Im Schoß der Familie

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Im Schoß der Familie
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Franziska Steinhauer



Im Schoß der Familie



Ein Katzmann-Krimi



Kriminalroman



Jaron Verlag





Franziska Steinhauer, in Cottbus lebende Autorin, ist bekannt für ihre psychologisch ausgefeilten Kriminalromane. Mit besonderem Geschick verknüpft sie eine spannende Handlung mit Lokalkolorit und Gesellschaftskritik. Zuletzt veröffentlichte sie «Zur Strecke gebracht» (2012, gemeinsam mit Wolfgang Spyra) sowie «Kumpeltod» (2013). Für die Krimireihe «Es geschah in Sachsen» des Jaron Verlags verfasste sie 2011 den ersten Band, «Katzmann und das verschwundene Kind». (

www.franziska-steinhauer.de

)



Originalausgabe



1. Auflage 2013



© 2013 Jaron Verlag GmbH, Berlin



1. digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH



Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.





www.jaron-verlag.de





Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin



ISBN 9783955520571



Ich bin in meinem Leben

 einigen Menschen begegnet,

 die mir sehr wichtig geworden

 sind und mir viel bedeuten.

 Nun möchte ich diese

 Gelegenheit gern nutzen,

 um mich bei einem von

 ihnen besonders zu bedanken:

 Vielen herzlichen Dank, Horst Bosetzky (-ky)!




Inhaltsverzeichnis





Cover







Titelseite







Impressum







PROLOG







EINS







ZWEI







DREI







VIER







FÜNF







SECHS







Es geschah in Sachsen







Es geschah in Berlin






PROLOG



FERDINAND stand am Fenster.



Immer weitere Droschken und Automobile fuhren vor, elegant gekleidete Damen und Herren entstiegen ihnen mehr oder weniger linkisch.



Sein Mund verzog sich verächtlich. Die lockt alle nur das Geld, dachte er schlecht gelaunt. Jeder will der nächste Stipendiat sein, an der Seite der von Weitershausens gesehen werden und in der Zeitung lesen, dass er Gast in diesem Hause war. Scheinheiliges Pack!



Die Herren trugen Frack und Zylinder. Alle schon nach der neuen Mode, breite Schultern, schmale Taille, stellte Ferdinand fest. Ihm selbst gefiel der Schnitt auch sehr gut. Sogar ein Hänfling wie er wirkte darin männlich.



Die Damen trugen in diesem Jahr nicht ganz bodenlang, aber versuchten sich trotz der Kälte im Balancieren auf hochhackigen Pumps.



«Was liegt denn bei dir um die Schultern?», rätselte er und drückte sich näher an die Scheibe. «Weißer Pelz als Cape – sollte das wirklich Hermelin sein? Wenn man zu den von Weitershausens geladen wird, trägt man das Teuerste, das der Schrank zu bieten hat, nicht wahr?»



Er hörte seine Mutter durch das Haus laufen. Hastig. Ein wenig wütend.



Alles sollte an diesem Abend perfekt sein. Ferdinand wusste, seine Eltern nahmen an, wenn der Abend wunderbar und harmonisch ablief, würden die Gäste dieses wohlige Gefühl auf alles übertragen, was mit dem Namen von Weitershausen zu tun hatte. Gerade jetzt war es wichtig, allen zu vermitteln, diese Familie sei glücklich. Heimar von Weitershausen würde dann ganz sicher in der neuen Regierung einen wichtigen Posten bekleiden können. Ferdinand seufzte. Er wusste, dass sein Vater vom Sessel des Ministers für Kultur träumte. Seine Mutter glaubte natürlich, ihr Mann besuche das Theater und die vielen Ballettveranstaltungen nur, um seinen Ruf als Kunstkenner und gebildeter Mäzen zu untermauern. Um was es ihm wirklich ging, ahnte sie wahrscheinlich keine Sekunde lang.



Aus dem Foyer drangen Stimmen zu ihm hinauf. Dunkle Männer- und exaltierte, übersteuerte Frauenstimmen.



«Ach, wir sind ja schon so gespannt darauf, wer in diesem Jahr von Ihrer Stiftung gefördert werden wird!»



«Wollen Sie nicht ein bisschen über den Glücklichen preisgeben?»



«Oh, Sie machen es aber auch immer geheimnisvoll! Sind denn die Kandidaten bereits vollzählig versammelt?»



