Bambis Kinder

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Bambis Kinder

Felix Salten

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Inhaltsverzeichnis

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

XXI

XXII

I

Feierlich war die nächtliche Stille.

Der Wald schlief, die Bäume, die Sträucher schlummerten, die Vögel hatten ihre Köpfe unter den Fittichen versteckt, selbst die Luft der warmen Frühsommernacht ruhte.

Lautlos und duftend atmete der Wald, in dem Traum seines Blühens befangen.

Klang zuweilen der wehmütig schöne Sang der Eule oder das kurze, gellende Schreien, das der Kauz hin und wieder ausstieß, so wurde dadurch die Stille noch tiefer.

Das Wild, Hirsche, Rehe, Hasen, vom Menschen seit undenklichen Zeiten gezwungen, sich tagsüber zu verbergen, streifte in der Finsternis auf Wiesen, Blößen, Schneisen umher und genoß Nahrung in Sicherheit.

Fuchs, Marder, Iltis, Wiesel vollführten ihre Raubzüge. Sie wurden minder gefürchtet als der Mensch, dessen Gegenwart auch sie mieden.

Noch blinkten die Sterne am Himmel, doch sie fingen an zu erblassen.

Ein allererster, fahler Schein frühester Dämmerung lockerte die Schwärze der Nacht, ohne sie merkbar zu erhellen.

»Wer geht denn da?« schäkerte erwachend die Elster.

Ihr Gefährte hob den Kopf aus dem Flügel, darin er ihn während des Schlummers geborgen hatte, und meinte: »Niemand! Wer soll auch jetzt schon kommen? Es dämmert ja kaum. Und ich höre nichts. Keinen Laut!«

Unten, vom Gebüsch her, wisperten die Meisen: »Doch! sicherlich! Jemand ist unterwegs. Das hat uns geweckt. Seltsam! Wir staunen.«

Mit schlaftrunkener Stimme zirpte die Amsel: »Ich wundere mich gleichfalls. So früh! So früh!«

Da kreischte der Häher: »Faline! Hach! Faline und ihre Kinder!«

Jetzt fing der Specht zu trommeln an: »Die brave Faline!« Er lachte gellend. »Die dumme Faline! Zu komisch!« Er hielt nämlich alle Geschöpfe für dumm außer sich selbst, und er trommelte stürmisch; das klang alarmierend.

Aus den Nestern flatterten die Krähen. »Faline!« krächzten sie mißbilligend, »Faline tut, was die Kinder befehlen! Eine Erziehung! Unerhört!« Sie stoben flügelklatschend davon.

In den Baumwipfeln regten sich die Tauben. »Stillsitzen!« mahnten sie einander, »sitzen bleiben, bis es hell wird. Noch lauert die Eule! Noch jagt der Kauz!«

Nun vernahmen alle leise zögernde Schritte.

Auf dem schmalen Pfad bogen sich die Zweige zur Seite; sie hingen schwer von Tau, und dicke Tropfen näßten das Fell der Rehe, die hier täglich gingen.

»Du bist merkwürdig, Geno«, sagte Faline zu ihrem Sohn, »warum drängst du immer so sehr, dich hinzulegen?«

»Weil ich müde bin«, antwortete Geno kurz.

»Er ist gar nicht müde«, ließ sich Gurri vernehmen, die immer dicht an der Flanke Falinens blieb. »Ich hätte noch so gerne draußen auf der Wiese gespielt.«

»Lauf doch hinaus!« rief Geno, »lauf nur! Ich bin müde und schläfrig.«

»Aber nein!« widersprach die Schwester, »das glaub ich dir nicht.«

»Dann laß es bleiben«, murrte jetzt Geno unwirsch.

»Kinder ... Kinder ...«, beschwichtigte Faline.

Die Geschwister neckten einander. Sie waren ganz jung, waren kaum im Begriff, die weißen Sprenkel zu verlieren, die sie bei ihrer Geburt mit auf die Welt gebracht hatten. Ihre roten Röckchen färbten sich um einen Schatten dunkler.

