Intelligenztests

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UTB 3027

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vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich


Prof. Dr. Franzis Preckel lehrt an der Universität Trier und leitet die Abteilung für Hochbegabtenforschung und -förderung.

Dipl.-Psych. Matthias Brüll ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter in dieser Abteilung.

Lektorat / Redaktion im Auftrag des Ernst Reinhardt Verlages: Ulrike Auras, München

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

UTB-ISBN 978-3-8252-3027-2 (Print), 978-3-8385-3027-7 (E-Book) ISBN 978-3-497-2027-0

ISBN 978-3-838-53027-7 (E-Book)

© 2008 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Reihenkonzept und Umschlagentwurf: Alexandra Brand

Umschlagumsetzung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: Arnold & Domnick, Leipzig

Druck: Friedrich Pustet, Regensburg

ISBN 978-3-8252-3027-2 (UTB-Bestellnummer)

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Titel Impressum Einleitung 1 - Intelligenz – Theorien sowie differential- und entwicklungspsychologische Aspekte 2 - Psychometrische Tests – Messmethodische Grundlagen, Gütekriterien und Auswertungsaspekte 3 - Intelligenztests – Geschichte, Anwendungsmöglichkeiten und Korrelate 4 - Aktuelle Testverfahren 5 - Ein Anwendungsbeispiel Anhang Sachregister

Einleitung

Für viele Lebensbereiche, insbesondere für Ausbildung und Beruf, gilt Intelligenz als Schlüsselmerkmal für Erfolg. Entsprechend lebendig ist die Forschung zu diesem Thema (Intelligenz ist das in der Psychologie am besten untersuchte Persönlichkeitsmerkmal!). Und auch das öffentliche Interesse ist groß. Man denke hier beispielsweise an die Einschaltquoten zu Fernsehsendungen, in denen sogenannte IQ-Tests durchgeführt werden. Docherhält manhierbei wirklich einen ernstzunehmenden Messwert der Intelligenz – einen sogenannten Intelligenzquotienten (IQ)? Nach der Lektüre dieses Buches wird klar sein, dass solche Fernsehtests nicht als seriöse IQ-Tests anzusehen sind.

In diesem Buch geht es explizit um die Messung der Intelligenz mittels Tests; diese Herangehensweise wird auch als psychometrischer Ansatz bezeichnet. Der psychometrische Ansatz ist in der Differentiellen Psychologie verortet, welche sich mit Unterschieden zwischen Personen beschäftigt. Die Erforschung von Unterschieden zwischen Menschen, insbesondere wenn es um ein in der Regel wertgeschätztes Merkmal wie das der Intelligenz geht, ist ein brisantes, aber nicht neues Thema: Erste Ansätze der Intelligenzmessung wurden bereits im antiken China in der Han-Dynastie dokumentiert. Eine differentielle Sicht auf die Intelligenz spiegelt sich zudem in unserem Alltagsverständnis wider. Wenn wir zum Beispiel sagen „Theo ist ein schlauer Kerl“, dann impliziert dies bereits einen interindividuellen Vergleich. Wir glauben, dass Menschen sich in ihrer Intelligenz unterscheiden, auch wenn es uns schwer fällt, genau zu spezifizieren, was diese Unterschiede ausmacht und wie diese zu erfassen sein sollen. Und genau dieser Punkt, die Natur oder die Art der Unterschiede zu beschreiben, zu erklären und messbar zu machen, ist Aufgabe der Wissenschaft.

Im ersten Kapitel dieses Buches werden wir uns daher an den Intelligenzbegriff aus einer wissenschaftlichen Perspektive annähern. Es schafft zudem mit Ausführungen zur Anlage / Umwelt-Debatte, zu Fragen der Intelligenzentwicklung und zu Geschlechterunterschieden in der Intelligenz die Voraussetzungen dafür, dass die Leserin und der Leser einordnen können, was IQ-Tests überhaupt leisten können und was eben auch nicht. Das zweite Kapitel vermittelt dann wichtige Grundlagen zum Thema Tests, bevor es im dritten Kapitel spezifisch um den IQ und Intelligenztests geht. Eine Auswahl aktueller Verfahren wird im vierten Kapitel vorgestellt. Das letzte Kapitel schließlich dokumentiert ein Anwendungsbeispiel. Hier wird anhand eines konkreten Falls aus der Praxis aufgezeigt, welche Fragen beim Einsatz von Intelligenztests auftreten können und wie mit ihnen zu verfahren ist.

