Nur vor Allah werfe ich mich nieder

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Nur vor Allah werfe ich mich nieder
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Fatma Akay-Türker:

Nur vor Allah werfe ich mich nieder

Lektorat: Andreas Görg

Alle Rechte vorbehalten

© 2021 edition a, Wien

www.edition-a.at

Cover: Valeriya Gridneva

ISBN gedruckte Ausgabe 978-3-99001-526-1

ISBN E-Book 978-3-99001-527-8

E-Book-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

INHALT

IST DIE STIMME EINER FRAU HARAM?

DAS SPRACHLOSE MÄDCHEN

DIE KRAFT DES WISSENS

ICH BIN KEINE QUOTENFRAU

ZWEITES HALBJAHR

DIE WAND

NACH DEM RÜCKTRITT

GEGEN DAS IMAGE DES ISLAM ALS GEWALTRELIGION

NUR VOR ALLAH WERFE ICH MICH NIEDER!

»O ihr Menschen,

Wir haben euch aus einem männlichen und einem weiblichen Wesen erschaffen,

und Wir haben euch zu Nationen und Stämmen gemacht,

damit ihr einander kennenlernt.

Wahrlich, der Würdigste von euch bei Allah ist der,

der das höchste Gottesbewusstsein hat.

Wahrlich, Allah ist Allwissend und Allkundig.«

(Koran 49:13)

Meinen Kindern, Schülerinnen und Schülern

Dieses Buch schildert wahre Begebenheiten aus der persönlichen Perspektive der Autorin. Dialoge und Abläufe wurden im Sinne einer leichteren Verständlichkeit teilweise gekürzt.

IST DIE STIMME EINER FRAU HARAM?

Alleine saß ich in der ersten Reihe des Blocks der Sesselreihen, der für die Frauen vorgesehen war. Im Block rechts von mir saßen die Männer, zwei Reihen hinter mir die anderen Frauen. Es war Februar. Draußen war es bitterkalt. Der Saal, in dem wir saßen, war spärlich mit Heizstrahlern bestückt. Die Strahler konnten kaum etwas gegen die Kälte ausrichten. Meine Finger wollten nicht warm werden, aber meine Vorfreude reichte mir als Wärmequelle. Gleich war es so weit. Gleich kam der Moment, auf den ich jahrelang hingearbeitet hatte. Mein erster offizieller Auftritt als Frauenbeauftragte und Vorstandsmitglied der IGGÖ, der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich, noch dazu in Vertretung des Präsidenten. Endlich. Zwei Monate waren seit meiner Wahl bereits vergangen.

Cansu, die Frauenbeauftragte des kleinen türkischen Vereins, der die Veranstaltung organisiert hatte, kam zu mir, wohl, damit ich nicht so einsam dasaß.

»Warum setzen sich die anderen Frauen nicht zu uns?«, fragte ich sie.

»Wir sind es nicht gewohnt, in der ersten Reihe zu sitzen«, antwortete sie.

Das machte mich betroffen.

Offenbar bemerkte Cansu mein Unbehagen, drehte sich nach hinten und winkte die anderen Frauen herbei.

Doch sie lehnten dankend ab.

Genau das war einer meiner Kritikpunkte. Bei solchen Veranstaltungen von vergleichsweise konservativen Vereinen saßen nur Männer in der ersten Reihe.

»Werden Sie auch eine Rede halten?«, fragte ich Cansu.

»Nein!«, antwortete sie beinahe schockiert.

»Warum nicht?«, fragte ich. »Ist die Stimme von Frauen haram?«

»Ja«, antwortete sie mit vollster Selbstverständlichkeit, um gleich darauf wie unangenehm berührt auf ihrem Sessel herumzurutschen. Offenbar war ihr bewusstgeworden, dass sie damit gerade auch meine Stimme als haram bezeichnet hatte.