»Boso und Lana sind gewiß noch draußen«, klagte Gurri, »die warten, bis ihnen die Mutter das Zeichen gibt, einzuziehen. Nur du wartest nie! Aber so früh wie heute ...!«

Geno schwieg.

»Tante Rolla wird mit ihnen nun gewiß schon zur Ruhe gehen«, sagte Faline.

»Ach, es ist noch lang Zeit«, plauderte Gurri, »und ich hab die beiden so gerne, Boso und Lana.«

»Ich mache mir gar nichts aus ihnen«, urteilte Geno.

»Sie sind so fröhlich«, wandte Gurri ein.

»Albern sind sie!« beharrte Geno.

»Natürlich! Nur du bist gescheit!«

»Ich? Ich bin ein Kind!«

»Wir alle sind Kinder. Und Boso ist reizend.«

»Meinetwegen.«

»Lana hat ein ... sie schaut entzückend aus.«

»Lana?« Geno wollte spotten, da entfuhr ihm ein Schreckensruf. »Ba –« Er sprang mit allen vier Läufen hoch.

Durch Farne und Lattich raschelte etwas.

»Wer war das?« Geno zitterte am ganzen Leib.

»Nur der Iltis«, gab Faline Auskunft, »der tut dir nichts. Hab keine Angst.«

Doch Geno wurde schwer wieder ruhig; die Witterung atmend, stotterte er: »Dieser Iltis ... riecht fürchterlich.«

Gurri erklärte: »Geno hat immer Angst. Immer ist er bange. Deshalb müssen wir auch gar so zeitig ...«

»Schwatz nicht«, unterbrach sie Geno, »sicher ist sicher. Du wirst noch einmal mit deinem Leichtsinn ins Unglück geraten. Sicherheit bleibt das Allerbeste.«

»Er zittert noch«, lächelte Gurri, »auch auf der Wiese waren wir sicher.«

»Hier sind wir es viel mehr.«

»Als ob hier drinnen nichts passieren könnte!« Gurri lachte. »Wenn der Iltis vorbeihuscht, kannst du dich nicht fassen.«

»Ich bin eben erschrocken«, rechtfertigte sich Geno, »und der Bursche stinkt entsetzlich.«

»Laß deinen Bruder«, mengte sich Faline in das kindliche Geplänkel, »Geno hat recht. Vorsicht ist für uns notwendig. Wachsamkeit bleibt unsere Bestimmung. Die Welt mag wundervoll herrlich sein, aber sie birgt zahllose Gefahren. Wer von uns lange leben, wer sich an der Welt erfreuen will, darf in der hellsten Lustigkeit niemals vergessen, wie viele Gefahren uns umlauern. Beständig müssen wir auf der Hut sein. Dann ist alles schön. Wir können uns nicht sonderlich wehren. Unsere Waffen sind Aufpassen, uns verbergen und rechtzeitige Flucht. Lieber zu früh von der Wiese fort als zu spät. Geno ist klug, und er wird hoffentlich lange leben.«

Die Kinder lauschten.

Geno ging stolz in dem leise schwankenden Schritt ganz junger Rehe.

Gurri ließ die Ermahnungen der Mutter von sich abgleiten; sie nahm das oft Gehörte leicht. Die Stimme der Mutter klang angenehm zärtlich, doch was sie sagte, berührte die Kleine nur oberflächlich, und Gurri blieb heiter.

Nun waren sie angelangt.

Ein enger Platz, umhegt von dichtem Buschwerk, überschattet von hohen alten Eschen, Buchen und Eichen, bot ihnen Heimstätte, gewährte so guten Schutz, wie man nur überhaupt verlangen konnte. Eine hohe Pappel überragte schlank die anderen Bäume. Gleich Mauern standen hier Haselstauden, Holundersträucher, wuchsen Hartriegel, Liguster, und weiches, duftendes Moos deckte die schwarze Walderde beinahe völlig. Hier hatte Faline ihre Kinder geboren. Das Eichhörnchen kam zu dieser schweren Stunde damals neugierig und teilnahmsvoll herbei und blieb seither Faline wie den Kindern freundschaftlich verbunden. Hier unten im Gebüsch, oben in den Wipfeln nisteten noch andere Freunde, die Elster, der Häher, der Specht, die Schar der Meisen, und alle behüteten den Schlaf der Rehe, alle gaben Warnungszeichen, wenn sich jemand näherte, der vielleicht böse Absichten hatte.

