Mord im Morgengrauen

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Mord im Morgengrauen
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MORD IM HERRENHAUS
(EIN LACEY DOYLE COZY-KRIMI – BUCH EINS)
FIONA GRACE
Fiona Grace

Die Debutautorin Fiona Grace ist die Verfasserin der LACEY DOYLE COZY-KRIMI Buchreihe, die bisher aus den Romanen MORD IM HERRENHAUS (Buch #1), DER TOD UND EIN HUND (Buch #2) und VERBRECHEN IM CAFÉ (Buch #3) besteht. Fiona würde sich sehr freuen, von Ihnen zu hören, deshalb besuchen Sie bitte ihre Webseite www.fionagraceauthor.com über die Sie kostenlose Ebooks bekommen, wissenswerte Neuigkeiten rund um die Autorin erfahren und mit ihr in Kontakt treten können.


Copyright © 2019 durch Fiona Grace. Alle Rechte vorbehalten. Vorbehaltlich der Bestimmungen des U.S. Copyright Act von 1976 darf kein Teil dieser Publikation ohne vorherige Genehmigung des Autors in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln reproduziert, verteilt oder übertragen oder in einer Datenbank oder einem Abfragesystem gespeichert werden. Dieses eBook ist nur für Ihren persönlichen Gebrauch lizenziert. Dieses eBook darf nicht weiterverkauft oder an andere Personen weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch mit einer anderen Person teilen möchten, kaufen Sie bitte für jeden Empfänger ein zusätzliches Exemplar. Wenn Sie dieses Buch lesen und Sie es nicht gekauft haben, oder es nicht nur für Ihren Gebrauch gekauft wurde, dann senden Sie es bitte zurück und kaufen Sie Ihre eigene Kopie. Vielen Dank, dass Sie die harte Arbeit dieses Autors respektieren. Dies ist eine erfundene Geschichte. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind entweder das Ergebnis der Phantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, ob lebendig oder tot, ist völlig zufällig. Jacket image Copyright Helen Hotson, verwendet unter der Lizenz von Shutterstock.com.

BÜCHER VON FIONA GRACE

EIN LACEY DOYLE COZY-KRIMI

MORD IM HERRENHAUS (Buch #1)

DER TOD UND EIN HUND (Buch #2)

VERBRECHEN IM CAFÉ (Buch #3)

KAPITEL EINS

Nicht schuldig.

So stand es schwarz auf weiß und in schwungvoller Schrift auf dem Scheidungsurteil.

Nicht schuldig geschieden.

Lacey seufzte und betrachtete das vor ihr liegende Dokument. Der so harmlos aussehende Briefumschlag war gerade von einem pickeligen, großspurig tuenden Boten im Teenageralter bei ihr abgeliefert worden, ganz so als sei es nur um eine Lieferung vom Pizzadienst. Und obwohl Lacey genau wusste, worum es sich bei diesem von einem Kurier zugestellten Brief handelte, hatte sie in diesem Moment rein gar nichts gefühlt. Ihre Gefühle kamen erst zurück als sie auf ihr Sofa gesunken war, neben dem der Cappuccino, den sie wegen dem Klingeln an ihrer Tür unberührt auf dem Couchtisch stehen lassen hatte, immer noch leicht vor sich hin dampfte, den Umschlag aufgerissen und ihm das besagte Dokument entnommen hatte.

Die Scheidungspapiere.

Die Scheidung.

Zuerst hatte sie aufgeschrien und die Papiere auf den Boden geschmissen, so wie es jemand getan hätte, der unter großer Angst vor Spinnen litt und dem man gerade eine lebende Tarantel zugesandt hatte.

Und nun lagen sie also da, kreuz und quer verstreut über den modischen und ziemlich teuren Teppich, den ihr ihre Chefin Sandra, die Besitzerin des Einrichtungsgeschäftes, in dem sie arbeitete, geschenkt hatte. Selbst von da unten aus starrten ihr die Worte David Bishop gegen Lacey Bishop entgegen. Daneben kristallisierten sich aus dem Wust der vor ihr liegenden Worte ein paar einzelne Begriffe heraus: Auflösung der Ehe, unüberwindliche Differenzen, nicht schuldig,,