«Wie schade, dass das Stipendium erst nach dem Essen verliehen wird. Die Ärmsten plagt dann bei jedem Bissen die Ungewissheit.»



«Ach, was für eine ausgesucht elegante Robe, meine Liebe! Schade, dass Ihnen die Farbe so gar nicht stehen will. Grün ist nicht für jedermann, das macht oft blass und lässt gerade blonde Menschen richtig krank aussehen.»



«Na, Gustav, der Anzug vom letzten Jahr ist dir wohl zu eng geworden? Tja, bei mir ist es ähnlich. Vielleicht sollten wir auch mal eine Fastenkur auf dem Weißen Hirsch einschieben?»



«Hast du auch gehört, dass Obst so gesund sein soll? Meine Frau schwört darauf, jetzt habe ich ständig so etwas auf meinem Teller. Und auch eigenartiges Grünzeug. Ich bin doch kein Rindvieh, zum Wiederkäuen habe ich gar keine Zeit. Immerhin leite ich eine Firma. Aber dafür fehlt Frauen eben das Verständnis. Na, wenigstens wird heute sicher gut aufgetischt.»



Der Sohn des Hauses trat ein Stück von der Scheibe zurück. «Diese Heuchler!», zischte Ferdinand und beobachtete, wie sich sein Atem an der kalten Scheibe niederschlug. «Dieses dekadente Pack!» Er ballte die Fäuste, schob sie in die Taschen seiner schwarzen Hose, zog sie sofort wieder heraus, damit sich keine unschönen Beulen bildeten.



Vor einer Stunde hatte der Gärtner zusammen mit dem Wachmann, der einen scharfen Hund führte, die Bettler von der Straße vertrieben. Großräumig. Damit die Reichen Dresdens durch den Anblick der abgerissenen Männer und Frauen nicht belästigt würden. Nicht, weil es den von Weitershausens peinlich gewesen wäre, ein Fest mit exotischen und teuren Speisen zu feiern, während fast achthunderttausend Menschen in Sachsen, darunter allein achtzigtausend Dresdner Mitbürger, ohne Arbeit waren und mitsamt ihren Familien hungern mussten.



Ferdinand seufzte und wandte sich ab. Ihm selbst war es zumindest unangenehm, dass man diese Leute verjagt hatte. Doch sein Vater meinte, wenn man erst damit anfinge, die Reste an die Armen zu verteilen, kämen immer mehr, und man selbst müsse sich durch ein Meer von Bettlern schieben, um das Haus verlassen zu können.



«Na, vielleicht hat er ja recht damit», murmelte Ferdinand und wappnete sich gegen das langweilige Geschwätz und die Eitelkeiten des bevorstehenden Abends.




EINS



«GERLINDE! Gerlinde!» Gundula von Weitershausen rauschte aufgeregt durch das Speisezimmer. «Wo steckst du denn? Siehst du denn nicht, dass die Käseplatte für den Ausklang noch fehlt? Und die Gästezimmer – sind die auch wirklich alle fertig? Gerlinde, nun komm schon her!»



Herr von Weitershausen eilte ihr nach, schlang seine muskulösen Arme um ihre Taille und raunte ihr beruhigend ins Ohr: «Sieh mal, die Gäste fühlen sich wohl. Alles ist bestens organisiert gewesen, allenthalben höre ich nur Lob für deine Vorbereitungen. Im Augenblick sind alle satt und zufrieden. In etwa einer Stunde verkünde ich den Namen des Glücklichen, der das diesjährige Stipendium bekommen wird, alle sind sehr gespannt. So soll es schließlich sein. Gleich kommt der Teil der Gäste, der nur zu Gespräch und Wein geladen ist, und ich bin sicher, auch der geht am frühen Morgen glücklich nach Hause.» Er drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und gesellte sich zu einer der größeren Gruppen, die sich gefunden hatten.



Einige der Herren folgten ihm ins Raucherzimmer, die anderen wechselten in die Bibliothek, in der zwar Wein, Champagner und andere Getränke, nicht aber der Käse bereitstanden.



