Erzählstrukturen im Neuen Testament

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Erzählstrukturen im Neuen Testament
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Florian Wilk

Dem Erzähler auf der Spur

Zur Gliederung narrativer Texte im Neuen Testament

Mohr Siebeck GmbH & Co. KG


Inhaltsverzeichnis

  Vorwort

 1. Einleitung1.1 Die Aufgabe1.2 Grundlagen und Vorgehensweise1.3 Technische Hinweise

 2. Klärung der Methodik anhand des Gleichnisses vom verlorenen Sohn (Lk 15,11b–32)2.1 Einführung2.2 Themaorientierte Analyse2.3 Inventarorientierte Analyse2.4 Sprachorientierte Analyse2.4.1 Metakommunikative Sätze mit folgender direkter Rede2.4.2 Wiederholungen2.4.3 Wiederaufnahmen2.4.4 Auffällige syntaktische Phänomene2.4.5 Vorläufige Auswertung2.5 Erzählstilorientierte Analyse2.6 Zusammenfassende Auswertung2.6.1 Vergleich der Ergebnisse für die Gliederung von Lk 15,11b–322.6.2 Entwurf einer Vorgehensweise zur Gliederung von Erzählungen

 3. Exemplarische Textanalysen3.1 Das Gleichnis vom Schatz im Acker (Mt 13,44)3.1.1 Überblick über das Inventar und vorläufige Bestimmung des Themas3.1.2 Thema- und inventarorientierte Analyse3.1.3 Einbeziehung der Wiederaufnahmestruktur3.1.4 Einbeziehung des Erzählstils3.1.5 Einbeziehung der Syntax3.1.6 Auswertung3.2 Die Heilung eines Taubstummen (Mk 7,31–37)3.2.1 Überblick über das Inventar und vorläufige Bestimmung des Themas3.2.2 Thema- und inventarorientierte Analyse3.2.3 Einbeziehung der Wiederaufnahmestruktur3.2.4 Einbeziehung der Kommunikationsebenen3.2.5 Einbeziehung des Erzählstils3.2.6 Einbeziehung der Syntax3.2.7 Auswertung3.3 Petrus und Kornelius (Apg 10,1–11,18)3.3.1 Überblick über das Inventar und vorläufige Bestimmung des Themas3.3.2 Thema- und inventarorientierte Analyse3.3.3 Einbeziehung der Wiederaufnahmestruktur3.3.4 Einbeziehung der Kommunikationsebenen3.3.5 Einbeziehung des Erzählstils3.3.6 Einbeziehung der Syntax3.3.7 Auswertung3.4 Jesus vom Laubhütten- bis zum Tempelweihfest in Jerusalem (Joh 7,1–10,39)3.4.1 Überblick über das Inventar und vorläufige Bestimmung des Themas3.4.2 Thema- und inventarorientierte Analyse3.4.3 Einbeziehung der Wiederaufnahmestruktur3.4.4 Einbeziehung der Kommunikationsebenen3.4.5 Einbeziehung des Erzählstils3.4.6 Einbeziehung der Syntax3.4.7 Auswertung3.5 Das Evangelium nach Markus (Mk 1,1–16,8d)3.5.1 Überblick über das Inventar und vorläufige Bestimmung des Themas3.5.2 Methodologische Zwischenüberlegung3.5.3 Thema- und inventarorientierte Analyse3.5.4 Einbeziehung der Wiederaufnahmestruktur3.5.5 Thematische Beschreibung der postulierten Hauptteile3.5.6 Einbeziehung der Kommunikationsebenen3.5.7 Einbeziehung des Erzählstils3.5.8 Auswertung

 4. Schlussbetrachtung4.1 Evaluation der einzelnen Untersuchungsmethoden4.1.1 Überblick über das Inventar und vorläufige Bestimmung des Themas4.1.2 Thema- und inventarorientierte Analyse4.1.3 Einbeziehung der Wiederaufnahmestruktur4.1.4 Einbeziehung der Kommunikationsebenen4.1.5 Einbeziehung des Erzählstils4.1.6 Einbeziehung der Syntax4.2 Evaluation der Vorgehensweise im Ganzen4.3 Leitfragen für die Gliederung neutestamentlicher Erzählungen