Zögerlich sammelte sie die Papiere vom Boden auf. Eigentlich war das Ganze gar nicht so überraschend gekommen. Mit den Worten „Du hörst noch von meinem Anwalt!“ hatte David einen Schlussstrich unter ihre vierzehnjährige Ehe gesetzt. Doch das alles hatte Lacey nicht vor dem gefühlsmäßigen Zusammenbruch bewahren können, der nun, wo sie die Papiere tatsächlich in den Händen hielt, über sie hereingebrochen war. Es gab einfach nichts, das sie vor dem Schrecken und der Endgültigkeit des schwarz auf weiß vor ihr liegenden Dokuments, das ihr bescheinigte „nicht schuldig“ zu sein, bewahren konnte.   So ging man eben in New York an die Dinge heran – unschuldig geschieden zu sein ist doch weniger schlimm als schuldig geschieden zu sein, oder? Aber die Worte „nicht schuldig“ kamen Lacey in ihrem Fall etwas dick aufgetragen vor. Wenn man allerdings David glaubte, dann war sie – und zwar sie ganz allein – schuld am Ende ihrer Ehe. Denn schließlich war sie 39 Jahre alt und noch immer kinderlos, ja sie hatte noch nicht ein einziges Mal irgendwelche Anzeichen dafür gezeigt, dass sie schwanger sein könnte. Genauso wenig hatte sie beim Anblick fremder Babys, zum Beispiel denen, die es im Laufe der Jahre in ihrem Freundeskreis zuhauf gegeben hatte, irgendwelche Hormonwallungen bekommen.


„Deine biologische Uhr tickt“, hatte ihr David eines nachts bei einem Glas Merlot erklärt, womit er aber wohl eher meinte: „Unsere Ehe ist eine tickende Zeitbombe.“

Lacey entfuhr ein tiefer Seufzer. Ach, wenn sie damals, mit 25 Jahren, als sie ihn in einem einzigen Rausch aus weißem Konfetti und überschäumendem Champagner geheiratet hatte, nur schon gewusst hätte, dass ihr die Tatsache, dass es ihr wichtiger sein würde Erfolg im Beruf zu haben als Mutter  zu werden einmal zum Verhängnis werden würde.

Nicht schuldig. Ha!

Mit Gliedern, die plötzlich so schwer wie Blei zu sein schienen, machte sie sich auf die Suche nach einen Stift und fand schließlich einen in dem Behälter, in dem sie ihre Schlüssel aufbewahrte. Wenigstens hatte jetzt – wo kein David mehr hier herummarschierte und nach verschusselten Schuhen, verlegten Schlüsseln, verlorenen Brieftaschen und nicht mehr aufzufindenen Sonnenbrillen suchte – alles wieder seine Ordnung hatte. Zwar war jetzt wieder alles dort, wo sie es hingetan hatte, doch wenn sie ehrlich war, war ihr das auch kein besonderer Trost.

Mit dem Stift in der Hand ging sie zurück zum Sofa, wo sie diesen auf der gepunkteten Linie ansetzte, auf der sie unterschreiben sollte. Doch bevor der Stift das Papier tatsächlich berührte hielt Lacey inne und ließ diesen weniger als einen Millimeter über der gepunkteten Linie schweben, als gäbe es da eine unsichtbare Grenze zwischen dem Kugelschreiber und dem Papier. Denn inzwischen hatte das Wort „Ehegattenunterhalt“ ihre Aufmerksamkeit erregt.

Stirnrunzelnd blätterte Lacey die entsprechende Seite auf und überflog die entsprechende Klausel. Diese besagte, dass Lacey als der besser verdienende Teil von ihnen und die alleinige Eigentümerin der Wohnung in der Upper Eastside, in der sie gerade saß, David über einen „Zeitraum von bis zu zwei Jahren“ hinweg eine „bestimmte Summe“ zu zahlen hätte, damit er sich „unter ähnlichen Bedingungen wie den ihm bisher gewohnten“ ein neues Leben aufbauen könne.

Lacey gab ein klägliches Lachen von sich. Was für eine Ironie es doch war, dass David jetzt ausgerechnet von ihrer Karriere profitieren sollte, die doch der Faktor gewesen war, der letztendlich zum Ende ihrer Ehe geführt hatte! David, der schon immer ein etwas kleinkarierter Gerechtigkeitsfanatiker gewesen war, würde dies bestimmt als eine Art „Entschädigung“ sehen. Doch Lacey wusste genau, was diese Zahlungen wirklich sein sollten, nämlich: Vergeltung. Rache. Heimzahlung.

Das ist wie ein Tritt in den Hintern, dachte sie.

Plötzlich verschwamm Lacey alles vor den Augen, so dass sie ihren Nachnamen nicht mehr erkennen konnte und ihr die Tinte verlaufen und das Papier unter ihrem Stift zerknittert vorkam. Dies lag wohl an der außer Kontrolle geratenen Träne, die aus ihrem Auge und auf das Papier getropft war. Wütend wischte sie mit dem Handrücken über das verräterische Auge.

