer stand vom Bett auf und lehnte sich gegen die Wand.

»Ja, also«, sagte der Doktor. »Was machen wir mit ihm? Selbstgefährlich! Suizidal! Na ja, das kennt man. Wir werden eine psychiatrische Expertise verlangen … Nicht wahr?«

»Herr Doktor, ich will nicht ins Irrenhaus«, sagte Schlumpf laut und deutlich, dann hustete er.

»So? Und warum nicht? Naja, dann könnte man … Ihr habt doch sicher eine Zweierzelle, Liechti, in die man den Mann legen könnte, damit er nicht so allein ist … Geht das? Fein …«

Dann, leise, so, wie man auf dem Theater flüstert, jedes Wort verständlich: »Was hat er angestellt?«

»Gerzensteiner Mord!« flüsterte der Wärter ebenso deutlich zurück.

»Ah, ah«, nickte der Doktor bekümmert – so schien es wenigstens. Schlumpf drehte den Kopf, sah hinüber zum Wachtmeister. Studer lächelte, Schlumpf lächelte zurück. Sie verstanden sich.

»Und wer ist dieser Herr da?« fragte der Arzt. Das Lächeln der beiden brachte ihn in Verlegenheit.

Studer trat so heftig vor, dass der Doktor einen Schritt zurückwich. Der Wachtmeister stand steif da. Sein bleiches Gesicht mit der merkwürdig schma­len Nase passte nicht so recht zu dem ein wenig verfetteten Körper.

»Wachtmeister Studer von der Kantonspolizei!« Es klang aufrührerisch und bockig.

»So, so! Freut mich, freut mich! Und Sie sind mit der Untersuchung des Falles betraut?« Der blonde Arzt versuchte seine Sicherheit wiederzugewinnen.

»Ich hab ihn verhaftet«, sagte Studer kurz. »Übrigens, ich will gern noch eine Weile bei ihm bleiben bis er sich beruhigt hat. Ich hab Zeit. Der nächste Zug nach Bern fährt erst um halb fünf …«

»Fein!« sagte der Arzt. »Wunderbar! Tut das nur, Wachtmeister. Und heut Abend legt Ihr mir den Mann in eine Zweierzelle. Verstanden, Liechti?«

»Jawohl, Herr Doktor.«

»Lebet wohl miteinander«, sagte der Arzt und setzte den Hut auf. Liechti fragte, ob er schließen solle. Studer winkte ab. Gegen Haftpsychosen waren wohl offene Türen das wirksamste Gegenmittel.

Und die Schritte verhallten im Gang.

Umständlich setzte Studer den Strohhalm in Brand, den er aus der Brissago2 gezogen hatte, hielt die Flamme unter das Ende derselben, wartete, bis der Rauch oben herausquoll, und steckte sie dann in den Mund.

Dann zog er ein gelbes Päckli aus der Tasche, sagte: »So, nimm eine!« Schlumpf sog den ersten Zug der Zigarette tief in die Lungen. Seine Augen leuchteten. Studer setzte sich aufs Bett.

– Der Wachtmeister sei ein Guter, sagte der Schlumpf.

Und Studer musste sich zusammennehmen, um ein merkwürdiges Gefühl im Halse zu unterdrücken. Um es zu vertreiben, gähnte er ausgiebig.

»So, Schlumpfli«, sagte er dann. »Und jetzt. Warum hast du Schluss machen wollen?«

– Das könne man nicht so ohne weiteres sagen, meinte der Schlumpf. Es sei ihm alles verleidet gewesen. Und er kenne ja den Betrieb. Wenn man einmal verhaftet sei, dann käme man nicht mehr los. Vorbestraft! – Und jetzt werde es für lebenslänglich langen … Und das Meitschi, von dem der Wachtmeister gesprochen habe, das werde ja wohl auch nicht warten wollen. Es wäre schön dumm, wenn es das täte. – Wer denn das Meitschi sei? – Es heiße Sonja und sei die Tochter vom ermordeten Witschi. – Und ob die Sonja glaube, dass er den Mord begangen habe? – Das wisse er nicht. Er sei einfach fort, damals, als er gehört habe, man beschuldige ihn. – Wie das denn zugegangen sei, dass man gerade auf ihn verfallen sei? – Eh, wegen der Hunderternote, die er im ›Leuen‹ gewechselt habe. – Im ›Leuen‹? Nicht im ›Bären‹? – Es könne auch im ›Bären‹ gewesen sein. Natürlich im ›Bären‹! Der ›Leuen‹ sei die fürnehme Wirtschaft, da hätten sie einmal bei einem Anlass aufgespielt …

»Bei welchem Anlass? Und wer hat aufgespielt?«

»Bei einer Hochzeit. Der Buchegger hat Klarinette gespielt, der Schreier Klavier und der Bertel Bassgeige. Und ich Handharfe …«

»Schreier? – Buchegger? – Die – die kenn’ ich doch!« Studer runzelte die Stirn.