An dieser Stelle kann auch schon vorweggenommen werden, dass das Thema Intelligenz und dessen Messung nicht nur für viele Berufsgruppen (z. B. Psychologinnen und Psychologen, Lehrkräfte oder Pädagoginnen und Pädagogen) höchst relevant ist, sondern auch schon für Studentinnen und Studenten. Studierende der Psychologie und wahrscheinlich auch der Bildungswissenschaften begegnen den Themen, die in diesem Buch angesprochen werden, in ihrem Studium mit Sicherheit. Aber auch für Studierende anderer Fächer können die Inhalte dieses Buches höchst relevant und interessant werden. Man bedenke hier zum Beispiel, dass manche Universitäten in Zeiten von Studiengebühren ernsthaft überlegen, Studienstipendien auf der Basis von Intelligenztestergebnissen zu vergeben.

Bevor wir nun jedoch ins Thema einsteigen, möchten wir uns an dieser Stelle herzlich bei Frau Dipl.-Psych. Tanja Gabriele Baudson und bei Frau Dipl.-Psych. Sonja Valerius für ihre Unterstützung bei der Erstellung des Abschnitts „Geschlechterunterschiede“ und des vierten Kapitels bedanken. Auch danken wir den Studierenden aus unseren Seminaren im Wintersemester 2006 / 07 für Anregungen zum Inhalt dieses Buches sowie Frau Nordstrand und Herrn Saretzki für Anmerkungen zum Manuskript. Unser Dank gilt zudem Frau Heike Beewen für ihre Hilfe bei der Manuskripterstellung.

Franzis Preckel, Matthias Brüll

Trier, im Mai 2008

1

Intelligenz – Theorien sowie differential- und entwicklungspsychologische Aspekte

Auf die einfache Frage „Was ist Intelligenz?“ (lat. intellectus: Erkenntnis, Einsicht) wird man heute wohl mehr Antworten als je zuvor erhalten (Stern / Guthke 2001). Hier ein paar Beispiele:

Definition

Intelligenz ist…

… das Ensemble von Fähigkeiten, das den innerhalb einer be-

stimmten Kultur Erfolgreichen gemeinsam ist (Hofstätter 1957)

… die Fähigkeit zur Erfassung und Herstellung von Bedeutungen,

Beziehungen und Sinnzusammenhängen (Wenzl 1957)

… die personale Fähigkeit, sich unter zweckmäßiger Verfügung über

Denkmittel auf neue Forderungen einzustellen (Stern 1950)

Worin liegt diese Definitionsvielfalt begründet? Verantwortlich dafür sind einige Besonderheiten des Intelligenzbegriffs: Zunächst einmal ist Intelligenz ein Konstrukt, also ein theoretischer Begriff. Zudem wird Intelligenz auch als Disposition verstanden, als Persönlichkeitsmerkmal, in dem sich Personen voneinander unterscheiden. Dispositionen werden als Tendenz eines Individuums umschrieben, unter bestimmten Bedingungen (Situationen) ein bestimmtes Verhalten zu zeigen. Diese Tendenz ist natürlich nicht direkt beobachtbar – beobachtbar ist nur das Verhalten einer Person in bestimmten Situationen.

Die Intelligenz einer Person kann und muss daher aus dem Verhalten der Person in bestimmten Situationen erschlossen werden. In der Regel betrachtet man hier Leistungssituationen, also solche Situationen, zu denen Kriterien für erfolgreiches Handeln definiert werden können. Es gibt eine Vielzahl an möglichen Leistungssituationen und es kann nicht abschließend festgelegt werden, welche davon für intelligentes Verhalten relevant sind und welche nicht. Daher ist Intelligenz ein offenes Konstrukt, das ständig weiterentwickelt wird.