Jetzt muss ich wohl wieder meinen Mädchennamen annehmen, dachte sie.

Denn Lacey Fay Bishop war Geschichte. Sie existierte nicht mehr. Das war der Name von Davids Frau gewesen und die war sie, sobald sie auf der gepunkteten Linie unterschrieben hatte, nun einmal nicht mehr. Sie würde wieder zu dem ihr seit ihren zwanziger Jahren nicht mehr vertrauten und inzwischen fast gänzlich in Vergessenheit geratenen Mädchen Lacey Fay Doyle werden.

Doch der Name Doyle bedeutete Lacey fast noch weniger als der Name, den sie sich in den letzten vierzehn Jahren von David „geborgt“ hatte.

Ihr Vater hatte die Familie verlassen als sie sieben Jahre alt gewesen war, direkt nach einem ansonsten wunderbaren Familienurlaub in dem idyllischen englischen Küstenstädtchen Wilfordshire. Seitdem hatte sie ihren Vater nicht mehr gesehen. Eben noch da – Eis schleckend an einem zerklüfteten, wilden, windigen Strand – war er am nächsten Tag verschwunden gewesen.

Und nun hatte sie ebenso versagt wie ihre Eltern damals! Nach all den Tränen, die sie in ihrer Kindheit über das Verschwinden ihres Vaters vergossen hatte und all den bitteren Vorwürfen, die sie ihrer Mutter als Teenager deswegen gemacht hatte, hatte sie nun als Erwachsene dieselben Fehler gemacht wie ihre Eltern! Sie hatte ihre Ehe ebenso in den Sand gesetzt wie diese. Der einzige Unterschied zwischen uns ist, dass von ihrem Versagen nur sie und David betroffen waren und niemand sonst in Mitleidenschaft gezogen worden war. Ihre Scheidung ließ wenigstens keine zwei verstörten, psychisch angeknacksten Töchter zurück. Sie starrte wieder auf diese verdammte Linie hinunter, auf der sie unterschreiben sollte, Doch Lacey zögerte dies immer noch hinaus. Es schien ihr als könne sie sich gerade auf nichts anderes konzentrieren als auf ihren neuen Namen.

 

Vielleicht lasse ich meinen Nachnamen in Zukunft ganz weg, dachte sie sich ironisch. Ich könnte mich Lacey Fay nennen, als wäre ich irgendein Popstar. Sie spürte wie sich ein hysterisches Lachen in ihrer Brust breitmachen wollte. Aber warum nicht gleich Nägel mit Köpfen machen? Für ein paar Dollar könnte ich mir einen ganz neuen Namen zulegen. Ich könnte mich – Sie sah sich auf der Suche nach einer Eingebung in ihrem Wohnzimmer um, wobei ihr Blick schließlich an der immer noch unberührt vor ihr auf dem Tisch stehenden Kaffeetasse hängen blieb – Lacey Fay Cappuccino nennen. Warum eigentlich nicht? Prinzessin Lacey Fay Cappuccino!


Sie brach in ein wildes, lautstarkes Gelächter aus, bei dem sie ihren mit glänzenden dunklen Locken bedeckten Kopf zurückwarf. Doch dieser Lachanfall verebbte so schnell wie er gekommen war und so wurde es in der Wohnung, in der sich ja außer ihr selbst niemand aufhielt, plötzlich wieder sehr still.

Schnell kritzelte Lacey ihren Namen unter die Scheidungspapiere. Das war‘s dann also gewesen.

Sie nippte an ihrem Kaffee. Er war kalt.

*

Wie jeden Tag betrat Lacey die ziemlich volle U-Bahn, die sie zu dem Büro bringen sollte, in dem sie als Assistentin einer Innenarchitektin beschäftigt war. Mit ihren hochhackigen Schuhen und ihrer Handtasche reihte sich Lacey nahtlos in die Menge der anderen Pendlerinnen ein. Nur, dass sie anders war als die anderen. Denn unter der halben Million anderer Pendler, die an diesem Morgen die New Yorker U-Bahn bevölkerten, war sie wahrscheinlich die einzige, die noch vor ihrem Aufbruch zur Arbeit ihre Scheidungspapiere zugestellt bekommen hatte. Und so war sie nun das neueste Mitglied im Club der traurigen Scheidungsopfer.

