Die Weiße Rose

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Die Weiße Rose
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Frank Sturms,

geboren 1964, hat an der RWTH Aachen Germanistik, Philosophie und Geschichte studiert. Während seines Studiums war er als Deutschlehrer tätig. Teilnahme am Cumulus-Projekt für kreatives Schreiben der RWTH Aachen, dort erste Veröffentlichung. Beschäftigt in der Chemischen Industrie. Neben seiner Arbeit engagiert sich in der Erwachsenenbildung, dabei gilt sein besonderes Interesse literaturwissenschaftlichen, historischen und philosophischen Fragestellungen.

Zum Buch

In diesem Buch soll die Geschichte der Menschen hinter dem Mythos Weiße Rose erzählt werden, von ihren Hoffnungen, Kämpfen und Zweifeln, die sie letztlich dazu gebracht haben, zum Widerstand gegen das Hitlerregime aufzurufen. Dazu soll ihre Lebenswelt dargestellt werden und die Zeitumstände, in denen sie ihren ungleichen Kampf aufgenommen haben.

Diese Geschichte muss im Licht neuer Erkenntnisse immer wieder neu erzählt werden, damit dieses großartige Beispiel für Humanität nicht in Vergessenheit gerät.

Angesichts eines immer wieder aufflackernden Neonazismus, der, wie das Beispiel der Zwickauer Terrorzelle NSU zeigt, auch heute noch mordet, muss es auch weiterhin wie im dritten Flugblatt der Gruppe heißen:

„Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den ihr um Euer Herz gelegt!“

„Wir schweigen nicht, wir sind Euer
böses Gewissen; die Weiße Rose lässt Euch keine Ruhe!“
Flugblatt IV der Weißen Rose

Am 22. Februar 2013 jährt sich die Hinrichtung der Geschwister Hans und Sophie Scholl und Christoph Probst‘s zum siebzigsten Mal. Sie hatten zusammen mit weiteren Freunden einen Widerstandskreis gebildet, der unter dem Namen Weiße Rose weltbekannt werden sollte.

Die Aktionen der Weißen Rose stehen für den studentischen Widerstand gegen die unerträgliche nationalsozialistische Terrorherrschaft. Mit ihren Flugblättern setzten die Verschwörer um Hans Scholl ein Zeichen der Humanität und Wahrhaftigkeit in einer Zeit der Lügen und des Schreckens.

„Freiheit der Rede, Freiheit des Bekenntnisses, Schutz des einzelnen Bürgers vor der Willkür verbrecherischer Gewaltstaaten, das sind die Grundlagen des neuen Europa.“ Flugblatt V der Weißen Rose

Frank Sturms

Die Weiße Rose

Frank Sturms

Die Weiße Rose

Die Geschwister Scholl

und der Studentische Widerstand


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2013

Der Text basiert auf der Ausgabe marixverlag, Wiesbaden 2013

Lektorat: Dr. Lenelotte Möller, Speyer

Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag GmbH

Bildnachweis: akg-images GmbH, Berlin

eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0327-4

www.marixverlag.de

Inhalt

Vorwort

Die Katastrophe

Eine ungewöhnliche Familie in einer bewegten Zeit

Die faschistische Versuchung

Zunehmende Distanzierung

Kriegseinsatz in Frankreich

Mitstreiter und Mentoren

Die Weiße Rose

Einsatz an der Ostfront

Die Widerstandsbewegung

Vor dem Volksgerichtshof

Der zweite Prozess

„Und ihr Geist lebt trotzdem weiter“

Literatur

Flugblätter der Weißen Rose

Die Verteidigungsrede von Professor Huber

Vorwort

Am 22. Februar 1943 jährt sich die Hinrichtung der Geschwister Hans und Sophie Scholl und ihres Freundes Christoph Probst zum siebzigsten Mal.

Sie hatten zusammen mit weiteren Freunden einen Widerstandskreis gebildet, der unter dem Namen „Weiße Rose“ weltbekannt werden sollte.

Die Aktionen der „Weißen Rose“ stehen für den studentischen Widerstand gegen die nationalsozialistische Terrorherrschaft.