 

Kernaussage

Intelligenz kann somit nicht durch Einzeldefinitionen beschrieben und auch nicht durch einen „Einheitstest“ erfasst werden.

Wie schaffen es nun Persönlichkeitspsychologen, trotz dieser Offenheit des Intelligenzbegriffs über Intelligenz zu sprechen? Wie wird die Bedeutung von Intelligenz festgelegt? Dies geschieht durch sogenannte Zuordnungsregeln (Brocke / Beauducel 2001). Das Besondere an Zuordnungsregeln ist, dass die Zuordnung eines bestimmten Verhaltens zu einem Persönlichkeitsmerkmal immer nur für eine bestimmte Situationsklasse vorgenommen wird – für andere Situationsklassen können dann weitere Zuordnungsregeln eingeführt werden. So werden offene Konstrukte immer leistungsfähiger und breiter.

Hierfür ein Beispiel aus der Geschichte der Intelligenztestung: Am Anfang der wissenschaftlichen Erforschung der Intelligenz hat man vorwiegend Reaktionszeiten und die Wahrnehmungsfähigkeit als Situationsklasse verwendet, um eine Abschätzung der Intelligenz vorzunehmen (siehe auch in Kapitel 3 den Abschnitt „Geschichte der Intelligenzmessung“). Dies wurde dann später kritisiert und einige Forscher forderten, als Indikator für Intelligenz komplexere Aufgabenstellungen zu verwenden, beispielsweise zum logischen Denken oder Sprachverständnis. Heute weiß man, dass sowohl einfache Aufgaben zu Reaktionszeiten oder zur Wahrnehmungsfähigkeit als auch komplexeres Aufgabenmaterial Intelligenzschätzungen erlauben, aber eben unterschiedliche Aspekte des Intelligenzkonstruktes erfassen.

Liegen nun solche unterschiedlichen Situationsklassen vor, kann man sie durch theoretische Aussagen miteinander verbinden. So entstehen Intelligenztheorien:

„…die einzelnen Ansätze [stellen damit] verschiedene Perspektiven der Betrachtung dar, mit jeweils eigenständiger Wertigkeit von Theorien, Methoden und Befunden; die Verschiedenheit ist solange für sich selbst von Wert, wie sie gewährleistet, daß alle Facetten des Phänomenbereiches erfaßt und spezifische Einsichten gefördert werden. Am (fernen) Ende dieses Forschungsprozesses – und nicht schon am Anfang – wird, so steht zu hoffen, eine integrierte Theorie der Intelligenz stehen und vermutlich Aufschluß über die Arbeitsweise derjenigen Formation liefern, die ihr zugrunde liegt: dem Gehirn (Haier, 1990)“ (Amelang 1995, 252).

Im folgenden Abschnitt stellen wir eine Auswahl der wichtigsten Intelligenztheorien und -modelle vor. Anschließend wird es um die Fragen gehen, ob Intelligenz eher vererbt oder erworben ist und wie sich die Intelligenz über die Jahre hinweg entwickelt. Am Ende dieses Kapitels wollen wir der Frage nachgehen, ob es ein klügeres Geschlecht gibt und wenn ja, welches das ist. Insgesamt vermittelt dieses Kapitel damit grundlegendes Wissen zum Konstrukt der Intelligenz.

Intelligenztheorien und -modelle

Viele Leserinnen und Leser werden sich vielleicht fragen, ob man für die praktische Anwendung von IQ-Tests überhaupt Kenntnisse über die verschiedenen Intelligenztheorien und -modelle benötigt. Denn ist es in der Praxis nicht eher so, dass das Wissen um dahinter stehende Theorien zwar nicht schadet, es aber für den alltäglichen Gebrauch nicht zwingend notwendig ist? Die Antwort darauf fällt eindeutig aus:

Kernaussage

Das Wissen um die Theorien und Modelle der Intelligenz ist unabdingbar für eine fachgerechte praktische Anwendung von Intelligenztests!