Lacey fühlte wie ihr die Tränen kamen. Sie schüttelte ihren Kopf und zwang sich dazu, an schönere Dinge und bessere Zeiten zu denken. Das erste, das ihr dabei in den Kopf kam, war Wilfordshire und der friedliche, wildromantische Strand, dieses Badertes. Plötzlich erinnerte sie sich sehr lebhaft an das Meer und die salzhaltige Luft. Sie erinnerte sich an den Eiswagen mit seiner gruseligen Klingel und an die heißen Pommes – ihr Vater hatte ihr gesagt, dass diese in England Chips hießen – die man dort in kleinen Styroporschalen kaufen konnte und die dann mit kleinen Holzgabeln aufgespießt wurden, sowie an die vielen Möwen, die versuchten die Pommes zu klauen, sobald man einmal nicht hinsah. Sie dachte an ihre Eltern und wie fröhlich ihr diese damals im Urlaub vorgekommen waren. .

War das alles eine einzige Lüge gewesen? Sie war damals erst sieben Jahre alt gewesen und Naomi war sogar erst vier und damit waren sie beide zu jung gewesen, um die wahren Gefühle von Erwachsenen deuten zu können. Aber wie es aussah waren ihre Eltern  wahre Meister im Vorspielen und Verhehlen von Gefühlen gewesen zu sein, denn eigentlich schien alles um sie herum perfekt zu sein, bis quasi über Nacht alles den Bach hinab gegangen war.

Zwar waren Lacey ihre Eltern damals wirklich glücklich vorgekommen aber wahrscheinlich hatten auch David und sie auf ihre Umgebung so gewirkt  als fehlte es ihnen an nichts. Und eigentlich war das ja auch so gewesen. Sie hatten eine nette Wohnung gehabt und gut bezahlte Jobs, die ihnen Spaß machten. Und sie waren gesund. Das einzige, das ihnen gefehlt hatte, war eines dieser verdammten Babys, die auf einmal angefangen hatten, eine so große Rolle in Davids Gedanken einzunehmen. Diese  waren fast genauso schnell gekommen, wie das Verschwinden ihres Vaters. Vielleicht war das so ein „Männerding“. So ein plötzlicher Moment der Erkenntnis, nach dem es kein Zurück mehr in ihr ihr altes Leben geben konnte und alles, was ihnen im Weg stand, niedergebrannt werden musste, weil es ihnen sowieso nichts mehr wert war.

Lacey verließ die U-Bahn und reihte sich in die Menschenmassen ein, die sich durch die Straßen von New York City schoben. Sie lebte schon ihr ganzes Leben lang in New York, doch nun kam ihre Umgebung dort auf einmal erdrückend eng vor. Sie hatte die Geschäftigkeit dieser Stadt immer geliebt – ganz zu schweigen von ihren Geschäften. Eigentlich war New York immer ihr ein und alles gewesen. Doch inzwischen sehnte sie sich von ganzem Herzen nach einer radikalen Veränderung ihres Lebens. Und nach einem Neuanfang.

Auf ihrem Weg zu ihrem nur ein paar Blocks entfernt gelegenen Büro fischte sie ihr Handy aus ihrer Handtasche und rief Naomi an. Ihre Schwester ging schon beim ersten Klingeln ran.

„Alles okay bei dir, Schatz?“

Dass Naomi trotz der frühen Stunde so schnell an ihr Telefon ging lag daran, dass sie schon damit gerechnet hatte, dass Lacey ihre Scheidungspapiere bekommen würde. Doch die Scheidung war das letzte über das Lacey jetzt sprechen wollte.

„Kannst du dich noch an Wilfordshire erinnern?“

„Hä?“

Naomi klang verschlafen, was nicht weiter verwunderlich war, weil sie als alleinerziehende Mutter von Frankie, dem wildesten 7-jährigen Jungen aller Zeiten jeden Tag ziemlich viel zu tun hatte.

„Wilfordshire. Wo wir unseren letzten Urlaub mit Mama und Papa verbracht haben.“

Einen Augenblick lang war es ganz still am anderen Ende der Leitung.

„Warum fragst du mich danach?“

Wie ihre Mutter sprach auch Naomi nie über etwas, das irgendwie mit ihrem Vater zu tun hatte. Als er verschwand war sie jünger gewesen als Lacey, weshalb sie behauptete sowieso keine Erinnerung an ihn zu haben und auch keine Zeit und Energie damit verschwenden wolle, sich Gedanken über sein plötzliches Verschwinden zu machen. Aber als sie eines nachts ein paar Schnäpschen zu viel intus hatte, hatte sie zugegeben, dass sie sich doch sehr gut an ihn erinnere und oft von ihm träume. Außerdem hatte sie ihrem Vater in ihren über einen Zeitraum von drei Jahren stattfindenden, allwöchentlichen Therapiesitzungen stets die Schuld am Scheitern all ihrer eigenen Beziehungen zugeschoben. Mit vierzehn hatte Naomi ihre erste chaotische Beziehung gehabt, der seitdem eine Menge weitere, nicht weniger chaotische gefolgt waren. Naomis Liebesleben war so ein Durcheinander, dass es Lacey ganz schummerig wurde, wenn sie nur daran dachte.