»Denk wohl!« sagte der Schlumpf, und ein kleines Lächeln entstand in seinen Mundwinkeln. »Der Buchegger hat oft von Euch erzählt und der Schreier auch. Ihr habt ihn vor drei Jahren geschnappt …«

Studer lachte. So, so! Alte Bekannte! – Und die hätten sich also zu einer Ländlerkapelle zusammengetan? »Ländlerkapelle?« Schlumpf tat beleidigt. »Nein! Eine richtige Jazzband. Der Ellenberger, unser Meister, hat uns sogar einen englischen Namen gegeben: ›The Convict Band‹! Das soll heißen: Die Sträflingsmusik …«

Der Bursche Schlumpf schien ganz zufrieden zu sein, von nebensächlichen Dingen zu sprechen. Aber wenn man vom Mord anfing, versuchte er abzubiegen.

Studer war einverstanden. Der Schlumpf sollte nur abschweifen, wenn er Freude daran hatte. Nicht drängen! Es kommt alles von selbst, wenn man genügend Geduld hat …

»Dann habt Ihr auch in den umliegenden Dörfern gespielt?«

»Sowieso!«

»Und ordentlich Geld verdient?«

»Zünftig …« Zögern. Schweigen.

»Also, Schlumpfli, ich will dir ja glauben, dass du den Witschi nicht umgebracht hast – um ihm die Brieftasche zu rauben. Dreihundert Franken hast du erspart gehabt?«

»Ja, dreihundert Erspartes …« Schlumpf blickte zum Fenster auf, seufzte, vielleicht weil der Himmel so blau war.

»Du hast also die Tochter vom Ermordeten heiraten wollen? Sonja hieß sie? Und die Eltern, die waren einverstanden?«

»Der Vater schon; der alte Witschi hat gesagt, ihm sei es gleich. Er war oft beim Ellenberger zu Besuch, und dort hat er mit mir gesprochen, der Ermordete, wie Ihr sagt … Er hat gemeint, ich sei ein ordentlicher Bursch, und wenn ich auch ein Vorbestrafter sei, man solle nicht zu Gericht sitzen, und wenn ich einmal die Sonja zur Frau hätte, dann würde ich keine Dummheiten mehr machen. Die Sonja sei ein ordentliches Meitschi … Und dann hat mir mein Meister die Obergärtnerstelle versprochen, weil doch der Cottereau schon alt ist und ich tüchtig bin …«

»Cottereau? Hat der die Leiche gefunden?«

»Ja. Er geht jeden Morgen spazieren. Der Meister lässt ihn machen, was er will. Der Cottereau stammt aus dem Jura, aber man merkt ihm das Welsche nicht mehr an. Am Mittwochmorgen ist er in die Baumschule gelaufen gekommen und hat erzählt, im Walde liege der Witschi, erschossen … Dann hat ihn der Meister gleich auf den Landjägerposten geschickt, um die Meldung zu machen.«

»Und was hast du gemacht, nachdem du vom Cottereau die Neuigkeit erfahren hast?«

Ach, meinte der Schlumpf, sie hätten alle Angst gehabt, weil der Verdacht auf sie fallen müsse, als Vorbestrafte. Aber den ganzen Tag sei es ruhig gewesen, niemand sei in die Baumschule gekommen. Nur der Cottereau habe sich nicht beruhigen können, bis ihn der Meister angeschnauzt habe, er solle mit dem G’stürm aufhören …

»Und am Mittwochabend hast du die hundert Franken im ›Bären‹ gewechselt?«

»Am Mittwochabend, ja …«

Stille. Studer hatte das Päckchen Parisiennes neben sich liegen lassen. Ohne zu fragen, nahm Schlumpf eine Zigarette, der Wachtmeister gab ihm die Schachtel Zündhölzer und sagte:

»Versteck beides. Aber lass dich nicht erwischen!«

Schlumpf lächelte dankbar.

»Wann habt Ihr Feierabend in der Baumschule?«

»Um sechs. Wir haben den Zehnstundentag.« Dann fügte Schlumpf eifrig hinzu: »Überhaupt, in der Gärtnerei kenn ich mich aus. Der Vorarbeiter auf dem Tessenberg hat immer gesagt, ich kann etwas. Und ich schaff’ gern …«

»Das ist mir gleich!« Studer sprach absichtlich streng. »Nach dem Feierabend bist du ins Dorf, in dein Zimmer. Wo hast du gewohnt?«

»Bei Hofmanns, in der Bahnhofstraße. Ihr findet das Haus leicht. Die Frau Hofmann war eine Gute … Sie haben eine Korberei.«

»Das interessiert mich nicht! Du bist in dein Zimmer, hast dich gewaschen. Dann bist du zum Nachtessen gegangen? Oder?«

»Ja.«

»Also: Sechs Uhr Feierabend.« Studer zog ein Notizheft aus der Tasche und begann nachzuschreiben. »Sechs Uhr Feierabend, halb sieben – viertel vor sieben Nachtessen …« Aufblickend: »Hast du schnell gegessen? Langsam? Hast du Hunger gehabt?«