Gerlinde sah und hörte von alldem nichts. Das Hausmädchen huschte durch den langen Flur im oberen Stockwerk und suchte nach einem Versteck. Familie von Weitershausen gibt ein Bankett, wie schön, dachte Gerlinde in heftig aufwallendem Trotz. Da soll die gnädige Frau eben mal selbst Hand anlegen. Natürlich war ihr klar, dass es Ärger geben würde, doch jetzt brauchte sie erst mal eine Pause, wollte einen Moment durchatmen. Danach würde sie an die Arbeit zurückkehren.



«Wo ist Gerlinde?», fauchte die Dame des Hauses die Köchin an, die erschrocken die Kelle auf den Boden scheppern ließ. «Nun pass doch auf! Wie kann man nur so tölpelhaft sein!»



«Gerlinde kommt sicher gleich zurück. Sie wollte nur schnell an die frische Luft. Die Kleine hat Kopfweh», erklärte die schwere Barbara und war dankbar dafür, dass es an der Tür schellte.



Frau von Weitershausen wirbelte herum und hastete in Richtung Entree.

 



Barbara bückte sich ächzend nach der Kelle und spülte sie gründlich ab. «Minestrone, ha! Früher hieß das Gemüsesuppe und hat auch so geschmeckt. Aber wer zahlt, darf eben auch festlegen, wie das, was gekocht wird, heißt.»



«Was ist denn hier los?» Der Hausdiener streckte neugierig seinen Kopf durch die Tür. «Alle aus dem Häuschen?»



«Und wie!» Barbara nickte aufgeregt. «Sind denn nun alle da?»



«Fast. Der Hof ist schon voller Fahrzeuge, ein Paar wird noch erwartet. Der Salon summt vom eifrigen Geplapper. Sieht so aus, als wären alle bester Laune.»



Die Köchin seufzte erleichtert. «Welche Farbe?» Dass sie damit die Farbe der teuren Roben, die die Damen trugen, meinte, wusste Karl, der eigentlich Willi hieß, auch wenn diesen Namen nur noch seine Frau für ihn benutzte.



«Pastellblau. Lagune, glaube ich, nennt man diesen Ton. Der einen steht’s, der anderen nicht.» Er trollte sich eilig, als wieder geklingelt wurde.



Gerlinde öffnete die Tür zu einem der Gästezimmer. Ein sonderbarer Geruch schlug ihr entgegen. Erst konnte sie ihn gar nicht zuordnen, doch ganz unbekannt war er ihr nicht, allerdings gehörte er eindeutig nicht hierher. Auf jeden Fall roch es unangenehm. Metallisch. Übelkeit erregend. Ein bisschen nach Metzgerei. Und feucht schien es in dem Raum auch zu sein. Ob jemand etwas auf dem Teppich verschüttet hatte?, überlegte sie besorgt. Hoffentlich keinen Rotwein, schossen ihre Gedanken alarmiert weiter, und sie beschloss, das Licht einzuschalten.



Was Gerlinde nun sah, war so unbeschreiblich, dass es dem Mädchen den Atem nahm. «O Gott! Wer tut denn so etwas?», hauchte sie nur. Das Beste wäre, sie löschte das Licht und würde die Tür leise hinter sich schließen, um niemanden zu stören. Das wäre vernünftig.



Samuel, Jakub, Schlomo und Chaleb waren wie üblich gemeinsam auf dem Weg in die Synagoge. Sie unterhielten sich leise, während sie ihre Frauen in Schlomos Wohnung bei Handarbeiten und Plausch wussten.



«In wenigen Tagen ist auch dieses Jahr vorüber», seufzte Samuel, «und es ist nichts besser geworden.»



«Nun, es kommt ein neues. 365 Tage zum Wandel in eine gute Zeit.» Chaleb kicherte verhalten.



«Mit Kurt von Schleicher wird sich auch nichts verbessern – eher im Gegenteil. Man hat das Gefühl, das ganze Land halte die Luft an und warte auf die Wahl.»



«Was, wenn die Wahl zu keinem eindeutigen Ergebnis führt? Das bringt doch nur neuen Streit.»



Die Gruppe ging gemächlich an der Elbe entlang. Die fast bodenlangen Mäntel hoch geknöpft, die Kragen bis zu den Ohren aufgestellt. Vereinzelt fielen Schneeflocken im Schwarz der Nacht.



«Ich wünschte, es wäre nicht so kalt. Manchmal kommt es mir vor, als zitterten sogar meine Knochen, weil sie derart frieren.»



«Das ist das Alter, Chaleb», neckte Samuel.