Das arabische Wort »haram« bedeutet »verboten«. Weltweit verwenden die Muslime dieses Wort. Alles, was der Koran eindeutig verbietet, ist haram. Das Gegenteil davon, also alles, was der Koran nicht eindeutig als haram bezeichnet, ist halal, also erlaubt. Allerdings verwenden viele Muslime aus Unwissenheit haram oft in falschen Zusammenhängen. Der Koran warnt jedoch genau davor. »Darum äußert keine Falschheiten, indem ihr eure Zungen (nach eigenem Gutdünken) bestimmen lasst: ›Dies ist erlaubt, und das ist verboten‹, und also eure eigenen lügnerischen Erfindungen Gott zuschreibt« (Koran 16:116).

Ich lächelte Cansu an.

»Aber Sie sind anders«, rechtfertigte sie ihre Aussage. »Sie haben studiert. Sie haben eine Funktion.«

Ich schwieg weiterhin lächelnd. Denn meine Antwort sollte nicht nur sie alleine hören, alle sollten sie hören.

Unter den rund dreihundert Besucherinnen und Besuchern, die den winterkalten Saal füllten, war sogar der türkische Generalkonsul. Für mich war klar, dass ich über Frauen im Islam sprechen würde. Ich hatte mich seit Jahren darauf spezialisiert. Zu Hause in meinem Arbeitszimmer hatte ich nur zwei Stunden gebraucht, um mich auf diese Rede vorzubereiten.

Cansu und ich lauschten gemeinsam den ausschließlich männlichen Vortragenden. Inzwischen hatte sich auch die junge Leiterin der Jugendgruppe, die mich vorher zu meinem Platz geleitet hatte, zu uns gesetzt.

Schließlich war ich an der Reihe zu reden. Nervös war ich nicht. Schon als Schülerin in Mittelanatolien hatte ich an den Nationalfeiertagen vor tausenden Menschen Gedichte aufgesagt oder gesungen, manchmal sogar meine Klasse unterrichtet. Durch meinen Beruf als Islamlehrerin war ich es gewöhnt, vor Publikum zu sprechen.

Ich stieg hinauf auf die Bühne und legte meine Notizen auf dem Rednerpult ab. Ich würde sie nicht brauchen. Stattdessen würde ich darauf eingehen, was hier vor sich ging. Das, was ich hier am Verhalten der Männer und Frauen gesehen und gehört hatte, reichte aus, um einen Vortrag zu füllen. Ich musste unbedingt von der Sure Al-Mudschadala erzählen. »Mudschadala« bedeutet wörtlich »kämpfen« oder »durchfechten«.

Der Koran hat 114 Kapitel, die sogenannten Suren, die alle einen Namen tragen und außerdem durchnummeriert sind, sodass sie auch allein an der Nummer erkennbar sind. Die Suren sind untergliedert in insgesamt 6236 Verse.

Die Sure Al-Mudschadala trägt die Nummer 58 und beinhaltet 22 Verse. Es ist eine jener Suren im Koran, von der die muslimischen Frauen kaum etwas wissen, obwohl sie ihnen Mut zuspricht. Allah lehrt sie darin, den Mut zu finden, aufzustehen und sich gegen ungerechte Behandlung zu wehren. In der traditionellen Lehre sehen wir genau das Gegenteil. Frauen sollen schweigen. Diese Lehre stammt aber nicht aus dem Koran, sondern aus den vorislamischen Traditionen. Nach einer kurzen Einleitung zur IGGÖ, den Vorhaben der Islamischen Glaubensgemeinschaft sowie zu meiner Funktion als Frauensprecherin kam ich auf die Stellung der Frau im Islam zu sprechen.