Warum ist das so? Auch wenn bei vielen Intelligenztests am Ende ein Intelligenzquotient, also der bekannte IQ, steht, bedeutet dieser IQ-Wert je nach Testverfahren und zugrunde liegender Intelligenztheorie jeweils etwas anderes. Um diesen IQ-Wert richtig interpretieren zu können, muss man die theoretischen Konzepte kennen und wissen, nach welchem Modell die Testaufgaben ausgewählt wurden. Dieses Hintergrundwissen erklärt dann auch diskrepante Ergebnisse verschiedener Tests bei ein und derselben Testperson. In der Praxis steht man nämlich nicht selten vor dem „Problem“, dass bei einer Testperson zwei unterschiedliche Intelligenztests zum Einsatz kamen, die unterschiedliche IQ-Werte lieferten (Kapitel 5). Unter anderem deswegen sollte in jedem guten Testhandbuch beschrieben sein, welche Theorie dem Test zugrunde liegt und wie sich daraus die Testaufgaben ableiten.

Man sollte zudem wissen, dass kein Test alle Facetten der Intelligenz erfasst. Vielmehr messen die einzelnen Verfahren lediglich ausgewählte Fähigkeiten. Dies ist im Übrigen ein Grund dafür, dass verschiedene Intelligenztests im Allgemeinen nur moderat miteinander korrelieren.

Hier werden nun einige der wichtigsten bzw. einflussreichsten Intelligenzmodelle und -theorien dargestellt, welche im weitesten Sinne auch als Grundlage für die Konstruktion von IQ-Tests benutzt wurden. Wer sich einen umfassenderen Überblick über vorhandene Modelle verschaffen möchte, findet am Ende dieses Abschnittes Tipps für weiterführende Literatur.

Zwei-Faktoren- bzw. Generalfaktor-Theorie von Spearman

Der Brite Charles Edward Spearman (1863 – 1945) publizierte im Jahr 1904 im American Journal of Psychology einen einflussreichen Artikel mit dem Titel „‘General Intelligence’, Objectively determined and measured“. Mit dieser und späteren Arbeiten führte er die Zwei-Faktoren-Theorie in die Literatur ein. Damit war eine der einflussreichsten Ideen der Psychologie publiziert – die der allgemeinen Intelligenz.

Bei seinen Forschungen beobachtete Spearman, dass die Ergebnisse, die die Testpersonen in sehr unterschiedlichen Intelligenztests erzielten, positiv miteinander korrelierten. Wer also bei einem Test gut abschnitt, erreichte mit großer Wahrscheinlichkeit auch bei einem anderen Test zur Messung der Denkfähigkeiten einen guten Wert. Spearman schloss daraus auf eine gemeinsame Quelle zur Erklärung dieser Zusammenhänge: Die allgemeine Intelligenz. Im Englischen wird dieser erklärende Faktor, abgeleitet von general intelligence, auch g-Faktor oder kurz g genannt (daher auch Generalfaktor-Theorie). Inhaltlich ist g schwer zu fassen. Nach Jensen (1998) kann g „[…] am ehesten als Destillat der gemeinsamen Quelle interindividueller Leistungsunterschiede in Denktests verstanden werden, unabhängig von deren jeweiligen Eigenheiten wie Inhaltsklasse, benötigte Fertigkeiten oder Strategien etc. In diesem Sinne kann g grob mit dem Prozessor eines Computers verglichen werden“ (74; eigene Übersetzung).

Spearman machte außerdem die Beobachtung, dass die einzelnen Ergebnisse bei unterschiedlichen Tests zwar alle positiv miteinander korrelierten, dass dieser Zusammenhang jedoch nicht perfekt war. Das heißt, manche Leistungen hingen sehr eng mit anderen zusammen, wieder andere zeigten jedoch schwächere Zusammenhänge. Um diesen Umstand zu erklären, nahm er für die einzelnen Testverfahren spezifische Faktoren (abgekürzt: s) an.