«Du denkst, der Tod greift schon nach mir? Ich fühle nicht den Dezember, sondern den Eishauch des Grabes? Nein, nein! Eine gute Weile will ich es schon noch mit euch aushalten.»



«Das sollst du auch, Chaleb», versuchte Schlomo die entstandene Missstimmung zu verscheuchen. Es fühlte sich plötzlich so an, als sei ein Fremder mit kaltem Blick zwischen die Freunde getreten. Er schüttelte sich gegen die Gänsehaut.



«Der Rabbi mag es nicht, wenn wir Scherze über das Sterben machen», erinnerte Schlomo die Gruppe, und so trotteten sie die nächsten Meter schweigend nebeneinanderher, unterquerten die Brücke in der Nähe des Albertinums. Die Elbe schwappte träge gegen die Mauer, die vier verharrten und sahen über die dunkle Fläche hinweg zum gegenüberliegenden Ufer.



«Die Elbe. Stellt euch nur vor, neulich träumte mir, ihr Wasser sei blutrot geworden. Wie in der Apokalypse. Und alle Fische trieben leblos darin, Bauch nach oben, blass und still. Nun, da bin ich hochgefahren in meinem Bett, war zittrig und heiß am ganzen Körper. Schließlich hatte mein Vater – möge seine Seele in Frieden ruhen – auch solche Dinge gesehen. Und oft genug wurden seine bösen Träume wahr!» Chaleb wirkte noch immer sehr beunruhigt. Der unerbittliche Wind fuhr in seinen langen Bart und zerrte kräftig daran.



«Ach Chaleb, man träumt schon mal schlecht», meinte Samuel und klopfte dem Freund aufmunternd auf die Schulter.



«Ist sie nicht wunderschön? Immer, wenn ich auf sie zuschreite, fällt mir ihre Schönheit und Anmut auf. Seht doch nur! Und wie warm das Licht zur Einkehr einlädt. Aller Zwist, aller Machloikes ist vergessen, ein jeder achtet den anderen, wie auch er selbst geachtet werden will.» Schlomo verhielt seinen Schritt, sah in Richtung Synagoge, breitete die Arme weit aus und schwärmte weiter: «Es ist wie nach Hause kommen. Niemand wird abgewiesen, jeder ist willkommen.»



Das imposante Gebäude am Hasenberg, das einer schutzbietenden Trutzburg glich, war nur in einem kleinen Bereich beleuchtet. Der sechseckige Turm prangte über dem dreigeschossigen Haus, und in einem der seitlichen Türme brannte ganz oben noch Licht.



«Ich will dir das ja nicht ausreden», murrte Chaleb, dem es gar nicht recht war, dass die anderen seinen bösen Traum so gleichgültig abgetan hatten. «Aber wenn wir uns jetzt nicht sputen, kommen wir zu spät zu unserem Gesprächskreis. Und dann kann von offenen Armen möglicherweise nicht mehr die Rede sein!»



Gerlinde starrte Mireille mit offenem Mund an. Das Hausmädchen war verwirrt. Was tat die junge Frau nur im Gästezimmer?, dachte es. Ihre Räume lagen doch am anderen Ende des Ganges, dort, von wo man einen wunderbaren Blick auf den Garten hat. Hier gehörte sie nicht hin. Gerlinde ging in die Hocke. Achtete darauf, nicht in die große Blutlache zu treten. Streckte ihre Hand nach Mireilles Arm aus, streichelte ihn sanft. Wie morgens, wenn sie die junge Frau aus tiefem Schlaf weckte. Obwohl Gerlinde unschwer erkennen konnte, dass sich das Wecken für Mireille erübrigt hatte. Für immer!



Mühsam rappelte sich das Hausmädchen auf, streifte sorgfältig seine Schuhe ab, um nichts von dem Grauen in den Flur zu tragen. Sie verließ das Zimmer so vorsichtig wie das einer schlafenden Kranken und ging mit steifen Knien hinunter in die Küche, um Barbara zu fragen, was nun geschehen sollte.



Die feiernden Menschen, das festlich geschmückte Haus – all das kam Gerlinde plötzlich unwirklich vor, fühlte sich falsch an. Sie durchquerte die Räume wie jemand, der ein Gespenst gesehen hatte, hielt schnurgerade auf den Hoheitsbereich der Köchin zu.