»Wir präsentieren unsere Religion nicht richtig, jedenfalls nicht so, wie sie wirklich ist«, sagte ich. »Der Islam hat deswegen in Europa und auf der ganzen Welt einen schlechten Ruf. Viele glauben, dass der Islam eine frauenfeindliche, frauenunterdrückende Religion ist, in der Frauen nichts zu sagen haben. Doch solche Behauptungen sind im Grunde Verleumdungen gegen Allah, seinen Propheten und den Koran. Ich bitte höflichst: Jeder möge sich selbst hinterfragen. Es ist unsere Pflicht als Muslime, das richtigzustellen. Ich betone als eure Schwester, die Allah, den Propheten Muhammed und den Koran liebt, als Historikerin, Islamlehrerin und Doktorandin der Theologie, dass es im Koran absolut keine Beschränkungen für Frauen gibt. Im Gegenteil: Der Koran sieht Demokratie, Menschenrechte und die Gleichberechtigung vor. Deswegen bitte ich euch noch einmal höflichst: Wir alle müssen Verantwortung tragen. Durch unsere Art zu sprechen, zu leben und zu handeln müssen wir das Bild vom Islam in der Welt da draußen korrigieren.«

Nun kam ich zum historischen Teil.

»In der Zeit des Propheten war es nicht wie heute. Damals durften Frauen sowohl Freitagsgebete als auch Festtagsgebete gemeinsam mit Männern verrichten. Wenn eine Frau eine Frage oder ein Problem hatte, konnte sie dies mit dem Propheten besprechen und diskutieren«, erklärte ich mit fester Stimme.

Applaus brandete auf, sowohl auf der Frauen- als auch auf der Männerseite. Ich merkte, wie aufmerksam das Publikum lauschte.

Nun folgte meine Überleitung zur Sure. »Ich weiß nicht, wie vielen Menschen es bewusst ist, aber wir haben eine Sure namens Al-Mudschadala, eine Sure, in der Allah die Stimme einer Frau erhört. Diese Stimme ist in der Sure offenbart.«

Zunächst erläuterte ich den Hintergrund der Sure. Bei den Arabern gab es eine Tradition namens Zihar. Ein Ehemann konnte sich einfach dadurch von seiner Ehefrau scheiden, indem er erklärte: »Du bist für mich wie der Rücken meiner Mutter«. Eine nach dieser Tradition geschiedene Frau kam zum Propheten. »Oh Prophet, mein Mann hat sich durch Zihar von mir getrennt«, klagte sie. »Ich habe drei Kinder. Wenn ich sie mitnehme, kann ich sie nicht erhalten. Wenn ich sie zurücklasse, würde niemand auf sie aufpassen. Ich bin hilflos, was soll ich machen?«

Gegen diese fest verankerte Tradition war selbst der Prophet hilflos. »Es ist schon passiert, wir können nichts mehr tun«, sagte er. Denn auch für den Propheten war es nicht leicht, sich gegen die Tradition zu stemmen.

Daraufhin fragte die Frau: »Hat Allah in dieser Sache nichts gesagt?«

 

»Nein«, erwiderte der Prophet.

Die Frau ließ jedoch nicht locker und sagte: »Ich warte vor der Tür, bis eine Lösung zu meiner Angelegenheit gefunden wird. Bevor mein Problem gelöst wird, werde ich nicht weggehen.«

Die Lösung kam von Allah als eine der vielen Offenbarungen, die der Prophet im Laufe von 23 Jahren erlebte, da der Erzengel Gabriel ihm in verschiedenster Gestalt erschien und Gottes Wort übermittelte.

Ich zitierte die Sure Al-Mudschadala:

(O Prophet) »Gehört hat Allah die Aussage derjenigen (Frau), die mit dir über ihren Gatten streitet und sich bei Allah beklagt, (…)« (58:1) Gott hörte also die Argumente der durch Rückenschwur Zihar geschiedenen Frau. Im folgenden Vers bezeichnete Gott die Formulierung des Rückenschwurs »Du bist für mich wie der Rücken meiner Mutter« als verwerflich und falsch.