„Die Papiere sind gekommen.“

„Oh Schatz, das tut mir so leid. Bist du – FRANKIE LEG DAS HIN ODER ES SETZT WAS!“

Während Naomi Frankie alle möglichen schrecklichen Dinge androhte, wenn er nicht sofort mit dem aufhöre, was er gerade tat (was immer das auch sein mochte) hielt Lacey das Handy mit einem leisen Seufzen ein wenig von ihrem Ohr weg.

„Tut mir leid Schatz,“ sagte Naomi jetzt wieder in normaler Lautstärke. „Bist du okay?“

„Es geht mir gut.“ Lacey machte eine kleine Pause. „Nein, eigentlich geht es mir nicht so besonders. Ich bin irgendwie durcheinander. Auf einer Skala von eins bis zehn – wie verrückt würdest du es finden, wenn ich meinen Job schwänzen und den nächsten Flug nach England nehmen würde?“

„Äh, ich bin da ungefähr bei elf. Die werden dich feuern.“

„Ich frage sie einfach, ob sie mir unbezahlten Urlaub geben.“

Lacey konnte förmlich hören wie Naomi mit den Augen rollte.

„Du willst Saskia echt nach einem freien Tag oder gar nach unbezahltem Urlaub fragen? Erinnerst du dich denn nicht mehr daran, wie sie dich letztes Jahr über Weihnachten durcharbeiten lassen hat?“

Bestürzt zog Lacey eine Schnute – eine Geste, die sie laut ihrer Mutter von ihrem Vater geerbt hatte. „Ich muss aber irgendwas tun, Naomi. Ich fühle mich so erdrückt von dem allem.“ Wie zur Bekräftigung ihrer Worte begann sie am Hals ihres Rollkragenpullovers, der sich plötzlich wie eine Schlinge um ihren Hals anfühlte, herumzuziehen.

„Natürlich fühlst du dich jetzt so, als müsstest du etwas an deinem Leben ändern. Das ist in deiner Situation wohl ganz normal. Ich will bloß nicht, dass du etwas Unüberlegtes tust. Die Frage ist doch: warum wirfst du jetzt, wo David weg ist, auch noch deine Karriere hin, die dir ja scheinbar immer wichtiger war als er?“

Lacey blieb stehen und runzelte ihre Stirn. Meinte Naomi, das was sie da gerade gesagt hatte wirklich ernst?

„Ich habe meiner Karriere nie den Vorzug vor David gegeben – schließlich war es doch er, der mir ein Ultimatum gestellt hat.“

„Lege dir die Geschichte ruhig so zurecht wie sie dir am besten passt, Lace, aber…FRANKIE! FRANKIE! ICH SCHWÖRE DIR – “

Inzwischen war Lacey an ihrem Büro angekommen. Sie seufzte kurz auf. „Tschüss, Naomi.“

Damit beendete sie ihr Telefonat und blickte an dem großen Backsteingebäude hoch, in dem sie 15 Jahre ihres Lebens gearbeitet hatte. Fünfzehn Jahre für den Job. Vierzehn Jahre für David. Jetzt war es an der Zeit, einmal an sich selbst zu denken. Nur ein kleiner Urlaub. Eine Reise in ihre Vergangenheit. Eine Woche. Vierzehn Tage. Höchstens einen Monat lang. Plötzlich wurde es Lacey ganz leicht ums Herz. Sie betrat das Gebäude. Saskia stand über einen Computer gebeugt da und brüllte einem verängstigt dreinblickenden Angestellten Befehle ins Gesicht. Noch bevor ihre Chefin die Gelegenheit hatte, sich ihr zuzuwenden, streckte Lacey ihr eine Hand entgegen, um ihr zu signalisieren, dass sie ruhig sein solle. Denn jetzt sprach sie:  „Ich nehme mir ein paar Tage frei.“

Bevor sie auf den Absätzen kehrt machte und auf demselben Weg, auf dem sie eben hereingekommen war, wieder hinausmarschierte, sah sie gerade noch, wie Saskia die Stirn runzelte.