  Literaturverzeichnis

  Autorenregister

  Stellenregister

[Zum Inhalt]

|V|Vorwort

»Der Reihe nach« oder, wie es in der Lutherbibel heißt, »in guter Ordnung« (Lk 1,3) hat Lukas nach eigenem Bekunden aufgeschrieben, was er vom Lebensweg Jesu zu erzählen hatte. Die Auskunft des dritten Evangelisten hat mir seit den Anfängen meiner exegetischen Bemühungen zu denken gegeben: Welcher Art ist die genannte »Ordnung«, und wie lässt sie sich erfassen? Im Zuge fortgesetzter Beschäftigung mit dem Neuen Testament wurde mir deutlich, dass die Beantwortung der Frage nach dem Aufbau grundlegende Bedeutung für die Interpretation wohl jedes seiner Bücher und Texte hat. Ich bin dieser Frage daher viele Jahre hindurch wiederholt, für mich und im Dialog mit anderen, nachgegangen. Dabei zeigte sich, wie heikel sie ist – und dass sie für jede Textsorte gesondert bearbeitet werden muss. Besonders drängend erschien und erscheint sie mir im Hinblick auf die Erzählungen des Neuen Testaments zu sein. So bin ich froh, nun die lange geplante Studie zum Thema vorlegen zu können. Ich hoffe, sie ist geeignet, die gebotene Aufmerksamkeit für die Strukturen, die solche Texte aufweisen, zu erhöhen und die notwendige Klarheit bei ihrer Analyse zu fördern.

Dank sage ich allen, die die Entstehung der Arbeit gefördert haben: den theologischen Lehrerinnen und Lehrern, die mir allererst ans Herz gelegt haben, sorgfältig auf Textstrukturen zu achten; den Studentinnen und Studenten, die bereit waren, in meinen Lehrveranstaltungen mit mir über die Gliederung neutestamentlicher und in Sonderheit narrativer Texte nachzudenken und zu diskutieren; den Kolleginnen und Kollegen, die mich ermutigten, dieses Buch zu schreiben, und mir in Gesprächen wichtige Anregungen dafür gaben; dem Präsidium der Georg-August-Universität Göttingen, das mir durch Gewährung eines Forschungssemesters die Möglichkeit gab, meine Vorarbeiten in einem Manuskript zusammenzuführen; Herrn Henning Ziebritzki, der den langen Entstehungsprozess der Untersuchung freundlich und mit mancherlei sachdienlichen Hinweisen begleitet hat; und Frau Jana Trispel samt allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Verlag und Setzerei, die den komplizierten Herstellungsprozess mit Geduld und Umsicht bewältigt haben.

Insbesondere aber danke ich all denen, die mich während meiner bisherigen Tätigkeit an der Theologischen Fakultät zu Göttingen als wissenschaftliche Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter sowie als wissenschaftliche oder studentische Hilfskräfte unterstützt haben: Dr. Birke Siggelkow-Berner, Ingo Vespermann, Dr. Martin Jagonak, Dr. Martina Janßen, Dr. Frank Schleritt, Wibke Winkler, Julian Bergau und Eduard Käfer sowie Tina Oehm, Sehun Kang, Markus Sauerwein, Prof. Dr. Jacob Wright, Johanna Löber (geb. Rudolph), Ina Jäckel (geb. Schmidt), Heike Rozek (geb. Fürch), Krystyna-Maria Redeker, Valentin Wendebourg, Martijn Wagner, Johanna Waldmann, Dr. Heidrun Gunkel, Swantje Morgenstern, Kristina Krehl (geb. Bode), Kristin Bogenschneider, Janine Müller, Christiane Reschke (geb. Korf), Konrad Otto, Charlotte Behr und Christina Bünger. Die Lern- und Arbeitsgemeinschaft mit ihnen war und ist mir lieb und |VI|teuer. Ihre Recherchen und Korrekturen, ihre Fragen und Gesprächsbeiträge, ihre Hilfsbereitschaft und Sorgfalt sind auch dem vorliegenden Buch teils direkt, teils indirekt zugutegekommen. Ihnen sei es daher gewidmet.

Göttingen, im Februar 2016 Florian Wilk

[Zum Inhalt]

|1|1. Einleitung
1.1 Die Aufgabe

Wer erzählt, bringt anderen Menschen gegenüber zur Sprache, dass und wie sich ein bestimmtes Geschehen vollzogen hat. Das Erzählen gehört insofern »zu den Basisformen sozialer Kommunikation«[1] – und somit auch zu den Redeweisen, die für die Weitergabe der Christusbotschaft von Anfang an grundlegende Bedeutung hatten.[2] Demgemäß hat es das Neue Testament maßgeblich geprägt: Die Evangelien und die Apostelgeschichte bilden insgesamt narrative Texte,[3] und die Briefe enthalten ihrerseits viele erzählende Passagen[4].