«Da bist du ja endlich! Und wie du aussiehst! Der Käse! Du hattest die Käseplatte vergessen. Mach dich auf Ärger mit der Gnädigen gefasst», empfing sie Barbara unwirsch.



Gerlinde setzte sich an den Tisch. Schwieg. Stand unvermittelt wieder auf, griff nach einem Küchenhandtuch und begann damit das Geschirr abzutrocknen. Schon der zweite Teller entglitt ihren bebenden Fingern und zerschellte mit Getöse auf dem Fußboden.



«Nun pass doch auf, du dummes Ding!», herrschte die Köchin sie an. «Was ist denn heute mit dir los?»



«Oben im grünen Zimmer liegt Mireille», erzählte das Mädchen emotionslos, als spräche es über einen Scheit Brennholz.



«Was tut sie denn da?», fragte Barbara begriffsstutzig zurück. «Sie hat doch eigene Räume.»



«Sie macht nichts. Gar nichts, weißt du? Tote sind eben so.»



«Tote?»



«Ja. Dass sie nicht mehr lebt, ist nicht zu übersehen.»



Die resolute Köchin stapfte los, um sich selbst ein Bild von der Situation zu machen. Die jungen Dinger reden manchmal wirres Zeug, wusste sie, da ist es besser nachzusehen, ehe ich die Herrschaft in Angst und Schrecken versetze. Außerdem ist nie auszuschließen, dass Gerlinde von dem Alkohol genascht hat, der heute großzügig ausgeschenkt wurde, drängte sich ihr ein neuer Verdacht auf. Doch hinter der Tür zum grünen Zimmer fand sie alles so vor, wie Gerlinde behauptet hatte. Was nun?



«Du arme Kleine! Erst stirbt die Mutter, der Vater reist ins Ausland – und nun stirbst du hier ganz allein. Nun, nicht ganz allein wohl. Was wolltest du hier eigentlich?»



Die Köchin beschloss, den Hausdiener in dieses schreckliche Geheimnis einzuweihen. Der werde schon wissen, was zu tun sei. Sie trat von hinten an ihn heran und flüsterte eindringlich: «Karl! Im grünen Zimmer liegt das gnädige Fräulein. Ich fürchte, es ist tot.»



Karls Augen sahen für einen Moment so aus, als wollten sie aus den Höhlen springen.



Barbara wich instinktiv einen Schritt zurück, wohl um nicht getroffen werden.



«Was? Fräulein Loliot ist tot? Das kann doch gar nicht wahr sein. Vorhin war sie doch noch bester Stimmung», antwortete er ungläubig.



Aus den anderen Räumen klangen Musik und das leichte Geplauder der Gesellschaft bis in die Küche. Für die drei Wissenden hatten diese Geräusche keinen fröhlich beschwingten oder gar beschwipsten Klang, sondern waren völlig unpassend. Eine surreale Szenerie. Während die wichtigsten Köpfe der Stadt hier feierten, kühlte oben, wenige Meter von der Gesellschaft entfernt, der Körper des Mündels der von Weitershausens langsam aus.



«Wie soll ich das den Herrschaften erklären?», lamentierte Karl. «Das Haus ist voller Gäste. Alle warten gespannt darauf, wer in diesem Jahr das Stipendium erhalten wird. Da kann ich doch unmöglich einfach nach der Polizei schicken. Obschon – in so einem Fall ist man wohl dazu genötigt.» Karl hob verzweifelt die Hände in die Luft.



«Ich glaube, ich weiß, was wir tun könnten», ließ sich unerwartet Gerlinde wieder vernehmen, die so lange geschwiegen hatte, dass die beiden anderen nun erschrocken zusammenfuhren.



«So?» Das klang drohend, und die Köchin sah auch so aus, wie sie sich mit in die Hüften gestemmten Fäusten und verkniffener Miene vor dem Mädchen in Positur schwang. «Was musstest du auch ins grüne Zimmer gehen? Ohne deine elende Neugier wären wir jetzt nicht in diesem Schlamassel!», fuhr sie Gerlinde ungerechterweise an.



Karl schob die Köchin beiseite und fragte sanft: «Was können wir denn tun, Gerlinde?»



«Der Doktor ist unter den Gästen. Sprich ihn an! Er wird dich unauffällig in den oberen Stock begleiten, er ist stets diskret, das liegt an seinem Beruf. Bring ihn zu der Toten! Er wird wissen, was zu tun ist.»