Behaglich tat sich Faline nieder; Geno und Gurri schmiegten sich an ihren warmen Leib. Geno bat: »Mutter, erzähl uns etwas.«

»Ich hab' geglaubt«, rief Gurri dazwischen, »ich hab' geglaubt, du bist schläfrig.«

»Was soll ich erzählen?« fragte Faline.

»Erzähle von deinem Bruder Gobo«, schlug Geno vor.

»Ja, ja!« stimmte Gurri ein, »von Gobo, von Gobo!«

»Die Geschichte habt ihr doch schon oft gehört.«

»Das macht nichts«, meinte Geno, »sie ist so spannend.«

Und Gurri sagte eifrig: »Diese Geschichte kann ich immer hören, immer! Dabei fürchte ich mich so schön.«

»Der arme Gobo«, seufzte Faline, »er war als Kind sehr schwach, und den Winter vermochte er nicht zu ertragen.«

 

»Was ist das, Winter?« begehrte Geno Auskunft.

»Er fragt schon wieder«, ärgerte sich Gurri, »wie oft soll die Mutter dir sagen, was Winter ist?«

»Weißt du es denn so genau?« erwiderte Geno.

Und bekam die Antwort: »Winter ist, wenn man Hunger hat.«

»Dann hab ich jeden Tag Winter«, erklärte Geno und bat die Mutter: »Sag also, was Winter ist – das gehört zur Geschichte.«

»Ja«, sprach Faline, »es ist schon richtig, was Gurri sagt. Man hungert und man findet nur wenig, oft auch gar nichts zu essen. Die Bäume und Sträucher stehen nackt; ihr Laub welkt auf der Erde, das Gras verdorrt mit allen Kräutern; sie sind tot, schmecken bitter oder sauer. Man friert vor Kälte und muß froh sein, wenn einem der Schnee nicht die Füße blutig reißt.«

»Gleich wird er fragen, was Schnee ist«, meldete Gurri.

»Gewiß frage ich«, versicherte Geno, »denn das macht die Geschichte so fürchterlich.«

»Schnee«, berichtete die Mutter, »fällt vom Himmel, weiß und kalt. Schnee bleibt am Boden liegen, zuweilen so hoch, daß es Plage kostet, ja daß es unmöglich wird, sich ein bißchen Nahrung hervorzuscharren. Das Gehen, erst gar das Laufen oder Springen wird sehr mühsam. Man braucht Kraft.«

»Jetzt weiter von Gobo«, bat Geno. Faline erzählte: »Der arme Gobo hatte keine Kraft. Als der wilde Schrecken durch den Wald tobte, mußten wir alle flüchten. Viele sind von der Donnerhand getroffen worden, nicht nur Rehe. Viele Fasanen und Hasen, sogar Füchse. Auch der Vater hat an diesem entsetzlichen Tag seine Mutter verloren. Gobo ist im Schnee zusammengestürzt. Der Vater war damals ein Kind, nicht älter als Gobo, aber gesund und stark. Er kam an Gobo vorbei; er hat ihn gesehen, hat mit ihm gesprochen, hat ihm zugeredet, ihn gebeten, sich aufzuraffen, doch mein unglücklicher Bruder vermochte das nicht, und die beiden haben Abschied voneinander genommen; sie glaubten für immer. Wir alle dachten, es sei aus und zu Ende mit Gobo.«

»Und dann?« drängten die Kinder.