In neuerer Zeit sind daher mit Recht sprach- und literaturwissenschaftliche Verfahren auf die Erzählungen des Neuen Testaments angewendet worden, um diese in ihrer textuellen Eigenart zu erfassen.[5] Dabei wird auch und gerade nach der Struktur oder – mit anderen Worten – dem Aufbau neutestamentlicher Erzählungen gefragt. Die Bestandteile eines Textes sind ja

nicht nur ineinander gehängt wie die Glieder einer Kette, sondern bilden ein mehr oder weniger kompliziertes Gefüge mit Überordnung und Unterordnung, sind zu einem Netz … von Beziehungen untereinander verknüpft, d.h., sie bilden eine Struktur. Durch diese Struktur erst wird aus Wörtern und Sätzen ein einheitliches Ganzes mit einer Gesamtbedeutung.[6]

|2|Auf Erzählungen bezogen bedeutet das:

Ein narrativer Text … entsteht nicht schon dadurch, daß einzelne Episoden rein additiv hintereinander gereiht werden … Vielmehr müssen die im Nacheinander erzählten Ereignisse ›etwas miteinander zu tun haben‹, einen gemeinsamen roten Faden aufweisen, gewissermaßen in einer Syntax der Erzählung aufeinander bezogen, d.h. einander über- und untergeordnet sein, kurz: im Ganzen der Erzählung zu einer Struktur gefügt sein …[7]

 

Das wissenschaftliche Bemühen, die Strukturen neutestamentlicher Erzählungen zu ermitteln, ist deshalb sehr zu begrüßen. Das gilt umso mehr, als immer noch viele exegetische Untersuchungen zwei markante Lücken aufweisen. Die erste Lücke besteht darin, dass der Aufbau der jeweils behandelten Erzählung zwar beschrieben oder in einer Übersicht dargestellt, aber bei der Einzelinterpretation kaum berücksichtigt wird.[8] Wenn jedoch, wie festgestellt, die »Gesamtbedeutung« eines Textes auf seiner Struktur basiert, sollte diese im Zuge der Auslegung durchgehend Beachtung finden; und die genannte Übersicht müsste dann das Gesamtverständnis des betreffenden Textes widerspiegeln. Zweitens liegt eine Lücke dort vor, wo ein Aufbau skizziert wird, ohne dass man erfährt, aus welchen Beobachtungen und Urteilen die Skizze hervorgegangen ist.[9] Wenn aber die Beschreibung der Struktur eines Textes ein Spiegelbild der Auffassung seiner »Gesamtbedeutung« bildet, muss jene Beschreibung ebenso begründet werden wie die Auslegung selbst.

Die Pflicht, eine Übersicht zum Aufbau einer neutestamentlichen Erzählung zu legitimieren, erwächst im wissenschaftlichen Diskurs zudem bereits aus dem Sachverhalt, dass wohl für jeden derartigen Text verschiedene Strukturmodelle vorliegen, die teils erheblich voneinander abweichen und so in Konkurrenz zueinander stehen. Freilich lässt sich deren Vielfalt nicht einfach dadurch aufheben oder jedenfalls begrenzen, dass alle am Diskurs Beteiligten Rechenschaft ablegen, aus welchen Gründen sie jeweils eine bestimmte Ansicht zum Aufbau der betreffenden Erzählung vertreten. Die Forschungssituation ist gerade durch einen Dissens darüber geprägt, auf welche Weise sich die Ermittlung der Textstruktur zu vollziehen hat.