»Diejenigen von euch, die sich von ihren Frauen durch den Rückenschwur trennen – sie sind doch nicht ihre Mütter. Ihre Mütter sind nur diejenigen, die sie geboren haben. Sie sagen da fürwahr etwas Verwerfliches an Worten und etwas Falsches (…)« (58:2)

»Gott legte«, fuhr ich fort, »auch eine Strafe für Männer fest, die sich über Zihar von ihrer Frau scheiden ließen. Sie mussten einen Sklaven befreien oder, wenn sie das nicht konnten, sechzig Tage ohne Unterbrechung fasten. Allah tritt hier weder für den Ehemann ein, noch bestärkt er den Propheten, der die Frau bereits abgewiesen hatte, sondern er setzt sich für eine Frau ein.«

Wieder kam Applaus von beiden Seiten des Saales. Ich sah, wie die Augen der Frauen leuchteten.

»In einem anderen Vers des Koran, 9:71, steht: »Die gläubigen Männer und Frauen sind einer des anderen Freunde und Helfer. Sie gebieten das Rechte und verbieten das Verwerfliche, verrichten das Gebet und entrichten die Abgabe und gehorchen Allah und Seinem Gesandten. Sie sind es, derer Allah Sich erbarmen wird. Gewiss, Allah ist Allmächtig und Allweise.«

Ich nannte noch ein paar Koranverse in Bezug auf Frauen, in denen Männer und Frauen von Gott auf der gleichen Ebene angesprochen sind, vor allem die Sure 49:13, welche die Geschlechtergerechtigkeit betont. Dann kam ich zum Schluss.

»In diesem Sinne bitte ich alle Verantwortlichen: Geben Sie bitte den Frauen, die ohnehin die Last dieser Religion auf ihren Schultern tragen, die Gelegenheit und die Möglichkeit zur Mitsprache und zur Teilhabe an der Gesellschaft, wie es in der Zeit des Propheten üblich war.«

Wieder brach tosender Beifall los. Als ich von der Bühne stieg, sah ich, wie berührt Cansu war.

»Habe ich zu lange gesprochen?«, fragte ich.

»Nein, das war toll und voll mit Inhalten«, antwortete sie.

»Die Stimme einer Frau ist nicht haram«, sagte ich zu ihr mit leiser, aber fester Stimme. »Das war auch in der Zeit des Propheten nie der Fall.«

Sie sah mich bewundernd an.

Nach den Vorträgen sammelten sich Frauen um mich, gratulierten mir und umarmten mich. Einige wollten Fotos mit mir machen. Die jungen Organisatorinnen der Tagung hatten ein prächtiges Buffet mit türkischen Spezialitäten hergerichtet. Beim Essen unterhielten wir Frauen uns. Ich erzählte, dass ich einen Frauenrat gegründet hatte und mich weiterhin sehr stark für die Frauen einsetzen würde.

Was ich damals, im Februar 2019, zwei Monate nach meinem Einstieg als Frauensprecherin, noch nicht wusste, war, dass dieser erste Auftritt gleichzeitig mein letzter sein sollte. Von sich aus schickte mich die IGGÖ nie wieder als ihre Vertreterin oder als offizielle Repräsentantin der muslimischen Frauen irgendwo hin.

DAS SPRACHLOSE MÄDCHEN

Als ich 13 Jahre alt war, lebte ich noch in einem beschaulichen Dorf in Anatolien. Es sind schöne Erinnerungen, die mich mit dieser Zeit verbinden.

Mein alter Onkel Mehmet saß mit anderen zusammen in der Herrenrunde vor dem Geschäft des Schuhmachers. »Avukat Fatma, bist du schon bereit für morgen?«, rief er zu mir herüber. Avukat bedeutet Advokat, Rechtsanwalt. Diese Bezeichnung hatten sie mir gegeben, weil ich angesichts von Ungerechtigkeiten nie schwieg.