Mit ihren Flugblättern setzten die Widerstandskämpfer um Hans Scholl ein Zeichen der Wahrhaftigkeit in einer Zeit der Lügen.

In diesem Buch sollen die Menschen hinter dem Mythos „Weiße Rose“ lebendig werden, es erzählt von ihren Hoffnungen, Kämpfen und Zweifeln, die sie letztlich dazu gebracht haben, zum Widerstand gegen das Hitlerregime aufzurufen.

Dazu soll ihre Lebenswelt dargestellt werden und die Zeitumstände, in denen sie ihren ungleichen Kampf aufgenommen haben.

Diese Geschichte muss im Licht neuer Erkenntnisse immer wieder neu erzählt werden, damit dieses großartige Beispiel für Humanität in einer unmenschlichen Zeit nicht in Vergessenheit gerät.

Angesichts eines immer wieder neu aufflackernden Neonazismus, der, wie das Beispiel der Zwickauer Terrorzelle NSU zeigt, weiterhin mordend durch das Land zieht, muss es auch heute noch wie im vierten Flugblatt der Gruppe heißen:

„Wir schweigen nicht, wir sind Euer böses Gewissen; die Weiße Rose läßt Euch keine Ruhe!“

Weihnachten 2012 Frank Sturms

Die Katastrophe

Zu Beginn des Jahres 1943 nahm die Nervosität innerhalb der Polizeibehörden Münchens stetig weiter zu. Seit dem Sommer des letzten Jahres waren in der Stadt immer wieder Flugblätter erschienen, die zum Sturz des NS-Regimes aufriefen. Sie waren von einer bislang unbekannten Widerstandsgruppe unterzeichnet, die sich „Weiße Rose“ nannte.

Und diese Flugblätter verbreiteten sich schnell. Immer wieder liefen Meldungen bei der Münchener Geheimen Staatspolizei ein, dass auch in anderen Städten Süddeutschlands und in Österreich diese Flugblätter bei den Polizeibehörden abgegeben worden waren; einmal sogar in Hamburg.

Am 4. Februar 1943 starteten die Polizeibehörden eine Großfahndung. Beteiligt waren die Münchener Gestapo, aber auch Kriminal- und Ordnungspolizei. Der Polizeichef, Oberregierungsrat Schäfer, beauftragte zwischen dem 5. und 11. Februar 19431 den erfahrenen Kriminalbeamten Robert Mohr damit, den oder die Urheber schnell und möglichst diskret ausfindig zu machen. Mohr sollte „diese Affäre zu Ende bringen“.2

Inhaber von Hotels, Gaststätten und anderen öffentlichen Einrichtungen wurden zur Mitarbeit aufgefordert. Die Spezialisten der neu eingerichteten Gestapo-Sonderkommission fanden schnell heraus, dass alle Flugblätter auf derselben Schreibmaschine geschrieben wurden und in Massen mit der Post in andere Städte verschickt worden waren. Die Empfänger waren augenscheinlich nach dem Zufallsprinzip ausgewählt worden. Die Versender hofften offenbar, dass manche ihrer Flugblätter bei Regimegegnern landen würden, die dann für die weitere Verbreitung sorgen würden.

Weil sich die Postsendungen größtenteils an Akademiker richteten, gingen die Ermittler davon aus, dass sich die Versender im Umfeld der Münchener Universität befinden mussten.

Die Münchener Universität befand sich schon seit einigen Wochen in Aufruhr. Am 13. Januar 1943 hatte der bayerische Gauleiter Paul Giesler in einer rüpelhaften Festrede zur 470-Jahr-Feier der Ludwig-Maximilians-Universität besonders die Studentinnen beleidigt. Er forderte sie auf, doch lieber „dem Führer ein Kind zu schenken“, statt an der Universität zu lernen. Den „weniger Hübschen“ versprach er zynisch, seine Adjutanten vorbei zu schicken, um ihnen „ein erfreuliches Erlebnis“3 zu bereiten.