Uneinigkeit herrscht schon bei der grundlegenden Frage nach der Rangfolge von Synchronie und Diachronie. So legen etwa manche Kommentare zum Johannes-Evangelium nicht den textkritisch hergestellten, sondern einen literarkritisch bearbeiteten Wortlaut der Erzählung aus.[10] Doch selbst wenn man nicht |3|alle »Quellen- und Redaktionstheorien« schlicht für »unbegründbar[ ]« hält und das »im Kanon … überlieferte Werk« a priori »als einen kohärenten … Text interpretieren« will,[11] darf man doch wohl voraussetzen, »daß der letzte Redaktor das Werk als einheitlich … angesehen hat«[12]. Dann aber gilt es, allererst dieses Werk auf seinen Aufbau hin zu untersuchen.[13]

Strittig ist ferner, mit welcher Methodik solch eine Untersuchung durchgeführt werden soll. Einige betrachten die Struktur als »the architectural end-product« des Prozesses, in dem ein Erzähler oder eine Erzählerin einen »plot« geschaffen, also diverse Ereignisse »into a coherent narrative whole« arrangiert habe;[14] sie ermitteln die Struktur deshalb im Rahmen einer narrativen Analyse[15]. Anderen gilt die Struktur eines Textes ebenso als Aspekt seiner sprachlichen Form wie Wortwahl, Stil oder Syntax;[16] sie bedienen sich deshalb linguistischer Verfahren, zumal einer Kombination aus syntaktischer und semantischer Analyse, um seinen Aufbau zu beschreiben[17]. Dieser Disput ergibt sich nicht zuletzt aus dem Umstand, dass die Erzählungen des Neuen Testaments aufgrund ihres Alters und ihres stark divergierenden Umfangs nicht einfach den üblichen Gegenständen der Textlinguistik oder denen der Literaturwissenschaft zuzuordnen sind; er lässt sich daher auch nicht einfach so oder so entscheiden. Dann aber bleibt zu prüfen, inwieweit die Ergebnisse verschiedener Analyseverfahren miteinander kompatibel und in welcher Weise sie ggf. in eine Beschreibung des Textaufbaus zu integrieren sind.

|4|Im Übrigen herrscht oftmals Uneinigkeit, welchen (narrativen oder sprachlichen) Gesichtspunkten entscheidendes Gewicht bei der Strukturanalyse eines konkreten Textes zugemessen werden kann.[18]

Die Forschungslage zur Struktur neutestamentlicher Erzählungen ist also von disparaten methodischen Ansätzen und Verfahrensweisen geprägt. Es gilt deshalb zu klären, anhand welcher Kriterien über die Sachgemäßheit solcher Ansätze entschieden werden kann und welche analytischen Mittel dann zur Ermittlung des Aufbaus solch einer Erzählung eingesetzt werden sollen. Der Bearbeitung dieser Aufgabe ist das vorliegende Buch gewidmet.

1.2 Grundlagen und Vorgehensweise

Das Fundament der Untersuchung bildet ein Ensemble aus sieben Grundüberzeugungen. Sie lauten:

1 Jede neutestamentliche Erzählung ist auf die eine oder andere Weise strukturiert.

2 Diese Struktur ist – wie bei anderen Texten auch – an der Textoberfläche anhand bestimmter Textmerkmale zu erkennen.[19]

3 Textmerkmale, die die Struktur einer Erzählung anzeigen, sind für die Textsorte »Erzählung« charakteristisch.[20]

4 Die Identifizierung und Gewichtung solcher Textmerkmale obliegt denen, die die Erzählung lesen und auslegen; es ist, mit anderen Worten, die Aufgabe des Interpreten und der Interpretin, die Erzählung zu gliedern.Gliederung meint hier und im Folgenden demnach entweder den analytischen Vorgang, der sich bei der Textlektüre vollzieht, oder dessen Ergebnis. Solch ein Vorgang führt insofern über eine Segmentierung hinaus, als er die dazu benannten Textmerkmale in eine hierarchische Ordnung bringt.[21]

5 Keine Gliederung kann für sich den Anspruch erheben, gleichsam objektiv die Struktur einer Erzählung abzubilden; solche Objektivität ist für niemanden, die oder der Texte auslegt, erreichbar.

6 Gerade deshalb muss jede Gliederung im wissenschaftlichen Diskurs plausibilisiert werden; dabei ist eine Gliederung dann plausibel (bzw. plausibler als andere Gliederungsentwürfe), wenn sie die für die Struktur relevanten Textmerkmale möglichst umfassend (bzw. in höherem Maße als andere Glie|5|derungsentwürfe) berücksichtigt[22] und der Eigenart der jeweiligen Erzählung gemäß gewichtet.

7 Die Plausibilität einer Gliederung zeigt sich überdies daran, dass sie den Gesamtzusammenhang und die Intention der Erzählung zu verstehen hilft.