«Ein sehr vernünftiger Vorschlag!», lobte Karl, griff nach dem Tablett mit den vorbereiteten Getränken und brach zum Rauchsalon auf.



«Ich brauche mehr Licht!», forderte der Kommissar Fritz Ganter, der eine Stunde später neben der Leiche stand. «Wer hat sie gefunden?»



Aus dem Erdgeschoss dudelte noch immer Tanzmusik zu ihnen herauf. Unpassend, fast beleidigend. Plötzlich verstummte sie. Offensichtlich hatte endlich jemand das Grammophon ausgeschaltet. Doch die unheimliche Stille, die nun folgte, war nicht weniger belastend.



Gerlinde schob sich, von eiserner Köchinnenhand gestoßen, zögernd vor. «Ich.»



«Aha!»



«Als ich die Gästezimmer noch einmal kontrollieren wollte.»



«Und?»



«Nun, es war eindeutig, dass ich ihr nicht mehr helfen konnte. Ihr Arm war schon kühl. Außerdem …» Gerlinde wies anklagend auf das Heft des Messers, das sich wie ein Fleck vom weißen Mieder des Opfers abhob. Im hellen Licht der Lampen war nun auch der große Blutfleck gut zu erkennen. Ausgehend von der Stelle auf dem Mieder, hatte er sich als riesige Lache neben und unter dem zarten Fräulein ausgebreitet. Du meine Güte, dachte Gerlinde unwillkürlich, das kriege ich nie mehr aus dem Teppich raus.



Fritz Ganter machte sich ganz andere Sorgen. Er sah in die Runde und erkannte lauter bekannte Gesichter. Dresdens Prominenz war hier versammelt, nur gehobene Gesellschaft. Warum schickt man ausgerechnet mich zu diesem Fall?, fragte er sich entmutigt. Ich bewege mich nur ungeschickt in solchen Kreisen. «Als Sie sahen, dass es einen Mord gegeben hatte, was taten Sie dann?», erkundigte er sich tapfer weiter.



Die Versammelten stöhnten auf. Ein Mord! Ungeheuerlich!



«Ich schloss die Tür hinter mir und ging in die Küche, um es der Köchin zu erzählen. Danach hat der Hausdiener den Arzt der Familie …» Das Mädchen verstummte.



Der Tatortphotograph drängte sich durch die Versammelten, stieß mit seinem Stativ einige der Damen und Herren zur Seite. «Entschuldigung, ich muss hier durch!» Während Ganter ungerührt das Gespräch fortsetzte, begann der Mann seine Vorrichtung aufzubauen.



«Hm. Wann wurde Fräulein Loliot zum letzten Mal gesehen?



Hat jemand bemerkt, wann sie sich von der Gesellschaft entfernt hat?», versuchte Ganter einen professionellen Vorstoß auf ungefährlichem Gebiet.



Allgemeines Diskutieren setzte ein. Nach ausführlichem Hin und Her kam man überein, dass die junge Frau nach dem Wechsel von der Tafel in die Bibliothek nicht mehr in der Runde der Damen gesehen wurde.

 



Ein junger Mann drängte sich zwischen den Leibern hindurch und sank nach einem Blick auf die Tote schluchzend gegen den Türrahmen. Seine Schultern zuckten wild. Er barg sein Gesicht in den Unterarmen und ächzte leise den Namen des Opfers.



«Und wie ist Ihr Name?», erkundigte sich Ganter selbst für seine Ohren bemerkenswert unfreundlich. Er hatte eigentlich Mitgefühl in seine Stimme legen wollen – das war gründlich fehlgeschlagen.



«Das ist der Sohn des bekannten Lyrikers Franz Koch», zischte ihm Gerlinde hastig zu. «Xaver Koch.»



«Wie soll ich ihn erkennen können? Er sieht den Türrahmen an!», patzte Ganter zurück, dem allerdings weder Franz Koch noch dessen Sohn ein Begriff waren.



Der Photograph hatte inzwischen sein Stativ direkt über dem Körper der Toten in Position gebracht und die Kamera oben im Gestänge befestigt. Jetzt sah er sich suchend im Raum um, nahm ein Fußbänkchen und stellte es neben die dünnen Metallbeine, die nun an der Seite der jungen Frau auf dem Teppich standen, kletterte hinauf und richtete die Linse ein. Danach schoss er das erste Bild.