Fünf Minuten später hing Lacey wieder am Telefon und buchte einen Flug nach England.

KAPITEL ZWEI

„Mensch, Schwesterherz, bist du jetzt total durchgeknallt?“

„Liebling, du verhältst dich vollkommen irrational.“

„Geht’s Tante Lacey gut?“

Diese Worte von Naomi, Mama und Frankie geisterten immer noch in Laceys Kopf herum, als sie aus dem Flugzeug stieg und das Rollfeld des Flughafens Heathrow betrat. Vielleicht war es ja verrückt gewesen, den ersten Flug vom JFK Flughafen nach England zu nehmen, sich sieben Stunden in ein Flugzeug zu setzen und nichts weiter mitzunehmen als ihre Handtasche und eine Tragetasche, die nur ein paar schnell in den Läden am Flughafen zusammengekaufte Hygieneartikel und Kleidungsstücke enthielt. Aber seit dem Moment, in dem sie Saskia, David und New York den Rücken zugekehrt hatte, fühlte sie sich richtiggehend beschwingt. Sie fühlte sich jung. Sorglos. Zu Abenteuern aufgelegt. Mutig. Sie fühlte sich wieder wie die Lacey Doyle, die sie VD (Vor David) gewesen war.


Ihrer Familie die Neuigkeit zu überbringen, dass sie sich mal eben ohne Vorwarnung auf den Weg nach England machen würde, war allerdings deutlich weniger erhebend gewesen. Zwar hatte sie dies nur übers Telefon erledigt, doch das Dumme an der Sache war gewesen, dass keiner ihrer Lieben einen Anrufbeantworter zu haben schien und sie alle kein Blatt vor den Mund nahmen. Und so hatte Lacey das „Vergnügen“ gehabt, von allen Dreien die Leviten gelesen zu bekommen.

„Was ist, wenn du gefeuert wirst?“ jammerte ihre Mutter.

„Die feuern sie ganz bestimmt“, war Naomis Meinung dazu.

Und Frankie wollte wissen: „Hat Tante Lacey einen Nervenzusammenbruch?“

Lacey stellte sich vor, wie die drei an einem Konferenztisch saßen und alles dafür taten, sie von der Verwirklichung ihres Traums abzuhalten. Aber natürlich verhielt das Ganze sich in Wirklichkeit doch ein wenig anders, denn schließlich waren diese Drei die Menschen, die ihr am nächsten standen, und so war es geradezu deren Pflicht, zu versuchen, sie auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Wer sollte das denn in diesem ihrem neuen, ihr noch vollkommen unvertrauten Abschnitt ihres Lebens, den sie ND – Nach David – nannte, auch sonst tun?

Lacey durchquerte die Wartehalle, wobei sie einfach hinter den anderen, ebenfalls übernächtigten Passagieren herging. Draußen empfing sie der berühmte englische Sprühregen. So viel zum Frühling. Doch obwohl die feuchte Luft die Haare auf Laceys Kopf dazu brachte sich zu kräuseln, kehrte in ihrem Kopf eine wohltuende Ruhe ein, die es ihr endlich einmal ermöglichte, richtig nachzudenken. Doch was auch immer kommen würde, eines war klar: es gab keinen Weg zurück – nicht nach dem 7-stündigen Flug, der gerade hinter ihr lag und den hunderten von Dollars, die sie für das Flugticket bezahlt hatte.

Der Flughafen war ein riesiges, an ein Gewächshaus erinnerndes Gebäude, das nur aus Stahl und glänzendem, blau getöntem Glas zu bestehen schien und von einem hochmodernen, gewölbten Dach beschirmt wurde. Lacey betrat das glänzende, geflieste Bauwerk, an dessen Wänden sie einige von einer Gesellschaft mit dem altmodischen Namen „British Building Society“ zur Verfügung gestellte kubistische Gemälde ausmachte, und reihte sich in die Schlange am Passkontrollschalter ein. Als sie an der Reihe war, sah sie sich einer finster blickenden Blondine mit schwarzen, extra breit geschminkten Augenbrauen gegenüber. Lacey reichte der Frau ihren Pass.

 

„Was ist der Zweck Ihres Aufenthalts? Geschäftlich oder privat?“

Die Frau sprach mit einem ziemlich harten Akzent, der Lacey in nichts an  den sanften, charmanten Akzent, den sie von den Auftritten einiger britischer Schauspieler in ihren Lieblingstalkshows her kannte und mochte, erinnerte.