Die Studenten waren gezwungen worden, sich diese Suada anzuhören. Sie mussten in den Festsaal kommen, um einen Stempel in ihrem Studentenausweis zu erhalten. Ohne diesen Stempel sollte man im kommenden Semester nicht weiterstudieren dürfen.

Als die Studentinnen daraufhin erbost den Festsaal verließen, wurden sie an den Ausgängen von SA und Polizeikräften in Empfang genommen, die versuchten, die jungen Frauen in Gewahrsam zu nehmen. Ein Teil von ihnen wurde aber kurz darauf von ihren Kommilitonen, die fast alle Soldaten waren und deshalb der in diesem Falle liberaleren Militärgerichtsbarkeit unterstanden, in einer Art Kommandounternehmung befreit. Der Rest wurde zur Gestapo-Zentrale gebracht. Dort wurden ihre Personalien aufgenommen. Sonst geschah ihnen nichts und kurze Zeit später ließ man sie wieder laufen. Durch diese Aktion hatten die Polizeibehörden einen großen Bestand persönlicher Daten von potentiell regimekritischen Frauen erhalten.

 

Nach diesem Skandal, der nur mühsam von der gleichgeschalteten Presse unterdrückt werden konnte, wurden an drei folgenden Nächten in München Mauern und Wände mit der Parole „Nieder mit Hitler!“ beschrieben. Die gleichen Täter schrieben außerdem mit großen Lettern „Freiheit!“ an die Münchener Universität.

Ein Regime, das zwar permanent von Freiheit redete, aber jede Opposition unterdrückte, und das sogar den von ihm initiierten Eroberungskrieg „Großdeutschen Freiheitskampf“ nannte, konnte diesen Gebrauch des Wortes „Freiheit“ nicht dulden. Ab dem 9. Februar 1943 wurde die Münchener Universität von der Gestapo beobachtet. Außerdem beauftragte die Sonderkommission den regimetreuen Münchener Altphilologen Prof. Harder mit einer sprachwissenschaftlichen Analyse der ihnen vorliegenden Pamphlete. Harder sollte als eine Art Profiler ein Persönlichkeitsbild des mysteriösen Verfassers erstellen. An diesem Vorgehen kann man erkennen, wie wichtig es für die NS-Behörden war, den oder die Urheber der Flugschriften zu fassen. Der Leiter der Gestapo-Sonderkomission, Robert Mohr, sagte nach dem Krieg aus, dass die Flugblattaktion in „höchsten Stellen von Staat und Partei Beunruhigung und Aufsehen“4 hervorgerufen hatte. Ein Regime, das die Welt dominieren wollte, hatte Angst vor ein paar regimekritischen Flugblättern.

Am 18. Februar 1943, gegen 10:30 Uhr, betrat der 24-jährige Sanitäts-Feldwebel Hans Scholl den Lichthof der Münchner Universität. Er war für die Dauer des Semesters zum Studium freigestellt worden, um sich auf seine Examina vorzubereiten. Ihn begleitete seine 21-jährige Schwester Sophie, die in München Biologie und Philosophie studierte. Sie hatten in einem Koffer die von der Polizei gesuchten regimekritischen Flugblätter dabei, die sie für die Vorlesungspause auslegen wollten.

Hans Scholl war der Kopf einer Widerstandsgruppe, die ihre ersten Flugblätter mit „Weiße Rose“ unterzeichnet hatte. Zusammen mit seinem Freund, dem Medizinstudenten und Sanitäts-Feldwebel Alexander Schmorell, hatte er die ersten Flugblätter der Gruppe geschrieben, vervielfältigt und verteilt. Zu ihrer Gruppe stießen im Laufe des Jahres 1942 noch Willi Graf, ebenfalls Medizinstudent und Soldat, und der Philosophieprofessor Kurt Huber. Und noch ein weiterer Medizinstudent, Christoph Probst, der ein enger Freund Alexander Schmorells war, schloss sich dem Kreis an. Da er aber bereits verheiratet war und seine Frau das dritte Kind erwartete, versuchten die Freunde, ihn zu schützen. Er sollte möglichst wenig über die gefährlichen Aktivitäten der anderen erfahren. Außerdem diente er nicht in München, sondern in Innsbruck. Dort war er ebenfalls Sanitätssoldat, allerdings bei der Luftwaffe. Seit dem Sommer 1942 wusste auch Sophie Scholl Bescheid über das illegale und lebensgefährliche Engagement ihres Bruders. Er hatte seine Widerstandsarbeit nicht mehr vor seiner Schwester verbergen können. Da sie den Krieg und den Nationalsozialismus hasste, war es für sie keine Frage, ihren Bruder bei seinem Kampf zu unterstützen.