»Nicht viel Hunger …«

»Dann hast du schnell gegessen und warst um sieben fertig …«

Studer schien in sein Notizbuch zu starren, aber seine Augen waren beweglich. Er sah die Veränderung in den Gesichtszügen des Schlumpf und unterbrach die Spannung, indem er harmlos fragte:

»Wie viel hast du für das Nachtessen bezahlt?«

»Eins fünfzig. Zu Mittag hab ich immer beim Ellenberger eine Suppe gegessen und Brot und Käs mitgebracht. Der Ellenberger hat nur fünfzig Rappen für den Teller Suppe verlangt, und z’Immis hat er umsonst gegeben, denn der Ellenberger war immer anständig mit uns, wir haben ihn gern gehabt, er hat so kohlig dahergeredet, er sieht aus, wie ein uralter Mann, hat keine Zähne mehr, aber …« dies alles in einem Atemzug, als ob der Redende vor einer Unterbrechung Angst hätte. Doch Studer wollte diesmal auf das Geschwätz nicht eingehen.

»Was hast du am Mittwochabend zwischen sieben und acht Uhr gemacht?« fragte er streng. Er hielt den Bleistift zwischen den mageren Fingern und blickte nicht auf.

»Zwischen sechs und sieben?« Schlumpf atmete schwer.

»Nein, zwischen sieben und acht. Um sieben warst du mit dem Nachtessen fertig, um acht hast du im ›Bären‹ eine Hunderternote gewechselt. Wer hat dir die dreihundert Franken gegeben?«

Und Studer blickte den Burschen fest an. Schlumpf drehte den Kopf zur Seite, plötzlich warf er sich herum, drückte die Augen in die Ellbogenbeuge. Sein Körper zitterte.

Studer wartete. Er war nicht unzufrieden. Mit kleinen Buchstaben schrieb er in sein Notizbuch: ›Sonja Witschi‹ und malte hinter die Worte ein großes Fragezeichen. Dann wurde seine Stimme weich, als er sagte:

»Schlumpfli, wir werden die Sache schon einrenken. Ich hab’ dich extra nicht gefragt, was du am Dienstagabend, also am Abend vor dem Mord, getan hast. Da hättest du mich doch nur angelogen. Und dann steht es sicher in den Akten, und ich kann auch deine Wirtin fragen … Aber sag mir noch: Was ist die Sonja für ein Meitschi? Ist sie das einzige Kind?«

Schlumpfs Kopf fuhr in die Höhe.

»Ein Bruder ist noch da. Der Armin!«

»Und den Armin magst du nicht?«

Dem habe er einmal zünftig auf den Gring gegeben, sagte Schlumpf und zeigte die Zähne wie ein knurrender Hund.

»Der Armin hat dir die Schwester nicht gönnen mögen?«

»Ja; und mit dem Vater hat er auch immer Krach gehabt. Der Witschi hat sich oft genug über ihn beklagt …«

»Soso … Und die Mutter?«

»Die Alte hat immer Romane gelesen …« (›die Alte‹, sagte der Bursche respektlos). »Sie ist mit dem Gemeindepräsidenten Aeschbacher verwandt, und der hat ihr den Bahnhofkiosk in Gerzenstein verschafft. Dort ist sie immer gehockt und hat gelesen, während der Vater hausiert hat … Nicht gerade hausiert. Er ist mit einem Zehnderli3 herumgefahren, als Reisender für Bodenwichse, Kaffee … Und das Zehnderli hat man ja auch gefunden, ganz in der Nähe, es stand an der Straße …«

»Und wo ist der alte Witschi gelegen?«

»Hundert Meter davon, im Wald, hat der Cottereau erzählt …«

Studer zeichnete Männlein in sein Notizbuch. Er war plötzlich weit weg. Er war in dem Krachen im Oberaargau, wo er den Burschen verhaftet hatte. Die Mutter hatte ihm aufgemacht. Eine merkwürdige Frau, diese Mutter des Schlumpf! Sie war gar nicht erstaunt gewesen. Sie hatte nur gefragt: »Aber er darf noch z’Morgen essen?«.

Ein kleines Mädchen in Gerzenstein, eine alte Mutter im Oberaargau … und zwischen beiden der Bursche Schlumpf, angeklagt des Mordes …

Es kam ganz darauf an, was für ein Untersuchungsrichter den Fall übernehmen würde … Man müsste mit dem Mann reden können. Vielleicht …

Schritte kamen näher. Der Wärter Liechti erschien in der Tür, und sein rotes Gesicht glänzte boshaft.

»Wachtmeister, der Herr Untersuchungsrichter will Euch sprechen.«

Und Liechti grinste unverschämt. Es war nicht schwer zu erraten, was das Grinsen zu bedeuten hatte. Ein Fahnder hatte seine Kompetenzen überschritten und wurde eingeladen, den fälligen Rüffel in Empfang zu nehmen …