Die Leistung in einem Intelligenztest oder in einer Intelligenztestaufgabe sah Spearman somit immer durch zwei Faktoren bedingt (daher auch Zwei-Faktoren-Theorie): Zum einen durch den g-Faktor, der nach Spearman generell jedes Testergebnis beeinflusst und so die positiven ↑ Korrelationen zwischen unterschiedlichen Intelligenztests bzw. Testaufgaben bedingt. g ist bei jeder Aufgabe, jedoch in unterschiedlichem Ausmaß, zu ihrer Lösung erforderlich: Je „g-lastiger“ eine Aufgabe ist, desto stärker erfordert sie sehr generelle Denkprozesse wie z. B. das Erkennen von Relationen. Zum anderen wird jede Testleistung durch einen Faktor s beeinflusst, der spezifisch für den jeweiligen Test bzw. für die jeweilige Aufgabe ist. Beispiele hierfür sind der jeweilige Inhaltsbereich der Aufgabe (z. B. sprachliche, numerische oder figurale Inhalte) oder besondere Fertigkeiten zur Aufgabenbearbeitung wie Durchstreichen bestimmter Zeichen oder Legen von Bildern. Demnach gibt es nach Spearman so viele spezifische Faktoren, wie es Tests oder Aufgabentypen gibt.

Die Annahme, dass die Korrelation zwischen zwei Tests ausschließlich durch ihre jeweiligen Zusammenhänge mit g bestimmt sei, ist heute allerdings so nicht mehr haltbar. Empirisch zeigt sich nämlich, dass bestimmte Aufgabentypen stärker miteinander korrelieren als nach ihren jeweiligen g-Anteilen zu erwarten wäre. Auch finden sich zwischen einzelnen spezifischen Faktoren noch (Rest-)Korrelationen, die Spearman selbst als „spezielle Generalfaktoren“ bezeichnete. Die alleinige Erklärung von Intelligenztestleistungen durch nur zwei Faktoren g und s scheint daher nicht hinreichend (Holling et al. 2004).

Spearmans größter Verdienst im Rahmen der Intelligenzforschung ist die Einführung des g-Faktors. Daneben verdanken wir Spearman wichtige statistische Weiterentwicklungen im Bereich der Korrelationsrechnung und der ↑ Faktorenanalyse. Etwas unbefriedigend blieb in seinem Modell jedoch die Rolle der spezifischen Faktoren: Rein test- oder aufgabenspezifische Varianzen sind nur schlecht dazu geeignet, unterschiedliche Fähigkeiten bei Menschen zu erklären.

Modell mehrerer gemeinsamer Faktoren nach Thurstone

Louis Leon Thurstone (1887–1955) entwickelte die von Spearman begründeten faktorenanalytischen Techniken und Theorien weiter. Ein Ausgangspunkt seiner Forschung war die Feststellung, dass Spearmans Theorie mit einer Reihe von empirischen Befunden nicht oder nur mithilfe von Zusatzannahmen in Einklang zu bringen war. Er schloss daraus, dass ein g-Faktor und spezifische Faktoren alleine als Intelligenzmodell nicht ausreichen. Stattdessen nahm er an, dass sich intelligente Leistungen immer durch mehrere, klar voneinander unterscheidbare generelle Faktoren – die sogenannten Primärfaktoren – erklären lassen.

Thurstone ging davon aus, dass der „Geist irgendwie strukturiert“ sei und „der Verstand kein musterloses Mosaik einer unendlichen großen Anzahl von Elementen ist ohne funktionalen Zusammenhang“ (Thurstone 1940, 190; eigene Übersetzung). Thurstone erwartete also korrelative Zusammenhänge zwischen verschiedenen Testleistungen. Die vermuteten Zusammenhänge sollten sich dabei durch eine relativ geringe Anzahl von Faktoren erklären lassen. Hier liegt nun auch der Unterschied zu Spearman: Dieser nahm einen einzigen Faktor zur Erklärung der positiven Korrelationen zwischen verschiedenen Intelligenzleistungen an, die allgemeine Intelligenz g. Thurstone ging zwar auch von der Existenz einer allgemeinen Intelligenz aus. Diese setzt sich jedoch aus mindestens sieben Primärfaktoren zusammen (Thurstones Angaben über die Zahl der Primärfaktoren schwanken zwischen sieben und neun), welche mehr oder weniger unabhängig voneinander sind. Die Berechnung nur eines Wertes für die Intelligenz (im Sinne eines g-Faktors) macht daher nach Thurstones Auffassung wenig Sinn. Vielmehr erscheint nach Thurstone die absolute Ausprägung der Primärfaktoren und ihr jeweiliges Profil zueinander relevanter. Nachfolgend stellen wir die sieben Primärfaktoren und typische Aufgaben zu ihrer Erfassung vor (nach Amelang / Bartussek 2001, 208):