Die ersten Flugblätter wandten sich mit ihrem gelehrt wirkenden, apokalyptischen Stil direkt an junge Intellektuelle. Deshalb war ihre Wirkung größtenteils nur auf ein akademisches Umfeld beschränkt.

Auf Anregung von Prof. Huber sollten sich die weiteren Flugblätter an größere Kreise wenden. So war das fünfte Flugblatt mit einem „Aufruf an alle Deutsche!“ überschrieben und im Namen der „Widerstandsbewegung“ verfasst. Das sechste Flugblatt, das Hans und Sophie Scholl an diesem Morgen auslegen wollten, richtete sich nach dem Skandal an der Hochschule an ihre „Kommilitonen! Kommilitoninnen!“.

Gleich zu Beginn wird darin in flammenden Sätzen an den Untergang der 6. Armee in Stalingrad erinnert, für den Hitler verantwortlich gemacht wurde: „Führer, wir danken dir!“, heißt es dazu bitter.

Und in der Tat, die Vernichtung der 6. Armee bedeutete einen weiteren schweren Schlag für die deutsche Kriegsführung. Der verlustreiche Russland-Feldzug der letzten beiden Jahre hatte die Kräfte der Wehrmacht erschöpft. Ein Sieg rückte in immer weitere Ferne. Die verheerenden Nachrichten aus Russland erinnerten manchen geschichtsbewussten Zeitgenossen an Napoleons fatalen Marsch auf Moskau.

Bis zu dieser Schlacht hatte eine Pattsituation auf dem europäischen Kriegsschauplatz geherrscht. Das „Dritte Reich“ hatte im Sommer 1941 die Sowjetunion überfallen. Im Winter war die deutsche Offensive vor Moskau zusammengebrochen. Nur unter großen Mühen war es der deutschen Armeeführung gelungen, die Front zu stabilisieren und die im Sommer eroberten Gebiete zu halten. Im Folgejahr richtete sich das Augenmerk des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) auf den Süden der Sowjetunion. Die deutschen Truppen sollten über den Don und die Wolga bis in die Industriemetropole Stalingrad und weiter in den Kaukasus vorstoßen, um die russischen Ölfelder zu besetzen und die sowjetische Kriegsmaschine von ihrer Rohstoffbasis abzuschneiden (Fall Blau).

Stalingrad, an der Wolga gelegen, sollte zum Symbol des Sieges über den Bolschewismus werden. Die 500 000-Einwohner-Stadt war ein Zentrum der sowjetischen Schwerindustrie, etwa 20 % der russischen Panzer, vor allem das gefürchtete Modell T-34, wurden in ihrem berühmten Traktorenwerk hergestellt.

Am 23. August 1942 begann die 6. Armee, eine hervorragend ausgestattete Elitetruppe,5 mit dem Angriff auf Stalins Stadt. Ein mehrere Tage andauerndes Artillerie-Bombardement und schwere deutsch-italienische Luftangriffe zerstörten sie fast vollständig. 40 000 Einwohner starben.