„Ich mache Urlaub.“

„Da ist kein Rückflugticket.“

Da die Frau einen ziemlich ungewöhnlichen Umgang mit der Grammatik pflegte dauerte es eine Weile bis Lacey bewusst war, auf was diese hinauswollte. „Ich weiß noch nicht, wann ich zurückfliege.“

Die Kontrolleurin hob ihre dicken, fetten Augenbrauen und man konnte ihr vom Gesicht ablesen, dass ihr anfängliches Misstrauen zu einem richtigen Verdacht geworden war. „Aber wenn Sie hier arbeiten wollen, dann brauchen Sie ein Visum.“ „acey schüttelte den Kopf. „Das habe ich nicht vor. Das letzte, was ich hier tun möchte, ist arbeiten. Ich habe gerade eine Scheidung hinter mir. Ich brauche einfach eine Auszeit, um mich zu sammeln – vielleicht mal ein Eis essen gehen und mir den einen oder anderen schlechten Film anschauen.“

Sofort entspannte sich das Gesicht der Frau und nahm sogar einen mitleidigen Ausdruck an, der Lacey vermuten ließ, dass auch sie Mitglied im Club der traurigen Scheidungsopfer war.

Sie gab Lacey ihren Pass zurück. „Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt. Und Kopf hoch!“

Lacey schluckte, um den plötzlich in ihrem Hals aufgetauchten „Frosch“ loszuwerden, bedankte sich bei der Kontrolleurin und ging zum Ankunftsbereich weiter. Dort standen ein paar Grüppchen von Leuten herum, die auf die Ankunft ihrer Lieben warteten. Einige hatten Ballons dabei und wieder andere Blumen. Eine Gruppe, die aus ein paar sehr blonden Kindern bestand, hielt ein Schild in den Händen, auf dem stand: „Herzlich willkommen zu Hause, Mama! Wir haben dich vermisst!“

Natürlich war da niemand, der auf Lacey wartete, was sie auf ihrem Weg durch die belebte Wartehalle zum Ausgang dazu brachte, darüber nachzudenken, dass es von nun an keinen David mehr geben würde, der sie an irgendeinem Flughafen willkommen heißen würde.

Wenn sie doch nur bei der Rückkehr von ihrer bisher letzten Geschäftsreise, die sie zum Einkauf antiker Vasen nach Mailand geführt hatte, geahnt hätte, dass dies das letzte Mal sein würde, dass David sie am Flughafen mit einem Grinsen im Gesicht und einem großen Strauß bunter Gänseblümchen in Empfang nahm. Denn dann hätte sie diesen Augenblick viel mehr zu schätzen gewusst.

Draußen angekommen winkte Lacey sich ein Taxi heran. Es handelte sich dabei um eine der für englische Taxis typischen, altmodischen, schwarzen Kutschen, so dass Lacey gleich in eine nostalgische Stimmung versetzt wurde. Denn auch damals, in ihrem so viele Jahre zurückliegenden, fatalen letzten Familienurlaub, waren sie, Naomi und ihre Eltern mit so einem schwarzen Taxi gefahren.

„Wohin möchten Sie?“ fragte der Taxifahrer, als sie auf den Rücksitz des Taxis schlüpfte.

„Nach Wilfordshire.“

Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie wieder etwas von dem Taxifahrer hörte. Der drehte sich auf seinem Sitz ganz zu ihr herum, um ihr bei dem, was er zu sagen hatte, ins Gesicht schauen zu können; dabei runzelte er sichtlich entgeistert seine drahtigen Brauen. „Sie wissen aber schon, dass die Fahrt dorthin zwei Stunden dauert?“

Lacey blinzelte ebenfalls irritiert, denn sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was ihr der Fahrer mit dieser Frage sagen wollte.

„Das ist schon okay,“ meinte sie und zuckte dabei mit den Schultern.

Jetzt wirkte der Taxifahrer noch etwas entgeisterter als zuvor. „Sie kommen aus Amerika, oder? Ich weiß zwar nicht, was ihr dort drüben so für Taxifahrten zahlen müsst, aber hier bei uns kostet eine Fahrt von zwei Stunden eine schöne Stange Geld.“

Die raue Art des Taxifahrers überraschte Lacey ein wenig, denn zum einen entsprach diese so gar nicht dem Klischee des frechen Londoner Taxifahrers und zum anderen war sie irritiert davon, dass dieser Typ anscheinend glaubte, sie könne sich eine solche Fahrt nicht leisten. Sie fragte sich, ob das wohl daran lag, dass sie eine allein reisende Frau war. Denn bei keiner der längeren Taxifahrten, die sie bisher zusammen mit David unternommen hatte, waren sie je gefragt worden, ob sie diese Fahrt auch bezahlen könnten.