»Dann ist Gobo wieder gekommen. Plötzlich war er da! Groß, gesund und schön. Unsere Mutter hatte eine riesige Freude, Gobo hatte Freude, wir alle haben uns gefreut. Nur der alte Fürst sagte ›Unglücklicher!‹ Wir waren dem Ehrwürdigen deswegen gram, aber leider hat der alte Fürst recht behalten. Dafür war er eben der Fürst und klüger als alle anderen. Gobo wußte nicht genug zu schildern, wie gut Er zu ihm gewesen, wie Er ihn aus dem Schnee gehoben, wie Er ihn gepflegt und genährt hat. Gobo glaubte fest, Er wäre sein Freund ...«

Ein lauter Donnerschlag unterbrach Faline. Sie zuckte ein wenig. Aber die Kinder sprangen in die Höhe und standen bebend da.

Endlich stammelte Geno: »Wenn ... jetzt ... der Vater getroffen ist ...«

Gurri fing an zu wimmern.

»Seid ruhig, Kinder«, beschwichtigte Faline, »sorgt euch nicht um den Vater; den kriegt Er nie! Jetzt ist der Vater dahier im Wald der Fürst.«

Ringsum herrschte nach dem kurzen Donner tiefes Schweigen.

Die Kinder legten sich wieder zur Mutter. Sie vergaßen das Erschrecken sehr rasch.

Das Eichhörnchen kam herbeigesaust und jubelte: »Den Marder hat Er vom Baum geholt! Den Marder, den blutgierigen, den unbarmherzigen Marder!«

Im Einschlafen vernahmen es die Kinder, und Faline flüsterte: »Gut, daß es keiner unserer Verwandten war.«

Es wurde immer lichter, es wurde hell.

Mit berstendem Schrei flatterten, schwingenknatternd, die Fasane von ihren Schlummerplätzen zu Boden.

Auf den höchsten Spitzen der Baumwipfel flöteten, trillerten die Amseln ihr Morgenlied.

Der Kuckuck rief nah und fern und ließ ein leises, kehliges Lachen vernehmen.

Die Tauben begannen ihren eintönigen, melodischen Liebesgesang.

Der Pirol schleuderte sich wie ein goldener Ball von Baum zu Baum und wiederholte sein Jauchzen: »Ich bin so froh!«

Die Meisen führten in den Büschen ihr lebhaftes zartes Wispergespräch.

Der Häher schnarrte von Zeit zu Zeit jäh auf, als wäre er zornig. Eigentlich war er immer zornig.

Lustig schmetterten Finken und Rotkehlchen.

Der Specht trommelte an den Baumstämmen und stieß oft ein gellendes Lachen aus.

Geschäftig schäkerten die Elstern.

Am Boden raschelten die Mäuse.

Hoch in den Lüften scholl kühner Falkenruf, sauste schwirrender Entenflug.

Faline und die Kinder schliefen friedlich. Der Wald war erwacht.

Ein sachter Wind strich durch die Bäume, daß sie leise rauschten. Feurig stieg die Sonne empor, eine am Himmel lodernde, aber wohltuend zärtliche Flamme.

* * *

II

In der abendlichen Dämmerstunde gingen die Kinder mit ihrer Mutter auf die Wiese.

Gurri wollte vorauseilen, doch Faline rief sie zurück.

»Ich habe dir streng verboten, so allein hinauszurennen! Du mußt warten, bis ich draußen bin. Halte dich an deinen Bruder; er ist folgsam, und er bleibt artig hinter mir. Denke doch an die Gefahr!«

»Ich bin sehr hungrig«, entschuldigte sich Gurri.

»Oh, wenn sie Hunger hat, vergißt sie alles«, spottete Geno, »da wird meine Schwester sogar tapfer.«

»Die einzige Tapferkeit, die sich für uns schickt, ist wachsame Angst«, erklärte Faline.

Sie stand und prüfte die Gerüche mit witternder Nase, ließ die Augen überall umherschweifen, fragte die Elster, die zum Nest flog, ob etwas Bedrohliches im Anzug wäre.

»Nichts! Weit und breit nichts«, antwortete die Elster und verschwand.

»Weit und breit nichts«, wiederholte das Eichhörnchen, das von oben, von den höchsten Zweigen herunterturnte, auf einem breiten Ast saß, die Fahne aufgepflanzt hatte und die Vorderpfoten beteuernd an die weiße Brust drückte. »Ich habe mich genau umgeschaut – keine Gefahr!«

Trotzdem blieb Faline, ohne sich zu rühren, wo sie stand. Nur ihre Lauscher spielten, ihre Nase zog immer Witterung ein. Im Gitter des Laubes war ihr Gesicht kaum wahrnehmbar.