In den Wochen zuvor hatte Stalin seine berüchtigte „Direktive 227“ herausgegeben: Kein Meter sowjetischen Bodens sollte den faschistischen Eindringlingen mehr überlassen werden. Um der Direktive Wirkung zu verleihen, schickte er seinen fähigsten Kommandeur an die Stalingrad-Front: General Wassili Tschuikow übernahm das Kommando über die sowjetische 62. Garde-Armee. Mit dem erfahrenen Armeechef kamen verstärkt Politoffiziere („Kommissare“) zu den Einheiten. Die Kommissare sollten durch ihre geschickte Agitation die Moral der Soldaten stärken. Den Politoffizieren folgten NKWD-Staatssicherheits-Einheiten, die hinter der sowjetischen Front jeden Deserteur aufspürten und erschossen. Den Soldaten der Roten Armee blieb damit nichts anderes übrig, als bis zum bitteren Ende zu kämpfen. Stalingrad musste gehalten werden, koste es was es wolle.

Die Rote Armee grub sich in den Trümmern von Stalingrad ein. Unter großen Verlusten gelang es der Wehrmacht, fast 95 % der Stadt zu erobern. Nur ein etwa 150 Meter breiter und mehrere Kilometer langer Uferstreifen konnte von Tschuikows Truppen an der Wolga gehalten werden. Dieser Brückenkopf war für die Rückeroberung Stalingrads von entscheidender Bedeutung, weil die zum Gegenangriff übergehenden sowjetischen Truppen weiterhin über die Wolga versorgt werden konnten.

Am 8. November 1942 verkündete Hitler im Münchener Löwenbräukeller die endgültige Einnahme der Stadt. Der Verkehr auf der Wolga, so prahlte er, sei unterbunden und die sowjetische Wirtschaft sei von wichtigen Rohstoffquellen abgeschnitten. Doch er hatte zu früh gejubelt.

Am 19. November begann mit der „Operation Uranus“ der sowjetische Gegenschlag. Unter Tschuikows Führung griffen 500 000 sowjetische Soldaten an. Sie wurden von mehreren Hundert modernen Panzern unterstützt, die aus den neuen Fabriken jenseits des Urals stammten. Die Wucht des Angriffs überraschte die Deutschen und ihre Verbündeten. Die Wehrmachtsführung hatte geglaubt, dass die Rote Armee ausgeblutet sei und nicht mehr die Kraft zu einer so großen Offensive hätte.

Am 22. November 1942 gelang es den Russen, die gesamte 6. Armee zusammen mit ihren italienischen, rumänischen und ungarischen Verbündeten einzuschließen. Die sowjetischen Generäle hatten die deutsche Taktik der Kesselschlacht übernommen.

Hitler verbot persönlich Armeechef Paulus, den Belagerungsring zu sprengen, als dies noch möglich war. Die 6. Armee sollte sich „einigeln“. Luftwaffenchef Hermann Göring hatte Hitler zugesichert, dass er mit seinen Transportflugzeugen die gesamte Armee eine beliebig lange Zeit aus der Luft versorgen könnte.

Doch selbst zu Beginn der Luftbrücke konnten nur etwa 40% der benötigten Güter eingeflogen werden. Hunderttausende Soldaten litten deshalb im russischen Winter unter Erfrierungen, Hunger und Krankheiten.

Nahrung, Brennstoff und selbst Munition wurden im Kessel immer knapper. Dringend benötigte Panzerabwehrkanonen konnten nicht an umkämpfte Frontabschnitte gebracht werden, weil die zum Transport benötigten Pferde, die man sowieso nicht mehr füttern konnte, von den Soldaten getötet und aufgegessen wurden. Die wenigen deutschen Panzer, die im Kessel verblieben waren, hatten kaum Treibstoff und konnten nur wenige Kilometer weit fahren.

Im Laufe der Zeit nahm die Menge der Güter, die in die zertrümmerte Stadt eingeflogen werden konnten, mehr und mehr ab, weil die sowjetischen Truppen die dem Kessel am nächsten gelegenen Feldflugplätze einnahmen, und die schwerfälligen deutschen Transportflugzeuge immer weitere Strecken zurücklegen mussten, in denen sie verstärkt der sowjetischen Luftabwehr ausgesetzt waren.