Deshalb versicherte sie dem Taxifahrer in leicht unterkühltem Ton: „Keine Sorge, ich habe Geld zahlen.“

Daraufhin drehte sich der Fahrer wieder nach vorne und setzte sein Taxameter in Gang. Dieses meldete sich mit einem Piepsen und dem Aufleuchten eines grünen Pfund-Symbols, das schon wieder nostalgische Gefühle in Lacey auslöste.

„Ich fahre Sie so lange, wie Ihr Geld reicht“, meinte der Taxifahrer mit dünner Stimme und setzte den Wagen in Bewegung.

Das ist dann wohl die englische Gastfreundschaft, dachte Lacey bei sich.

*

Wie von dem Taxifahrer angekündigt kamen sie zwei Stunden später in Wilfordshire an, was Lacey sage und schreibe 250 Pfund kostete. Doch sobald Lacey aus dem Wagen gestiegen war und die herrlich frische Meeresbrise eingeatmete gerieten die hohe Taxirechnung und der unfreundliche Taxifahrer  sofort in Vergessenheit. Sogar die Luft hier roch noch genau so, wie sie es in Erinnerung gehabt hatte.

Lacey hatte sich schon immer darüber gewundert, wie viel Gerüche und unser Geschmackssinn zu unserem Erinnerungsvermögen beitrugen, und tat das auch jetzt wieder. Die nach Salz riechende Luft hatte sie sofort in einen ihr seit dem Verschwinden ihres Vaters abhanden gekommenen Zustand einer sorglosen Leichtigkeit versetzt. Dieses Gefühl von Leichtigkeit war so stark, dass es sie ganz zittrig machte. Mit einem Schlag fielen die ganzen Ängste, die ihre Familie ihr wegen dieser ungeplanten Reise eingeimpft hatte, von ihr ab. Das hier war genau das, was Lacey jetzt brauchte.

Sie ging die Hauptstraße entlang. Hier gab es keinen leichten Regen wie zuvor am Londoner Flughafen, sondern einen Sonnenuntergang, dessen letzte Strahlen die Umgebung in ein goldenes Licht tauchten und auf diese Weise fast magisch erscheinen ließen. Alles war genauso, wie Lacey es in Erinnerung hatte: da gab es die zwei sich gegenüber liegenden Reihen alter Steinhäuschen, die direkt auf dem Kopfsteinpflaster des Ortes erbaut worden waren und deren große, noch im alten Stil erhaltenen Erkerfenster zur Straßenseite hinausgingen. Und auch die Lädchen einschließlich ihrer Schaufenster sahen noch genauso aus wie früher. Sie hatten sogar noch alle ihre ursprünglichen Holzschilder, die über den Ladentüren im Wind hin und her schwangen. Jeder dieser Läden war einzigartig, ganz gleich, ob es dort nun Kinderbekleidung, Kurzwaren, Gebäck oder Kaffee zu kaufen gab. Und dann war da noch ein altmodischer Süßwarenladen, in dem man die Wahl zwischen vielen farbenfrohen  Süßigkeiten hatte, die alle jeweils nur einen Penny kosteten.

Es war April und deshalb war die Stadt überall mit Girlanden für das bevorstehende Osterfest mit bunten Wimpeln geschmückt worden. Und die Sitzgelegenheiten vor den Pubs und Bistros der Stadt waren von Leuten bevölkert, die ihren Abend mit einem Bierchen oder einem schönen Essen ausklingen ließen. Die Laune war gut, es wurde geplaudert und gelacht.

Angesichts dieses entspannten Moments, in dem Lacey endlich eine lang ersehnte Ruhe empfand, griff sie zu ihrem Smartphone und hielt das fröhliche Treiben in einem Schnappschuss fest. Da auf dem Foto auch der silbern glitzernde Ozean sowie der vom Sonnenuntergang in verschiedene Rosatöne versetzte Himmel zu sehen war, hätte dieses auch gut als Postkarte durchgehen können. Deshalb lud sie das Bild hoch, um es mit der vor einiger Zeit von Naomi unter der Bezeichnung Doyle Girlz gegründeten Gruppe  – das heißt ihrer Familie zu teilen.

Es ist alles noch so, wie ich es in Erinnerung hatte, schrieb sie unter das tolle Bild.

Einen Augenblick später zeigte das Gerät Lacey mit einem leisen „Pling“ an, dass sie eine SMS bekommen hatte. Es war eine Nachricht von Naomi.