Die Amsel beendigte ihr Abendlied. Der Kuckuck ließ einen letzten Ruf vernehmen; dann wechselte er auffällig den Platz, um nächtliche Verfolger zu täuschen, flog bald dorthin, bald dahin und setzte sich schließlich irgendwo, dicht an einen Baumstamm gedrängt, zur Ruhe.

Der Specht schlief schon. Selbst der mißtrauische Häher barg den Kopf unter die Schwinge. Die Meisen, die Tauben verstummten.

Durch die Luft brauste Entenflug. Ein Reiher zog mit ausgebreitetem Fittich, die langen, dünnen Ständer stramm nach hinten gestreckt, im erblaßten Firmament dahin. Er glich einem Schwimmer; die Menschen erinnerte er an ein Flugzeug.

Vom Dickicht der Holunderbüsche her tönte jetzt das holde Singen der Nachtigall.

»Ist Tante Rolla mit den Kindern schon draußen?« erkundigte sich Gurri ungeduldig.

»Nein«, sagte Faline.

»Na eben«, meinte Gurri, »wir gehen immer viel zu früh weg von der Wiese und manchmal zu früh hinaus.«

»Du aber redest viel zu viel«, tadelte Geno.

Faline trat Schritt vor Schritt auf die Wiese, sicherte noch eine kleine Weile, kehrte sich dann zur grünen Wand des Dickichts und rief leise: »Jetzt kommt!«

Die Kinder sprangen hinaus.

Geno fing sogleich zu äsen an.

Plötzlich hob er das Haupt, lief zur Mutter und erkundigte sich: »Bist du auch ganz gewiß, daß keine Gefahr droht?«

Ehe Faline antworten konnte, meldete Gurri: »Da sind sie ja! Tante Rolla und Boso und Lana!«

Die drei spazierten mitten über die Wiese. Sorglos hielt Rolla ihre Mahlzeit, während die Kleinen miteinander spielten, auch hie und da ein wenig naschten.

Gurri rannte ihnen entgegen; possierlich unbeholfen, doch anmutig wie alle diese Rehkinder.

Etwas langsamer folgte ihr Geno; seine schüchternen Sprünge, sein oftmaliges Innehalten und sein rasches, altkluges, sicherndes Aufwerfen nahmen sich noch drolliger aus. Er hatte die vollendete Grazie der Unschuld.

Boso und Lana stürmten heran, so heftig, daß sie die zarten Läufe spreizen mußten, als sie stehenblieben.

»Da ist ein merkwürdiger Geselle«, berichtete Boso atemlos.

»Ihr müßt ihn euch anschauen«, fügte Lana hinzu, »wir führen euch zu ihm.«

»Er wird schon auf und davon sein«, zögerte Geno.

Aber Lana versicherte: »Oh, der marschiert nicht so schnell.«

»Ist es kein Feind?« erkundigte sich Geno.

»Ein Freund ist er gerade nicht«, sagte Boso heiter.

Belustigt stellte Lana fest: »Freund oder Feind, das bleibt bei dem kleinen Kerl ganz egal.«

Gurri drängte: »Ich will ihn sehen.«

Die drei Kinder überhörten Genos Einwand, »wenn er kein Freund ist, mag ich ihn überhaupt nicht«. Sie liefen einfach drauflos. Dabei hopsten sie kreuz und quer, konnten eine geradlinige Richtung kaum halten, so spielerisch und ungeschickt wie sie waren.

Geno folgte ihnen bedächtig, aber neugierig.

»Komm doch her!« rief ihm Boso zu.

Und Gurri beruhigte ihn: »Du brauchst keine Angst zu haben!«

Dann umstanden alle vier den Igel, der mürrisch dahockte und sie mit den dunklen Perlen seiner Augen anfunkelte.

Boso wollte ihn beschnuppern, fuhr aber erschrocken zurück. »Er sticht!« sagte er bedauernd.