Viel zu spät, als die Lage der Eingeschlossenen immer hoffnungsloser wurde, entschloss sich Hitlers Wehrmachtsführung, den Belagerungsring um die Stadt zu durchbrechen. Frische Truppen aus Frankreich, die teilweise mit dem neuen „Tiger“-Panzer ausgerüstet waren, wurden eilig nach Osten verlegt. Doch auch dieser Plan scheiterte. Am 23. Dezember 1942 musste die „Operation Wintergewitter“ nach heftigen Kämpfen abgebrochen werden. Die deutschen Panzerspitzen waren nur bis auf 40 km an ihre eingeschlossenen Kameraden im Kessel von Stalingrad heran gekommen.

Dann begann eine weitere Offensive der Sowjets. Es gelang ihnen, den Kessel zu zerteilen und einen Teil von der Luftversorgung abzuschneiden. Den deutschen Soldaten ging die Munition aus; sie verhungerten und erfroren bei Temperaturen bis zu minus 30 Grad. Die Verwundeten konnten in diesem Teil nicht mehr versorgt und ausgeflogen werden. Stalingrad wurde zum Massengrab für die deutschen Soldaten. Ein deutscher Pathologe, der im Kessel die Leichen von deutschen Soldaten stichprobenartig untersuchte, stellte fest, dass etwa die Hälfte der Toten verhungert war. Seine Erkenntnisse durfte er nicht weitermelden. Das Märchen von einer ausreichenden Luftversorgung sollte unter allen Umständen aufrecht erhalten bleiben.

Fritz Hartnagel, der Verlobte von Sophie Scholl, hielt als Oberleutnant bei der Luftwaffe im Kessel aus. Am 17. Januar 1943 schrieb er an seine Verlobte:

„Wir haben sehr schlimme Tage hinter uns. [...] Seit 8 Tagen sind wir bei 30 Grad Kälte im Freien gelegen, ohne eine Möglichkeit uns aufzuwärmen. Mein Btl. [Bataillon F. S.] ist vollkommen aufgerieben. Ich selbst habe beide Hände erfroren, davon 2 Finger mit Erfrierungen 3. Grades.“6

So wie Hartnagel erging es vielen deutschen Soldaten im Kessel. Doch er hatte Glück. Mit einem der letzten Flugzeuge, das noch in Stalingrad landen konnte, wurde er ausgeflogen. Er kam zur Erstversorgung in ein Lazarett, das sich in der eroberten Ukraine befand. Verwundete Stalingradkämpfer durften das Reichsgebiet nicht betreten. Um die Moral an der Heimatfront nicht zu gefährden, sollte der deutschen Bevölkerung der Anblick von vielen Tausend verwundeten Soldaten aus Stalingrad erspart bleiben.

Das sowjetische Oberkommando bot den deutschen Offizieren am 8. Januar 1943 die ehrenvolle Kapitulation an. So sollte weiteres Blutvergießen vermieden werden. Doch Hitler verbot den Eingeschlossenen, die Waffen zu strecken. Auf die Bitte General Paulus’, kapitulieren zu dürfen, antwortete Hitler Ende Januar in einem Telegramm:

„Verbiete Kapitulation. Die Armee hält ihre Position bis zum letzten Soldaten und zur letzten Patrone und leistet durch ihr heldenhaftes Aushalten einen unvergesslichen Beitrag zum Aufbau einer Abwehrfront und zur Rettung des Abendlandes.“7

 

Die 6. Armee sollte im Kessel ausharren und auf diese Weise starke sowjetische Truppen binden, damit der Südabschnitt der deutschen Front für eine erneute Offensive im kommenden Sommer stabilisiert werden konnte.

Mehr noch, in einer Rundfunkrede zum Jahrestag der sogenannten „Machtergreifung“ am 30.1.1943 konnten sich die Stalingradkämpfer die Leichenrede auf ihre eigene Armee anhören. Luftwaffenchef Göring musste die Rede halten, weil Hitler sich angesichts der sich abzeichnenden Niederlage nicht mehr traute, öffentlich vor einer großen Menschenmenge zu sprechen. In dieser Ansprache verglich Göring den Endkampf der 6. Armee unter anderem mit dem mythischen Untergang der Nibelungen an Etzels Hof. Er versuchte so, die militärische Katastrophe und sein eigenes Versagen zu einem neuen Heldenepos umzudeuten.