• Verbales Verständnis:Kenntnis von Wörtern und ihrer Bedeutung sowie deren angemessener Verwendung im Gespräch

• Wortflüssigkeit:Rasches Produzieren von Wörtern, die bestimmten strukturellen oder symbolischen Erfordernissen entsprechen

• Rechenfähigkeit:Geschwindigkeit und Präzision bei einfachen arithmetischen Aufgaben

• Räumliches Vorstellungsvermögen:Bewältigung von Aufgaben, die räumliches Vorstellen und Orientieren sowie das Erkennen von Objekten unter anderem Bezugswinkel erfordern

• Merkfähigkeit, Kurzzeitgedächtnis:Behalten paarweise gelernter Assoziationen

• Wahrnehmungsgeschwindigkeit: Geschwindigkeit beim Vergleich oder der Identifikation visueller Konfigurationen

• Schlussfolgerndes Denken, Erkennen von Regelhaftigkeit: Auffinden einer allgemeinen Regel in einer vorgegebenen Reihe von Zahlen oder Symbolen sowie Anwendung der Regel bei der Vorhersage des nächstfolgenden Elements.

Nun stellt sich die nicht unbegründete Frage, warum Spearman und Thurstone zu so unterschiedlichen Modellannahmen kamen? Immerhin benutzten doch beide die gleiche Methode, nämlich die ↑ Faktorenanalyse. Dafür gibt es mindestes drei Gründe (Amelang / Bartussek 2001, Holling et al. 2004): Erstens verwendete Thurstone heterogenere Aufgaben als Spearman, was zu geringeren Korrelationen zwischen den Aufgaben und schließlich zu mehreren Faktoren bei der Faktorenanalyse führte. Zweitens testete er vor allem Studierende, die sich in ihrer Leistungsfähigkeit vergleichsweise ähnlich waren, was über den Umweg der geringeren ↑ Varianz in den Daten zu mehreren Faktoren führte. Schließlich gibt es mehrere Varianten der Faktorenanalyse, sodass sich die zwei Forscher auch im konkreten Vorgehen bei ihren Analysen unterschieden. Letzteres wird zwar auch häufig als Erklärung für die Unterschiede zwischen Spearman und Thurstone herangezogen, Jensen (1983) konnte aber zeigen, dass der bei der Faktorenanalyse empirisch extrahierte g-Faktor keineswegs von der jeweiligen Technik der Datenanalyse abhängt.

 

In neueren Modellkonzeptionen lassen sich im Übrigen die Annahmen und Ergebnisse sowohl von Spearman als auch von Thurstone integrieren. Sogenannte hierarchische Modelle (wie z. B. die noch zu besprechenden Modelle von Cattell oder das Berliner Intelligenzstrukturmodell) betrachten die Intelligenz auf verschiedenen Hierarchieebenen. An der Spitze der Modelle „thront“ die allgemeine Intelligenz als g (Spearman). In der oder den Ebene(n) darunter lassen sich verschiedene einzelne Faktoren beschreiben (Thurstone), die jedoch nicht mehr unabhängig voneinander sind, sondern interkorrelieren.

Modell der kristallinen und fluiden Intelligenz von Cattell

Raymond Bernhard Cattell (1905–1998), ein früherer Assistent von Spearman, entwickelte ein eigenes einflussreiches Intelligenzmodell (Cattell 1963), welches als Vertreter der hierarchischen Modellfamilie aufgefasst werden kann. Es ist in gewisser Weise eine Synthese aus Spearmans und Thurstones Modell, wobei Cattell im Wesentlichen zwei übergeordnete Faktoren annimmt, denen er miteinander zusammenhängende Primärfaktoren unterordnet. Im Folgenden wollen wir uns auf die Betrachtung der zwei übergeordneten Faktoren beschränken.