Der Igel sträubte zornig seine Stacheln.

Gurri und Lana fühlten sich getrieben, das gleichfalls zu versuchen. Behutsam schnupperten sie an dem Fremden und zuckten ergötzt in die Höhe. »Wirklich!« bestätigten sie, »er sticht!«

»Höre, mein Guter«, sprach Gurri zu ihm, »es ist sehr klug von dir, daß du dich so bewaffnest; aber uns brauchst du nicht zu stechen. Wir tun dir nichts!«

»Wir tun keinem etwas«, erklärte Geno.

Der Igel murrte: »Ich lasse mir nichts tun!«

»Wie schön wäre das«, seufzte Lana, »wenn wir solche Waffen hätten! Lang, scharf und spitz!«

»Am ganzen Körper!« träumte Gurri.

Geno meinte sehnsüchtig: »Vieles wäre leichter für uns!« Er fragte: »Wer bist du eigentlich?«

Der Igel grollte: »Wer ich bin, geht dich ein Staubkorn an. Mich kümmert's auch nicht, wer du bist.«


»Was für ein grober Bursche«, entrüstete sich Gurri.

Die feine schwarze Schnauze des Igels regte sich; er zog die Mundwinkel nach aufwärts, als lächelte er hämisch: »Ich finde keine Ursache, mit euch höflich zu sein. Ihr stört mich. Gebt mir den Weg frei.«

»Ja«, entschied Geno nachgiebig, »lassen wir ihn gehen.«

Die anderen stimmten bei: »Lassen wir ihn gehen.«

Sie wendeten sich fort. Nur Geno kehrte noch einmal um. »Entschuldige«, sagte er mild, und da keine Antwort kam, wiederholte er, »entschuldige, wir haben dich nicht beleidigen wollen.«

Der Igel schwieg geringschätzig, voll Aerger. Er watschelte, eifrig suchend und schwerfällig, weiter.

Eine Weile tummelten sich die Kinder übermütig umher; das Gras zischte seidig, wie sie mittendurch dahinfuhren.

»Boso läuft am schnellsten«, sprach Gurri mit Anerkennung. Sie mochte ihn gerne und wollte ihn ermuntern.

»Gefahr! Gefahr!« rief Lana mit raschem Einfall.

Sofort setzte sich Geno in hohe Flucht. Niemand konnte ihn einholen.

»Es war nur ein Scherz!« schrien sie zusammen.

Er war außer Atem und rutschte noch ein paar Schritte, bevor er innezuhalten vermochte.

»Geno ist doch der Geschwindeste«, konstatierte Lana.

Gutmütig und ein wenig keuchend fragte Geno: »Warum hast du mich so erschreckt?«

»Weil ich zeigen wollte, daß du es bist, der am schnellsten von uns läuft«, antwortete Lana.

Gurri meinte: »Wenn wir an die Gefahr geglaubt hätten, wären wir alle rascher gewesen.«

»Schaut doch unsere Mütter an«, warf Boso ein, »sie sind ganz ruhig beisammen.«

Faline und Rolla sprachen während der Mahlzeit still miteinander. »Es ist schwer«, klagte Rolla, »ich weiß nicht, was ich tun soll ...«

»Was meinst du denn?« erkundigte sich Faline.

»Die Zeit ist nahe, in der die Gekrönten uns suchen; man hat keine Ruhe vor ihnen.«

»Nun ... und ...?«

»Ob ich mich wieder mit einem verbinde ...«

»Du wirst wohl müssen«, entschied Faline.

»Dir geht es gut«, flüsterte Rolla, »du bist glücklich. Du hast Bambi!«

 

»Ja«, lächelte Faline, »da hast du recht, ich bin glücklich.«

»War er schon bei den Kindern?« begehrte Rolla zu wissen.