»Ja, Onkel«, antwortete ich, »ich bin bereit für morgen.« Ich war auf dem Weg zur Schule. Am nächsten Tag war der 23. April, der Tag, an dem im Jahre 1920 erstmals der türkische Nationalrat zusammentrat. Kemal Atatürk, der Gründer der Türkischen Republik, widmete diesen Tag der nationalen Souveränität den Kindern. Daher gab es jedes Jahr an diesem Tag ein großes Kinderfest in den Volksschulen.

Die Männer, die da in der Runde beisammensaßen, wussten alle, dass ich an solchen Feiertagen meist im Zentrum der Aktivitäten stand. Ich sagte vor vielen hundert Menschen Gedichte auf, leitete den Chor, die Volkstanzgruppe und die Parade mit der Trommel.

In der Schule war ich die beste Schülerin und schon ab der ersten Klasse Volksschule die Klassensprecherin. Unser Dorf hatte damals dreitausend Einwohner. Da kannte jeder jeden. Die Dorfbewohner versammelten sich Tag für Tag und erledigten gemeinsam nach der Reihe die anstehenden Arbeiten. Das ging von Frühling bis Herbst so. Im Winter waren alle zu Hause. Da empfingen wir entweder Besuch oder wir waren auf Besuch. Jede Familie war jederzeit bereit, Besuch zu empfangen. Für die Gäste hoben alle die besten Vorräte auf. Es war jedes Jahr im Herbst vor allem für uns Kinder ein Fest, wenn Weintrauben, Sirup, Marmelade und Tomatenmark im Garten in den ganz großen Kesseln auf der Feuergrube kochten.

Es gab nie eine strenge Trennung zwischen den Geschlechtern. Die Männer trugen durchwegs dunkle Hosen und Hemden. Die Frauen bevorzugten traditionell gemusterte, farbenfrohe Stoffe. Dazu trugen sie ein locker gebundenes, leicht durchsichtiges Kopftuch. Der Haaransatz war zu sehen. Bei den meisten erwachsenen Frauen hingen hinten lange geflochtene Zöpfe herunter. Die Mädchen, die in die Schule gingen oder studierten, trugen kein Kopftuch. Polygamie gab es nicht.

Meine jüngere Schwester und ich waren in der Obhut unserer Großeltern. Mein Vater lebte schon seit 1979 in Deutschland und seit 1982 in Wien, um Geld zu verdienen. Zu Hause hatte er auf den Obst- und Gemüsefeldern meines Großvaters gearbeitet. Er machte sich auf nach Europa, um sein eigenes Geld zu verdienen. Vor einem Jahr hatte er meine Mutter nachgeholt. Zu mir sagte er damals, ich solle in der Türkei bleiben und studieren. »Du bist hier so erfolgreich, meine Tochter. Wenn ich dich nach Österreich mitnehme, ohne Deutschkenntnisse, hast du weder eine Chance, noch eine Zukunft. Bleib hier und mach weiter bis zu deinem Traumjob als Rechtsanwältin.«

Am 1. September 1989 veränderte sich mein Leben. Ich war gerade draußen beim Spielen auf der Straße, als unsere Nachbarn mich zu sich hineinriefen. Ein Anruf für mich. Wir hatten kein Telefon und mussten immer über deren Telefon sprechen. Der Anruf kam von meinem Vater. Er sagte: »Fatma, ich habe eure Tickets gekauft und mit meinem Onkel gesprochen. Er wird mit euch alle bürokratischen Dinge erledigen und ihr kommt nächste Woche nach Österreich.«

»Warum?«, fragte ich im Schock. »Du hast doch gesagt …«

Er erklärte mir, es sei wegen meiner Mutter. Sie hielt es in Österreich ohne ihre Töchter nicht aus. Deswegen mussten meine Schwester und ich nach Wien kommen.