Den ersten der beiden Faktoren beschreibt Cattell als fluide Intelligenz (abgekürzt als gf). Dieser Faktor beschreibt die Fähigkeit, sich an neue Situationen anzupassen und neue Probleme zu lösen, ohne dass gelerntes Wissen dazu nötig wäre. Die Ausprägung dieser Intelligenzkomponente sollte also weitgehend von kulturellen sowie gesellschaftlichen Einflüssen unabhängig und laut Cattell mehr oder weniger von Geburt an festgelegt sein. Diese Annahme gilt bislang allerdings als empirisch kaum gesichert (Mackintosh 1998). Beispiele für die fluide Intelligenz sind die Fähigkeit, neue Informationen aufzunehmen oder Beziehungsmuster und Analogien zwischen Objekten zu erkennen.

Den zweiten Faktor bezeichnet Cattell als kristalline Intelligenz (abgekürzt als gc). Dieser Faktor umfasst erlerntes Wissen und Fertigkeiten, also das, was man sich durch Kumulierung von Lernerfahrungen seit der Geburt angeeignet hat beziehungsweise Wissen oder Fertigkeiten, die sich sozusagen verfestigt oder „kristallisiert“ haben. Die kristalline Intelligenz bezieht sich somit auf die Verarbeitung vertrauter Informationen sowie die Anwendung von Wissen (Berg 2000) und ist damit natürlich kulturell determiniert. Kristalline Intelligenz wird mit Testaufgaben erfasst, welche Vorwissen bzw. Vorbildung voraussetzen (z. B. Wortschatztests oder Tests zum Allgemeinwissen). An diesen Tests kann man schon sehen, dass gc im Laufe des Lebens anwachsen kann und erst sehr spät einen Höhepunkt erreicht. Außerdem ist der gc-Faktor laut Heller (2000, 32) „am besten mit sog. Power-Tests (Niveau-Tests), d.h. zeitlich nicht befristeten, aber in ihrer ↑ Schwierigkeit ansteigenden Testaufgaben zu erfassen“.

Ein wichtiger Punkt in Cattells Überlegungen ist auch die sogenannte Investment Theorie. Cattell nimmt an, dass g f als Vorraussetzung von gc gesehen werden kann. Man investiert gleichermaßen seine angeborenen Fähigkeiten in das Erlernen kultureller Fertigkeiten. Die Annahme, dass individuelle Unterschiede in der fluiden Intelligenz mehr oder weniger die Ausprägung der kristallinen Intelligenz (bei vergleichbaren kulturellen und Lernumgebungen) bestimmen würden, konnte bisher zwar nicht ausreichend empirisch abgesichert werden (Holling et al. 2004), doch gibt die Investment Theorie z.B. einen plausiblen Erklärungsansatz für den „Matthäus-Effekt“.

Definition

Der Matthäus-Effekt (abgeleitet aus einem Vers des Matthäusevangeliums: „Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, dass er Fülle habe; wer aber nicht hat, von dem wird auch genommen, was er hat.“) besagt auf den Lernbereich bezogen, dass jemand mit einer gut ausgeprägten fluiden Intelligenz und damit guter Lernfähigkeit schnellere und größere Fortschritte im Wissenserwerb macht als jemand mit weniger gut ausgeprägten kognitiven Lernvoraussetzungen.

Berliner Intelligenz-Strukturmodell (BIS) von Jäger

Seit den 1960er Jahren publizierte Adolf Otto Jäger (1920–2002) Arbeiten zum Berliner Intelligenz-Strukturmodell (BIS), wobei als eigentliche Geburtsstunde des Modells ein Artikel von 1982 in der Zeitschrift Diagnostica gilt. Das BIS kann als integratives Modell gesehen werden, da laut Jäger „Beschreibungen der Intelligenz als eine geschlossene Einheit […] empirisch ebenso begründbar [sind] wie ihre Beschreibung als differenzierte Struktur von mehreren klar unterscheidbaren operativen und / oder inhaltsgebundenen Einheiten“ (1982, 211).