»Ein einziges Mal. Doch sie haben ihn nicht zu Gesicht bekommen.«

Ehrfürchtig raunte Rolla: »Jedem von uns widerfährt es ganz selten, daß er den Fürsten erblickt. Immer ist's ein Fest.«

»Auch ich sehe ihn oft lange nicht«, gestand Faline, »aber stets fühle ich seine Nähe.«

»Rufst du ihn da nicht?«

»Nein. Selbst wenn die Sehnsucht mich zwingen will. Du kennst ja die Zeit der Sehnsucht, nicht wahr? Selbst dann rufe ich ihn nicht. Er hat es mir einmal verboten. Ich ahne nicht, weshalb. Ich stelle keine Fragen, ich gehorche. Es geht eben so und nicht anders, ich muß Bambi blind gehorchen.«

Leise, sehr leise sagte Rolla: »Ich werde niemanden rufen.«

Es war finster geworden. Am nächtlichen Himmel glitzerten die Sterne. Im zackigen Jagdflug schwirrten Fledermäuse, warfen sich bald höher, bald tiefer. Lautlos schwebte die Eule daher, und von den Bäumen, darauf sie für Minuten ruhte, klang ihre melancholische Stimme, langgezogen, schwermütig, beinahe schön: »Haah – ah – hahaha – haa – ah!«

Am Waldsaum erschien ein starker Rehbock, begann eifrig zu äsen, hob jedoch immer sein Haupt und sicherte.

Die Kinder nahmen ihn wahr; sie wurden von Bangigkeit ergriffen.

Gurri kam gelaufen. »Ist das der Vater?« fragte sie mit Herzklopfen.

»Keine Spur! Der gehört zu den minder Gekrönten«, lautete die wegwerfende Antwort.

Inzwischen deutete Geno auf den Rehbock und erkundigte sich bei Boso: »Ist der Gekrönte dort euer Vater?«

Traurig entgegnete Boso: »Wir haben keinen Vater. Solange wir denken können, sind wir ohne Vater.«

Lana teilte wichtig mit: »Unser Vater ist von der Donnerhand getroffen worden.«

»Wir haben ihn nie gesehen«, ergänzte Boso, »die Mutter hat uns von ihm erzählt.«

Sachlich fügte Lana hinzu: »Das ist geschehen, bevor wir noch auf der Welt waren.«

»Die Mutter blieb bei dem gefallenen Vater stehen«, berichtete Boso, »er blutete stark und lebte schon nicht mehr. Trotzdem wollte sie ihn nicht verlassen. Aber«, schloß Lana, »sie durfte nicht bleiben, denn Er hat sie weggescheucht.«

Gurri war von der Mutter zurückgekehrt; sie hatte einen Teil der Geschichte vernommen und meinte leichthin: »Man kann auch ohne Vater leben.«

Lana seufzte ein wenig: »Es ist doch besser, wenn man einen Vater hat.«

Verspätete Glühwürmchen tanzten über der Wiese auf und nieder, irrten als leuchtende Punkte durchs Gebüsch.

»Was kann das sein?« staunten die Kinder. Sie rannten zu den Müttern.

»Sieh doch, wie schön!« rief Lana und Boso flüsterte erregt: »Wunderschön!«

Der tote Vater war vergessen.

»Mutter«, bestürmte Gurri als erste Faline, »woher kommen diese Lichter?«

»Guck dort hinauf«, wies Faline zum Himmel.

Die vier Kinder hoben die Augen zu den Sternen empor.

»Dort funkeln unzählige Lichter«, sprach Faline, »größere und kleinwinzige und alle sind lebendig. Einige von ihnen werden neugierig, wie es hier unten zugeht. So neugierig werden sie, daß sie sich nicht begnügen, uns gleich den anderen aus der Ferne zu betrachten. Sie fliegen herunter. Aber das ist ein großes Wagnis.«

»Wieso ein Wagnis?« forschte Geno dringend, den dieses Wort reizte.

»Nun, es sind die Kleinsten und die Jüngsten, die das tun«, redete Faline weiter, »es ist eine ungeheure Entfernung; sie werden oft beim Zurückfliegen müde, sie werden ganz erschöpft. Denn das Herunterfliegen ist leicht, das Hinauffliegen jedoch ist furchtbar anstrengend.«

»Was geschieht ihnen dann?« fragte Gurri.