Nur neun Tage später war es dann so weit. Wir landeten am Flughafen Schwechat. Das Flugzeug war bis auf den letzten Platz besetzt gewesen. Bei der Passkontrolle gab es ein Gedränge. Auf einmal war meine Schwester weg. Gerade noch hatte sie neben mir gestanden. Ein Albtraum. Als große Schwester, als Abla, hatte ich die volle Verantwortung, auch wenn ich nur zwei Jahre älter war. So war das bei uns. Die Großen passen auf die Kleinen auf. Aber ich musste mich auch am Flughafen zurechtfinden. Die vielen Menschen, die Schilder, die Lichter, all das lenkte mich ab. Nun war sie verschwunden. Ich machte mir Vorwürfe. Wie konnte mir das passieren?

Ich sah mich verzweifelt um, links und rechts, zwängte mich zwischen den Menschen durch. Sie war erst elf und sprach kein Wort Deutsch. Was würde passieren, wenn ich sie nicht fand? Ich drehte mich um und suchte mit den Augen die Halle hinter der Passkontrolle ab, durch die ich gerade gegangen war. Ich lief zurück, aber einige Polizisten hielten mich auf. Ich verstand nicht, was sie sagten. »My sister!«, rief ich. Dann sah ich sie endlich. Meine Schwester saß auf einer Bank, ängstlich und den Tränen nahe. »Komm, ich bin hier«, rief ich ihr zu. »Alles ist gut.«

Diesmal nahm ich sie an der Hand und ließ sie nicht los, bis wir endlich das richtige Förderband bei der Gepäcksausgabe gefunden hatten. Mit meiner ganzen Kraft zerrte ich die beiden dreißig Kilo schweren Koffer vom Förderband. Da tippte mich jemand an der Schulter an. »Fatma?«, fragte ein etwas älteres Mädchen und sprach mich auf Türkisch an. Ich war erleichtert. Es war Gülseren, die Tochter einer Freundin meiner Mutter. Sie hatte sich aus der Ankunftshalle vorbei am Zoll zur Gepäcksausgabe geschlichen, um uns zu finden. Meine Mutter hatte sich Sorgen gemacht, weil alles so lange gedauert hatte. Gülseren begleitete uns nach draußen, wo ich endlich meine Eltern umarmen und erstmals meinen Bruder, der erst fünf Monate alt war, sehen konnte.

Hinter mir lag ein Leben, das in eine erfolgreiche Karriere hätte münden können. Vor mir lag eine Zukunft in einem Land, dessen Geschichten und Sprache ich nicht kannte und dessen Straßen, Brücken und Menschen ich eingeklemmt auf dem Rücksitz des Minibusses kaum wahrnahm.

Aufgewühlt und verwirrt ließ ich auf mich zukommen, was nicht mehr zu ändern war. Das Auto hielt vor einer Erdgeschosswohnung in einem Altbau im 20. Wiener Gemeindebezirk. Als ich durch die Wohnungstür eintrat, wunderte ich mich, dass ich gleich in der Küche stand. Von der Küche führte eine Tür in ein weiteres Zimmer. Dort gab es keine weiteren Türen. Ich ging zurück in die Küche. Dort war rechts vom Eingang an der Wand eine Garderobe mit Haken, wo lange Mäntel und dicke Jacken hingen. Ich schob die Jacken zur Seite.

»Suchst du etwas?«, fragte meine Mutter.

»Ich möchte auch die anderen Zimmer sehen«, antwortete ich.

Sie schaute mich verzweifelt und traurig an. »Wir haben keine anderen Zimmer«, sagte sie leise.

Ich konnte es nicht glauben. Es war eine Einzimmerwohnung mit Küche. »Wo ist das Klo?«, fragte ich.

Meine Mutter deutete zur Eingangstür. Es war am Gang. In der Wohnung gab es kein fließendes Wasser. Das WC mussten wir mit zwei weiteren Nachbarn teilen. Es war für mich sehr schwer, das alles zu akzeptieren. Zu Hause in der Türkei hatten wir zwar kein Telefon, aber wir hatten bei meinen Großeltern ein ganzes Haus mit großem Garten. Und jetzt sollten wir zu fünft in einem Zimmer leben? »Was für ein Europa ist das?«, fragte ich ganz enttäuscht und frustriert.