Die Gastgeberin schluchzte, dem Herrn des Hauses standen Tränen in den Augen, der ganze Flur war erfüllt von eifrigem Getuschel. Dem Stimmengewirr entnahm Ganter, dass man sich nun dem Vater der Getöteten widmete.



«Der arme Mann! Erst stirbt ihm die Frau, und nun ermordet jemand die Tochter. Wie tragisch», übernahm eine resolute Stimme die Einleitung, und schnell stimmten alle in das Jammern und Wehklagen ein.



«Er überlässt sie der Pflege durch den Freund, um sie vor Unbill zu schützen, und dann …»



«Er wird untröstlich sein, wenn er davon erfährt.»



«Was für ein schreckliches Schicksal! Alle Lieben verloren …»



«Wann er wohl davon hören mag? Ist er nicht irgendwo in Afrika?»



«Wie kann man jemanden eine solche Nachricht schonend beibringen?»



«Er hatte so große Pläne mit Mireille …»



Und dann übertönte die Stimme des Dichtersohnes alle anderen: «Ich habe sie so geliebt! Alles Glück hat mich für immer verlassen! Ohne sie kann ich nicht weiterleben!» Er taumelte in Richtung Treppe, wurde von vielen Händen aufgehalten und sank schließlich auf den Stufen erneut in sich zusammen.



Auch das noch, stöhnte der Ermittler innerlich auf. Vater im Ausland, das Haus voller Gäste und ein heulender Liebestoller – das wird ja immer besser!



«Jemand muss Franz Koch informieren. Er soll ihn abholen kommen, sonst tut er sich am Ende tatsächlich noch etwas an. Er ist hoffnungslos romantisch veranlagt, will mir scheinen!», fuhr der Hausherr dazwischen, und Karl eilte zur Haustür, um dem Lyriker einen Wagen zu senden.



Ganter erkannte, dass er nun eingreifen musste. «Herr von Weitershausen, ich brauche einen ruhigen Raum, in dem ich mich mit Ihren Gästen unterhalten kann. Dieses Zimmer wird verschlossen, den Schlüssel nehme ich an mich, und ein Beamter wird davor Posten beziehen. Wo kann ich mit Ihren Gästen sprechen?» Fritz Ganter legte eine Extraportion Autorität in seine Stimme.



Während Gerlinde dem Ermittler den Schlüssel reichte, kam ein uniformierter Beamter hinzu, der bisher dafür Sorge getragen hatte, dass die Gesellschaft auf dem Flur blieb und nicht in das Mordzimmer drängen konnte. «Jürgen Brummler», stellte er sich knapp vor und bezog sofort steif seinen Platz direkt neben der Tür.



«Sie soll einfach so da liegen bleiben? Die ganze Nacht?», empörten sich einzelne weibliche Stimmen.



«Unser Arzt wird sie zu gegebener Zeit zur Leichenschau abholen», verkündete Ganter ruppig und scherte sich diesmal nicht um das protestierende Stöhnen.



«Gerlinde wird Sie ins Speisezimmer führen. Dort sind Sie bei Ihren Gesprächen ungestört», erklärte von Weitershausen und gab dem Hausmädchen ein Zeichen. «Ich denke, der Tisch ist bereits abgeräumt, und andere Spuren unseres Festes muss ich Sie bitten zu übersehen. Es war ein glücklicherer Ausgang geplant», sagte der Gastgeber bitter. «Versammeln Sie sich doch bitte alle in der Bibliothek. Auf diesen Schock brauchen wir eine kräftige Stärkung», forderte er dann lauter, machte eine raumgreifende Armbewegung, und artig setzte sich die Gästeschar in Bewegung. Eine mitleidige Seele klaubte den Sohn des Lyrikers von den Stufen und trug ihn davon.



«Herr von Weitershausen, ich würde die Gespräche gern mit Ihnen beginnen», erklärte Ganter, der gleichzeitig versuchte zu ignorieren, dass ihm schon bei diesen Worten der Schweiß ausbrach. Wie sollte das erst während der Befragung werden?



«Gut.» Von Weitershausen gab sich entschieden aufklärungsbereit. «Wenn Sie nur erlauben, dass ich zuvor die Gäste mit dem Notwendigsten versorgen lasse, stehe ich Ihnen sofort zur Verfügung.»