»Sie löschen aus und sterben.«

»Traurig ist das«, meinte Geno, »ihre Eltern sollten sie warnen, sollten ihnen verbieten, herunterzufliegen.«

»Neugierige, vorwitzige Kinder lassen sich nicht warnen, und das Verbieten nützt noch weniger«, sagte Faline.

»Hörst du, Gurri?« mahnte Geno.

Aber Gurri brach aus: »Ich bewundere alle! Sie sind tapfer!«

»Was hilft das Tapfersein, wenn man daran sterben muß?« erwog Geno.

»Schön ist es!« schwärmte Gurri, »beneidenswert schön!«

»Sicherheit und Leben«, beharrte Geno, »bleiben immer das Schönste.«

Die Kinder rannten dem tanzenden Schweben der Glühwürmchen nach; jedes irrte genarrt in eine andere Richtung.

Die Mütter blieben wieder allein.

»Woher weißt du das?« erkundigte sich Rolla.

»Was denn?«

»Nun, das von den Lichtern?«

»Meine Mutter hat es mir erzählt, als ich noch klein war«, antwortete Faline, »ich bin gerade so erstaunt gewesen wie jetzt unsere Kinder. Mich rührt auch heute noch der Anblick dieser verlorenen Lichter.«

»Hast du bemerkt, sie kommen nur einmal«, sagte Rolla, »nur einmal, wenn alles wieder grün geworden ist, wenn die Kräuter duften und die Vögel singen und der Kuckuck wieder ruft.«

»So?«

»Ja, Faline! Und eine ganze Zeit, wenn sie fort sind, diese Lichter, ich fühle genau, wie lange diese Zeit währt, da ergreift uns die Sehnsucht, die so unwiderstehlich ist. Und dann werden wir von den Gekrönten zärtlich verwöhnt. Die Lichter sind mir stets die ersten Vorboten.«

»Mir ist das nie aufgefallen«, entgegnete Faline, »du aber denkst immer nur daran.«

Rolla beteuerte: »Diesmal werde ich wohl keine Sehnsucht haben.«

»Wer weiß«, zweifelte Faline.

»Ich glaube es nicht«, sprach Rolla vor sich hin, »seit Er mit der Donnerhand meinen Gatten ermordet hat – oh! nie kann ich vergessen, wie er im Blut dagelegen ist und sich nicht mehr geregt hat – seit jenem Morgen fürchte ich mich nur vor der Sehnsucht.«

»Du sagst ja selbst«, versetzte Faline, »daß die Sehnsucht unwiderstehlich ist.«

»Eben deshalb!« gestand Rolla voll Scham.

Geno rief unweit frohlockend: »Da! da! Ein Licht hat sich niedergelassen!«

Die andern eilten herbei, umstanden voll Begeisterung ein Glühwürmchen, das im Grase lag und matt schimmerte.

»Siehst du, törichtes Kind«, redete Geno zu ihm, »warum hast du das große Wagnis unternommen?«

»Tapferer, kleiner Himmelsbote«, flüsterte Gurri, »ruh dich aus! Ruh dich gut aus! Dein Heimweg ist weit und mühsam.«

»Es wird nicht heimkommen«, meinte Lana, und Boso urteilte: »Es ist viel zu müde.«

»Darum soll es sich ausruhen, das arme Kleine«, widersprach Gurri, »dann kommt es schon wieder zu Kräften.«

Das Glühwürmchen machte mit seinem lockenden Schein eine Pause.

»Es ist erloschen!« Gurri war gerührt.

»Aus!« Boso wollte sich abwenden.

»Schade!« Lana war im Begriff, dem Bruder zu folgen.

»So geht es immer!« predigte Geno, »ja, so geht es immer. Man darf die Warnungen nicht mißachten.« Auch er drehte sich fort. Für ihn galt die Sache als erledigt.

Nur Gurri blieb wartend stehen.

Da fing das Glühwürmchen zu zwinkern an und leuchtete gleich darauf wieder ganz hell.

»Es lebt!« jauchzte Gurri, »es hat sich erholt! Es lebt! Es lebt!«

* * *