Zur Feier des Jahrestages wurde General Paulus von Hitler zum Feldmarschall befördert. An diese Beförderung war allerdings die Erwartung geknüpft, dass Paulus sich erschießen würde. Die Sowjets sollten keinen deutschen Feldmarschall gefangen nehmen. Ein so hoher Offizier sollte heldenhaft mit seiner ganzen Armee sterben.

Paulus entschied sich anders. Am nächsten Tag kapitulierte er und ließ sich von der Roten Armee in die Gefangenschaft führen.

Der Nordkessel, der noch sporadisch aus der Luft versorgt werden konnte, gab zwei Tage später auf. Am 3. Februar 1943 wurde die Nachricht vom „heldenhaften Untergang“ der 6. Armee im deutschen Rundfunk verlesen. Die Kapitulation wurde nicht erwähnt.

Im Sommer 1942 waren etwa 500 000 deutsche Soldaten nach Südosten aufgebrochen, um Stalingrad einzunehmen und bis zum Kaukasus vorzustoßen. Etwa 230 000 deutsche Soldaten wurden zusammen mit ihren Verbündeten in Stalingrad eingeschlossen. Bis zu 110 000 von ihnen nahm die Rote Armee in Stalingrad gefangen, der größere Teil der Armee war vorher gefallen, verwundet, erfroren, verhungert oder vermisst. Von den Überlebenden der Schlacht um Stalingrad sollten nur 6000 die Heimat wiedersehen. Die Sowjets verloren mehr als eine halbe Million Menschen, darunter ungezählte Zivilisten und sowjetische Kriegsgefangene, die im Kessel verhungerten, weil sie von ihren Bewachern nicht mit Nahrung versorgt wurden.

Nach der Katastrophe von Stalingrad und dem Verlust von mehr als 350 000 Mann im Laufe des Jahres 1942 war die Wehrmacht empfindlich geschwächt.

Im Sommer 1943 versuchte sie mit neu aufgestellten Truppen unter dem Namen „Operation Zitadelle“ eine letzte Offensive an der Ostfront. Doch auch dieser Angriff scheiterte. Die große Panzerschlacht bei Kursk musste die Wehrmacht abbrechen, um einer verheerenden Niederlage zu entgehen.

Danach begann der verzweifelte Widerstand der Wehrmacht gegen die immer stärker werdende Rote Armee. Am 22. Juni 1944, dem dritten Jahrestag von Hitlers Überfall auf die Sowjetunion, begann die sowjetische Großoffensive. Die Heeresgruppe Mitte brach zusammen. In atemberaubender Geschwindigkeit eroberten die sowjetischen Truppen die von Deutschen besetzten Gebiete zurück und stießen gegen das Deutsche Reich vor. Der Abwehrkampf endete schließlich am 8. Mai 1945 vor den Ruinen von Hitlers Reichskanzlei im zerstörten Berlin.

Das Flugblatt der Geschwister Scholl wollte dem Versuch entgegenwirken, das Desaster von Stalingrad propagandistisch auszuschlachten. Die Katastrophe sollte eine Katastrophe genannt werden dürfen.

Nach Ansicht der NS-Machthaber war dieses Verhalten Hochverrat. Die Strafe dafür war der Tod. Den Geschwistern Scholl war klar, dass sie sich durch ihr Tun in Lebensgefahr brachten. Deshalb bleibt ihr Verhalten an diesem Tage rätselhaft.

Es gelang ihnen, den größten Teil der Flugblätter an Fenstersimsen und auf Treppenabsätzen zu verteilen. Sie konnten danach ungesehen auf die Straße flüchten. Doch dann gingen sie in den Lichthof der Universität zurück, um die noch übrig gebliebenen Flugblätter zu verteilen. In einer spektakulären Aktion wollten sie die Blätter von der oberen Balustrade hinab segeln lassen.

Dabei wurden sie von dem Hausmeister Jakob Schmied beobachtet. Schmied war überzeugter Nationalsozialist. Er stürmte die Treppen hinauf und nahm die beiden Geschwister vorläufig in Gewahrsam. Von der herbeigerufenen Gestapo wurden sie kurze Zeit später festgenommen.