Auf dieser Basis soll im Folgenden zunächst (in Kapitel 2) eine Methodik zur Gliederung neutestamentlicher Erzählungen im Kontext der einschlägigen Forschungsdiskussion entwickelt werden. Anschließend gilt es, diese Methodik (in Kapitel 3) mittels Anwendung auf mehrere, unterschiedlich geartete und unterschiedlich lange Textbeispiele zu bewähren. In einer Schlussbetrachtung (Kapitel 4) ist zu erheben, welche Folgerungen für den Einsatz der Methodik aus der exemplarischen Anwendung zu ziehen sind.

1.3 Technische Hinweise

Abkürzungen einzelner Wörter folgen den Angaben im Duden, Band 1.

Die Abkürzungen biblischer Bücher und antiker Schriften entsprechen dem Verzeichnis im Exegetischen Wörterbuch zum Neuen Testament.[23]

Bei der Angabe neutestamentlicher Stellen folgt die Einteilung einzelner Verse in erster Linie den Satzzeichen im »Novum Testamentum Graece«, ohne Unterschied zwischen Klammer, Komma, Kolon oder Punkt; die betreffenden Teilverse werden fortlaufend mit kleinen, ohne Zwischenraum an die Versziffer angefügten lateinischen Lettern benannt. Sind weitere Einteilungen erforderlich, erfolgen diese entweder – wenn zuvor in Textübersichten eindeutig zugeordnet – durch Ergänzung kleiner griechischer Buchstaben[24] oder durch Hinzufügung der Angaben »init.«, »md.« und »fin.«; in letzterem Fall wird der übrige Teilvers bei Bedarf durch das zusätzliche Sigel * gekennzeichnet. Die mit einem verminderten Zwischenraum an eine Ziffer angeschlossene Angabe »f.« verweist auf den folgenden Vers oder das folgende Kapitel.

In den Anmerkungen wird die benutzte Literatur mit Autorname und Kurztitel benannt.

[Zum Inhalt]

|6|2. Klärung der Methodik
anhand des Gleichnisses vom verlorenen Sohn (Lk 15,11b–32)
2.1 Einführung

Im Sinne neuerer Erzähltheorien lässt sich eine schriftlich vorliegende Erzählung als Text definieren, durch den eine Erzählerin oder ein Erzähler mit bestimmten Adressaten im Erzählvorgang so kommuniziert, dass ein aus diversen, aufeinander folgenden Ereignissen bestehendes Geschehen zur Darstellung kommt.[25] Demgemäß können Erzählungen generell auf den drei Ebenen des Erzählvorgangs, des dargestellten Geschehens und des Textes auf ihre jeweilige Eigenart hin untersucht werden.[26]

Für die Gliederung einer Erzählung ist naturgemäß die Analyse auf der Textebene entscheidend. Allerdings muss eine derartige Textanalyse die geschilderten Ereignisse[27] und die mittels der Erzählung vollzogene Kommunikation insoweit berücksichtigen, als sie sich im Text selbst widerspiegeln. Andererseits zeitigt nicht jeder auf der Textebene denkbare Untersuchungsschritt Ergebnisse, die zu einer Gliederung beitragen. Hilfreich dürften diejenigen Verfahren sein, die das Gesamtgefüge einer Erzählung hinsichtlich seines inhaltlichen Zusammenhangs oder seines gestalterischen Zusammenhalts in den Blick nehmen, die also darauf angelegt sind, überblicksweise zu klären, »was« und »wie« erzählt wird[28].

Beide Leitfragen sind der Klarheit halber zu differenzieren: In Bezug auf den Inhalt gilt es zu erheben,

a) wovon die Erzählung handelt und

b) welche Welt sie dabei aufbaut;

in Bezug auf ihre äußere Gestalt muss man ermitteln,

c) in welcher Weise sie dargeboten wird und

d) welche sprachlichen Mittel dabei eingesetzt werden.

Es geht also darum, eine Erzählung in der Ausrichtung einerseits auf (a) ihr Thema und (b) ihr narratives Inventar, andererseits auf (c) den sie prägenden Erzählstil und (d) ihre Sprache zu gliedern.

|7|In einem Schema lassen sich diese analytischen Zugänge wie folgt darstellen:


Im Folgenden sollen die den genannten vier Aspekten entsprechenden Analyseverfahren der Reihe nach vorgestellt, auf ihre Sachgemäßheit geprüft und hinsichtlich ihrer Stärken und Schwächen ausgewertet werden. Dazu werden sie exemplarisch auf einen Text angewendet, der bekannt und übersichtlich ist, zugleich aber – wie die Auslegungsgeschichte zeigt – interpretatorische Fragen aufgibt und daher eine eingehende Untersuchung lohnt: das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11b–32). Anschließend sind die Ergebnisse der Analysen miteinander zu vergleichen, um auf dieser Basis ein geeignetes Verfahren zur Gliederung neutestamentlicher Erzählungen zu entwickeln.