Ganter nickte nur. Was blieb ihm anderes übrig?



«Seit wann lebte Mireille Loliot in Ihrem Haushalt?»



«Seit mehr als einem Jahr. Mein guter Freund, Jean Loliot, reiste in wichtigen geschäftlichen Angelegenheiten ins Ausland. Seine Firma produziert leistungsstarke Motoren und Antriebssysteme. Er ließ seine Tochter in unseren Händen zurück.» Der Hausherr barg für einen Augenblick sein Gesicht in den auffallend großen Händen, schluchzte trocken auf und atmete mehrfach tief durch. In einer Geste der Verzweiflung strich er sich die schweißfeuchten Haare aus der Stirn, dann sah er Ganter mit sengendem Blick an. «Ich weiß gar nicht, wie ich ihm je wieder unter die Augen treten kann – nachdem ich auf so entsetzliche Weise versagt habe.»



«Warum nahm er seine Tochter nicht mit auf die Reise?», hakte Ganter nach, ohne auf die Äußerung von Weitershausens zu reagieren.



«Mit Mireilles Gesundheit stand es nach dem Tod ihrer Mutter nicht zum Besten. Das Mädchen war schwach, ihre Konstitution angegriffen. Der Hausarzt der Familie riet Jean dringend davon ab, ihr die Strapazen einer solch abenteuerlichen Reise zuzumuten.» Er schluchzte erneut. «Doch nun sieht es so aus, als wäre es allemal besser für das Mädchen gewesen, ihren Vater zu begleiten!»



«Was kann Fräulein Loliot im Gästezimmer gewollt haben? Fühlte sie sich vielleicht nicht wohl?»



«Doch. Mireille genoss solche Empfänge immer von ganzem Herzen. Sie liebte es, Menschen zu treffen, war bester Laune. Sie war sehr gebildet, für ihr Alter verblüffend belesen und auch noch ausgesprochen attraktiv. Ihre Anmut, ihr Liebreiz verzauberten die Gäste. O Gott!» Jetzt konnte der Hausherr die Tränen nicht länger zurückhalten.



Fritz Ganter schwieg, während sein Gegenüber um Fassung rang. Nicht aus gesprächstaktischen Gründen, sondern weil er schlicht nicht wusste, wie er auf diesen emotionalen Ausbruch reagieren sollte. Seinem täglichen Umgang entsprach mehr der rauhe Handwerker, der einfache Mann von der Straße oder der arbeitslose und entwurzelte Kriegsheimkehrer, der verwirrt nach einem neuen Einstieg ins Leben suchte. Ratlos strich Ganter sich übers Kinn, knetete es, streichelte die Stoppeln gegen den Strich. «Mireille Loliot muss die Gesellschaft nach dem Dessert und vor der Ankunft in der Bibliothek verlassen haben. Hat sie jemand aus dem Raum begleitet?»



Heimar von Weitershausen putzte sich die Nase, straffte den Rücken und warf Ganter einen vernichtenden Blick zu. «Dies ist ein offenes Haus! Wir saßen in entspannter Runde beim Essen, erwarteten die Gäste, die danach zu einer kleinen Feier dazustoßen sollten. Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass ich jeden meiner Gäste ständig im Auge behalte! Wenn Mireille von jemandem begleitet werden wollte, um sich zum Beispiel im Garten die Füße zu vertreten, wäre das allein ihre Entscheidung gewesen! Ich unterstelle doch niemandem unlauteres Benehmen!» Empörung sprach aus seiner Haltung, Wut aus den Augen, die nur Sekunden zuvor in Tränen zu schwimmen schienen.



«Sie missverstehen mich. Mich interessiert, ob ihr jemand folgte. Ungebeten.»



Darüber dachte Heimar von Weitershausen lange nach. Dann formulierte er sorgfältig und mit Bedacht: «Retrospektiv glaube ich mich daran erinnern zu können, dass ich Xaver Koch, den Sohn des Lyrikers Franz Koch, auch habe aus dem Raum gehen sehen. Zumindest stieß er erst mit Verspätung zu uns im Rauchsalon.»



Der junge Mann wirkte auf Ganter, als habe er einmal beobachtet, wie ein wahrhaft Trauernder sich gebärdet, und spiele diese Szene jetzt theatralisch nach. Bühnenreif,