WAS FÜR EIN EUROPA IST DAS?

Zwei Tage später landete ich in einer Hauptschule. Ich hätte in Wien ein Gymnasium besuchen können. Doch mein Vater kannte sich mit dem österreichischen Schulsystem nicht aus. In der Schule erlebte ich den nächsten Schock. In der Türkei trugen wir in der Schule einheitliche Schuluniformen. Hier trugen alle, was sie wollten.

Ich landete zwei Klassen höher als daheim. Das lag an meiner Geburtsurkunde. Früher war es üblich, die Buben jünger zu machen, damit sie später zum Militär mussten, die Mädchen hingegen älter eintragen zu lassen, damit sie früher heiraten konnten. So geriet ich in einen Haufen älterer pubertierender Kinder, die mich für meinen Namen verspotteten.

Ich war hoffnungslos und traurig. Aus »Rechtsanwältin Fatma« wurde hier in Österreich die sprachlose Fatma. Ich weinte tagelang und beschwerte mich bei meinen Eltern darüber, dass sie mich hierhergeholt hatten. Nicht nur unsere Wohnsituation und meine Schwierigkeiten in der Schule belasteten mich. Auch die türkische Bevölkerung, die in Österreich lebte, und ihre Sitten waren anders, als ich es aus der Türkei gewohnt war. Hier gab es in konservativeren Kreisen Geschlechtertrennung. Es gab traditionelle Familien, wo die Frauen zu Hause blieben, während die Männer in die Gasthäuser gingen.

Mit der Zeit konnte ich das nicht mehr ertragen. Seit ich 15 Jahre alt war, hatte ich das alles kritisiert.

Die meisten Türken, die in den frühen 1990er-Jahren in Österreich lebten, wollten innerhalb von zwei bis fünf Jahren in die Türkei zurückkehren. Heute sind sie immer noch in Wien. Die Integration ist auf beiden Seiten gescheitert. Selbst die, die Deutsch lernen wollten, wie meine Mutter, mussten fünf Jahre warten. Erst dann hätte das für die Eingewanderten zuständige Arbeitsmarktservice einen Kurs finanziert. Aber innerhalb von fünf Jahren wurde meine Mutter Staatsbürgerin. Dann hieß es, das Arbeitsmarktservice könne einer Österreicherin wohl kaum einen Deutschkurs finanzieren. Somit blieben die Türken vorwiegend unter sich, auch weil sie Angst hatten, ihre Traditionen zu verlieren. Dadurch blieben sie in religiöser und gesellschaftlicher Hinsicht stecken und entwickelten sich nicht weiter. Das traf auch auf meine Familie zu. Meine Großmutter in der Türkei ist in ihrer Lebenseinstellung fortschrittlicher als mein Vater.

 

»Die Türken, die nach Europa gingen, sind wie ein vakuumverschlossenes Marmeladeglas«, sagte mir einmal ein türkischer Historiker. »So haben sie die Türkei verlassen und jetzt ist es noch immer zu.«

Ein solcher Lebensentwurf drohte auch mir. Als ich mit der Hauptschule fertig war, meinte mein Vater, ich solle als Hilfsarbeiterin in einem Supermarkt arbeiten. Ich war enttäuscht. Erstens, weil ich mit der Schule weitermachen wollte und zweitens, weil ich ihn nicht verstehen konnte. Warum sprach mein Vater, der in der Türkei erwartet hatte, dass ich studiere und Rechtsanwältin werde, jetzt auf einmal von Arbeit statt von Weiterbildung?

»Du bist erst seit zwei Jahren in Österreich. Sogar die Türken, die hier geboren sind, schaffen es nicht in weiterführende Schulen. Wie willst du das schaffen?«, fragte er. Zumindest durfte ich dann doch die Berufsschule für Einzelhandel besuchen.