Damit die weiteren Ausführungen leichter nachzuvollziehen sind, sei die Erzählung aus Lk 15 nachstehend synoptisch in ihrem griechischen Wortlaut[29] und einer möglichst wortgetreuen deutschen Übersetzung[30] dargeboten.

|8|Lk 15,11b–32: griechischer Text (NT Graece28)


11 …· ἄνθρωπός τις εἶχεν δύο υἱούς.
12 καὶ εἶπεν ὁ νεώτερος αὐτῶν τῷ πατρί· πάτερ, δός μοι τὸ ἐπιβάλλον μέρος τῆς οὐσίας. ὁ δὲ διεῖλεν αὐτοῖς τὸν βίον.
13 καὶ μετ’ οὐ πολλὰς ἡμέρας συναγαγὼν πάντα ὁ νεώτερος υἱὸς ἀπεδήμησεν εἰς χώραν μακρὰν καὶ ἐκεῖ διεσκόρπισεν τὴν οὐσίαν αὐτοῦ ζῶν ἀσώτως.
14 δαπανήσαντος δὲ αὐτοῦ πάντα ἐγένετο λιμὸς ἰσχυρὰ κατὰ τὴν χώραν ἐκείνην, καὶ αὐτὸς ἤρξατο ὑστερεῖσθαι.
15 καὶ πορευθεὶς ἐκολλήθη ἑνὶ τῶν πολιτῶν τῆς χώρας ἐκείνης, καὶ ἔπεμψεν αὐτὸν εἰς τοὺς ἀγροὺς αὐτοῦ βόσκειν χοίρους,
16
17 εἰς ἑαυτὸν δὲ ἐλθὼν ἔφη· πόσοι μίσθιοι τοῦ πατρός μου περισσεύονται ἄρτων, ἐγὼ δὲ λιμῷ ὧδε ἀπόλλυμαι.
18 ἀναστὰς πορεύσομαι πρὸς τὸν πατέρα μου καὶ ἐρῶ αὐτῷ· πάτερ, ἥμαρτον εἰς τὸν οὐρανὸν καὶ ἐνώπιόν σου,
19 οὐκέτι εἰμὶ ἄξιος κληθῆναι υἱός σου· ποίησόν με ὡς ἕνα τῶν μισθίων σου.
20 καὶ ἀναστὰς ἦλθεν πρὸς τὸν πατέρα ἑαυτοῦ. Ἔτι δὲ αὐτοῦ μακρὰν ἀπέχοντος εἶδεν αὐτὸν ὁ πατὴρ αὐτοῦ καὶ ἐσπλαγχνίσθη καὶ δραμὼν ἐπέπεσεν ἐπὶ τὸν τράχηλον αὐτοῦ καὶ κατεφίλησεν αὐτόν.
21 εἶπεν δὲ ὁ υἱὸς αὐτῷ· πάτερ, ἥμαρτον εἰς τὸν οὐρανὸν καὶ ἐνώπιόν σου, οὐκέτι εἰμὶ ἄξιος κληθῆναι υἱός σου.
22 εἶπεν δὲ ὁ πατὴρ πρὸς τοὺς δούλους αὐτοῦ· ταχὺ ἐξενέγκατε στολὴν τὴν πρώτην καὶ ἐνδύσατε αὐτόν, καὶ δότε δακτύλιον εἰς τὴν χεῖρα αὐτοῦ καὶ ὑποδήματα εἰς τοὺς πόδας,
23 καὶ φέρετε τὸν μόσχον τὸν σιτευτόν, θύσατε, καὶ φαγόντες εὐφρανθῶμεν,
24 ὅτι οὗτος ὁ υἱός μου νεκρὸς ἦν καὶ ἀνέζησεν, ἦν ἀπολωλὼς καὶ εὑρέθη. καὶ ἤρξαντο εὐφραίνεσθαι.
25 Ἦν δὲ ὁ υἱὸς αὐτοῦ ὁ πρεσβύτερος ἐν ἀγρῷ· καὶ ὡς ἐρχόμενος ἤγγισεν τῇ οἰκίᾳ, ἤκουσεν συμφωνίας καὶ χορῶν,
26 καὶ προσκαλεσάμενος ἕνα τῶν παίδων ἐπυνθάνετο τί ἂν εἴη ταῦτα.
27 ὁ δὲ εἶπεν αὐτῷ ὅτι ὁ ἀδελφός σου ἥκει, καὶ ἔθυσεν ὁ πατήρ σου τὸν μόσχον τὸν σιτευτόν, ὅτι ὑγιαίνοντα αὐτὸν ἀπέλαβεν.
28 ὠργίσθη δὲ καὶ οὐκ ἤθελεν εἰσελθεῖν, ὁ δὲ πατὴρ αὐτοῦ ἐξελθὼν παρεκάλει αὐτόν.
29
30 ὅτε δὲ ὁ υἱός σου οὗτος ὁ καταφαγών σου τὸν βίον μετὰ πορνῶν ἦλθεν, ἔθυσας αὐτῷ τὸν σιτευτὸν μόσχον.
31 ὁ δὲ εἶπεν αὐτῷ· τέκνον, σὺ πάντοτε μετ’ ἐμοῦ εἶ, καὶ πάντα τὰ ἐμὰ σά ἐστιν·
32 εὐφρανθῆναι δὲ καὶ χαρῆναι ἔδει, ὅτι ὁ ἀδελφός σου οὗτος νεκρὸς ἦν καὶ ἔζησεν, καὶ ἀπολωλὼς καὶ εὑρέθη.