Jäger hatte das Ziel, konkurrierende Strukturmodelle der Intelligenz (z. B. von Spearman und Thurstone) in einem Gesamtmodell zu integrieren. So basiert das BIS auf drei Grundannahmen (Jäger et al. 2006): Erstens wird angenommen, dass am Zustandekommen jeder Intelligenzleistung, neben anderen Bedingungen, alle möglichen intellektuellen Fähigkeiten beteiligt sind (mehrfaktorielle Bedingtheit). Je nach Aufgabentyp kommt diesen unterschiedlichen Faktoren aber ein anderes Gewicht zu. Zweitens wird angenommen, dass sich Intelligenzleistungen unter verschiedenen – hier Modalitäten genannten – Aspekten klassifizieren lassen (Mehrmodalitätsprinzip). Bislang wird eine bimodale Klassifikation angewandt, nämlich die in Operationen und Inhalte. Eine solche Klassifikation kann man gut mit dem Sortieren von Bauklötzen (Testaufgabe) nach Farbe (Operation) und Form (Inhalt) vergleichen. Als drittes wird weiterhin angenommen, dass Fähigkeitskonstrukte hierarchisch strukturiert sind – d.h., sie lassen sich unterschiedlichen Generalitätsebenen zuordnen (Hierarchieannahme). Ganz oben in der Fähigkeitshierarchie steht die allgemeine Intelligenz. In der Ebene darunter findet man dann sieben breite, voneinander abhängige Fähigkeitskonstrukte. Das BIS wird gewöhnlich in Form einer Raute dargestellt (siehe Abbildung 1).


Abbildung 1: Berliner Intelligenzstrukturmodell nach Jäger (1982)

Die Fähigkeitskonstrukte des Modells werden im Folgenden näher beschrieben (in Anlehnung an Jäger et al. 2006, 20):

Operative Fähigkeiten

• B= Bearbeitungsgeschwindigkeit: Arbeitstempo, Auffassungsgeschwindigkeit und Konzentrationsfähigkeit beim Lösen einfach strukturierter Aufgaben von geringem Schwierigkeitsniveau

• M = Merkfähigkeit: Aktives Einprägen und kurzfristiges Wiedererkennen oder Reproduzieren von verschiedenartigem Material

• E= Einfallsreichtum: Hier ist die möglichst flexible Ideenproduktion gefragt, der Reichtum an Vorstellungen und die Fähigkeit, ein Problem von vielen verschiedenen Seiten zu sehen. Es geht dabei nicht um freies Fantasieren, sondern um möglichst vielfältige Problemlösungen.

• K= Verarbeitungskapazität: Verarbeitung komplexer Informationen bei Aufgaben, die nicht auf Anhieb zu lösen sind, sondern Heranziehen, vielfältiges Beziehungsstiften, formallogisch exaktes Denken und sachgerechtes Beurteilen von Informationen erfordern.

Inhaltsgebundene Fähigkeiten

• F= Anschauungsgebundenes, figural-bildhaftes Denken: Bearbeitung von Aufgabenmaterial, das anschauliches und räumliches Denken erfordert

• V= Sprachgebundenes Denken: Grad der Aneignung und der Verfügbarkeit des Beziehungssystems Sprache

• N= Zahlengebundenes Denken: Grad der Aneignung und der Verfügbarkeit des Beziehungssystems Zahlen

Allgemeine Intelligenz

Unter allgemeiner Intelligenz (AI, auch BIS-g) wird ein integriertes System separierbarer kognitiver Fähigkeiten verstanden, das am besten durch eine möglichst breite Stichprobe aus der Menge kognitiver Prozesse erfassbar ist. Die allgemeine Intelligenz umfasst kognitive Prozesse höherer Ordnung, die eine hohe Generalität für den gesamten Bereich kognitiver Fähigkeiten aufweisen, also allen intellektuellen Aktivitäten zugrunde liegen.

Das Modell ist explizit offen für Erweiterungen. Jäger (1982, 214) selbst erwog z. B., den Bereich der „Praktischen Intelligenz“ und der „Sozialen Intelligenz“ mit einzubeziehen. Die Gültigkeit des BIS-Modells konnte in vielen Untersuchungen für verschiedenste Aufgabentypen sowie für Personen unterschiedlicher Begabungs- oder Altersgruppen und Kulturen bestätigt werden.

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