Sie ließen sich ohne Widerstand abführen. Robert Mohr leitete von nun an die Verhöre und die polizeiliche Untersuchung.

Am gleichen Abend, an dem Hans und Sophie Scholl mit den Verhörspezialisten der Gestapo um ihr Leben und um das Leben und die Freiheit ihrer Mitverschwörer rangen, ließ Dr. Joseph Goebbels, der den absurden Titel „Minister für Volksaufklärung und Propaganda“ führte, im Berliner Sportpalast eine Großveranstaltung inszenieren, die von allen deutschen Rundfunkstationen übertragen und von der NS-Wochenschau gefilmt wurde.

Mit dieser berüchtigten Veranstaltung, die unter dem Motto „Totaler Krieg – kürzester Krieg“ stand, lieferte er sein demagogisches Meisterstück ab. Sie sollte einer „Angstpsychose in der Bevölkerung“ entgegenwirken, die eine „stark beeinträchtigte Siegeszuversicht“8 nach sich zog, wie es in einem SS-Bericht hieß.

Zum Abschluss einer rhetorisch genau durchgeplanten Rede stellte er den Zuhörern im Saal und damit dem deutschen Volk die Frage „Wollt ihr den totalen Krieg?“, die von der aufgepeitschten Masse mit einem enthusiastischen „Ja“ und mit nicht enden wollenden Sieg-Heil-Rufen beantwortet wurde.

Am Ende dieses schicksalhaften 18. Januar 1943, im Angesicht der Katastrophe von Stalingrad, konnten die Nationalsozialisten noch einmal einen doppelten Sieg feiern: Eine bedeutende Stimme des Widerstands wurde zum Schweigen gebracht und die nationalsozialistische Führung hatte sich die Legitimation erschlichen, ihren Krieg mit noch rücksichtloserer Härte – auch gegen das eigene Volk – führen zu können.

Drei Tage lang herrschte Staatstrauer im „Großdeutsehcn Reich“. Dann erklärte die NS-Führung, dass die Stalingrad-Krise überwunden sei. Die Toten wurden abgeschrieben. Mit der nun anlaufenden und im Volksmund so genannten „Operation Heldenklau“, der „Auskämmung“ von Verwaltungsstellen für den Dienst in der Wehrmacht, sollten die Lücken geschlossen werden. Angehörige der Hitlerjugend, die älter als 15 Jahre waren, wurden als „Flakhelfer“ in den Luftkrieg geschickt, damit weitere Erwachsene als Soldaten an die russische Front geworfen werden konnten.

Der aussichtslos gewordene Krieg, der nur noch das Morden und Rauben im Namen des Nationalsozialismus verlängerte, konnte erst einmal ungehindert fortgesetzt werden.

1 Sönke Zankel: Die Weiße Rose war nur der Anfang. Köln 2006, S. 122f.; zit. als Zankel.

2 A. E. Dumbach/J. Newborn: Die Geschichte der Weißen Rose. Freiburg im Breisgau 1994, S. 184; zit.als Dumbach/Newborn.

3 Harald Steffahn: Die Weiße Rose. Reinbek bei Hamburg 1992. S. 100; zit.als Steffahn.

4 Michael C. Schneider/Winfried Süß: Keine Volksgenossen. Der Widerstand der Weißen Rose. München 1993, S. 33; zit.als Schneider/Süß.

5 Hitler hatte einmal gesagt, mit der 6. Armee könnte er den Himmel erobern.

6 Sophie Scholl/Fritz Hartnagel: Damit wir uns nicht verlieren. Briefwechsel 1937-43. Hrsg. von Thomas Hartnagel, Frankfurt am Main 2005, S. 445; zit. als Hartnagel.

7 Joachim Fest: Hitler. Frankfurt am Main – Berlin 1987, S. 909; zit. als Fest.

8 Wolfgang Benz: Geschichte des Dritten Reiches. Bonn 2008, S. 193; zit. als Benz.