|9|Lk 15,11b–32: deutscher Text (eigene Übersetzung)

 

11 …: Ein Mensch hatte zwei Söhne.
12 Und der jüngere von ihnen sagte dem Vater: »Vater, gib mir den (mir) zustehenden Teil des Gutes.« Er aber teilte ihnen das Eigentum zu.
13 Und nach wenigen Tagen, als er alles zusammengeholt hatte, zog der jüngere Sohn fort in ein fernes Land, und dort vergeudete er sein Gut mit heilloser Lebensweise.
14 Nachdem er aber alles ausgegeben hatte, kam eine schwere Hungersnot über jenes Land, und er begann zu darben.
15 Und er ging hin und unterstellte sich einem der Bürger jenes Landes, und der schickte ihn auf seine Felder zum Schweinehüten.
16
17 Er aber ging in sich und sagte: »Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben Brot im Überfluss, doch ich komme hier vor Hunger um.
18 Ich will mich aufmachen, zu meinem Vater gehen und ihm sagen: ›Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir,
19 ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn genannt zu werden; mache mich wie einen deiner Tagelöhner.‹«
20 Und er machte sich auf und ging zu seinem eigenen Vater. Als er aber noch fern war, sah ihn sein Vater und wurde von Mitleid ergriffen, lief (hin) und fiel ihm um den Hals und küsste ihn.
21 Der Sohn aber sagte ihm: »Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir, ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn genannt zu werden.«
22 Aber der Vater sagte zu seinen Dienern: »Schnell, holt das beste Gewand heraus und kleidet ihn ein, und gebt (ihm) einen Ring an seine Hand und Schuhe an die Füße,
23 und holt das Mastkalb, schlachtet es, und lasst uns essen und feiern;
24 denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist gefunden worden.« Und sie begannen zu feiern.
25 Sein älterer Sohn aber war auf dem Feld; und als er (heim)kam und sich dem Haus näherte, hörte er Musik und Tanz;
26 und er rief einen der Burschen herbei und erkundigte sich, was dies sei.
27 Der aber sagte ihm: »Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat das Mastkalb geschlachtet, weil er ihn gesund zurückerhalten hat.«
28 Er aber wurde zornig und wollte nicht hineingehen. Doch sein Vater kam heraus und redete ihm zu.
29
30 als aber dein Sohn da, der dein Eigentum mit Huren aufgezehrt hat, kam, hast du für ihn das Mastkalb geschlachtet.«
31 Er aber sagte ihm: »Kind, du bist allezeit bei mir, und alles was mein ist, ist dein;
32 (jetzt) aber war es nötig, zu feiern und fröhlich zu sein, denn dein Bruder da war tot und ist lebendig geworden, und (er war) verloren und ist gefunden worden.«